So wird das Leben. 18. Folge.

Marlene Streeruwitz
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„Ich mach das schon.“ sagte Frau Fischer und ging zur Tür. Draußen standen ein sehr junger Polizist und eine sehr junge Polizistin. Beide waren nicht sehr groß und es sah aus, als wären die Waffen an ihren Gürteln viel zu schwer für sie. Die Polizistin spielte mit dem Etui für die Handschellen, das an ihrem Gürtel hinten an ihrem Rücken festgeklippt war. Sie klickte den Verschluß während der ganzen Amtshandlung auf und zu.

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„Ja?“ fragte Frau Fischer. Die Vroni und der Onkel Franz waren der Frau Fischer in das Vorzimmer nachgegangen. „Wir haben einen Anruf bekommen, daß in dieser Wohnung eine Gewalttat vermutet wird.“ sagte der junge Polizist, und die Polizistin ließ das Handschellentäschchen klicken.

„Eine Gewalttat vermuten?“ murmelte Onkel Franz, und Frau Fischer lachte. „Nicht weniger als eine Gewalttat? Von welcher Nummer sind Sie denn da angerufen worden?“ fragte sie.

„Das kann ich Ihnen nicht sagen.“ Der junge Polizist sprach sehr laut. „Kommt einmal alle her.“ rief Frau Fischer. Die Vroni und die Mia gingen gleich an die Wohnungstür. Der Onkel Franz schaute noch schnell ins Wohnzimmer und deutete dem Markus, er solle mit dem Sven im Zimmer bleiben.

„Wir kommen schon.“ sagte er sehr laut und machte die Tür zum Wohnzimmer hinter sich zu. „Das war der Nachbar von unten. Wissen Sie.“ sagte er und ging auf den Vorplatz hinaus. Er sprach mit der Polizistin. „Da gibt es ein Problem mit einem Wasserschaden und deshalb…“ Der Onkel Franz schaute die junge Polizistin hilflos lächelnd an. Der Polizist trat einen Schritt vor zwischen die beiden. Frau Fischer lehnte sich gegen den Türstock ihrer Wohnungstür und sagte, „Es gibt kein Gewaltverbrechen. Das sehen Sie doch.“

Die Vroni lächelte den Polizisten an. Die Mia zuckte mit den Achseln. Der Mann schaute alle der Reihe nach an. Die Polizistin klickte mit dem Etuiverschluß. Der Polizist machte noch einen Schritt auf die Tür zu. Frau Fischer blieb in ihrer Tür stehen. Die Mia lehnte sich gegen ihre Mutter. Die Vroni stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute über Frau Fischers Schulter auf das Stiegenhaus hinaus.

Der Onkel Franz ging an das Geländer vom Stiegenaufgang. Er verschränkte die Arme und sagte von dort, „Sie werden doch nicht das Wort von Frau Dr. Fischer anzweifeln. Frau Dr. Fischer ist eine anerkannte Rechtsanwältin und arbeitet in einer der wichtigsten Kanzleien von ganz Österreich.“ Der Polizist mußte sich umdrehen und einen Schritt zurückmachen, um mit ihm sprechen zu können.

Einen Augenblick standen dann alle still. Die Vroni hatte plötzlich Mühe ernst zu blieben. Sie spürte einen Lachanfall aufsteigen. Sie mußte an Sven im Wohnzimmer denken und was passierte, wenn die den fanden? Warum taten sie alle das? Sie sollten diesen Mann der Polizei übergeben. Und was, wenn dieser Sven plötzlich selber um Hilfe schrie. Was würde dann passieren. Dann stellte sie sich den Chrobath vor, wie er in seiner Wohnung lauerte und wartete, daß die Polizei sie alle abführte. Sie überlegte, was die Polizei überhaupt für Informationen hatte. Dann war das mit dem Lachen nicht mehr zu verbergen. Die Vroni mußte ins Schlafzimmer laufen. Sie schlug die Tür hinter sich zu, warf sich aufs Bett und prustete in einen Polster. Dann kam aber schon die Mia nach, und sie mußte auch lachen.

„Die Polizei ist wieder weg.“ kicherte sie, und Frau Fischer rief schon nach ihnen. Alle versammelten sich wieder im Wohnzimmer.

„Was ist da los?“ fragte sie Sven. „Die Polizei. Das war der Chrobath. Oder?“ „Das nehmen wir einmal an.“ murmelte der Onkel Franz. „Warum soll er das denn tun?“ fragte die Vroni. „Unruhe stiften?“ meinte Markus. „Uns ins Unrecht setzen?“ sagte Frau Fischer. „Das kann der gut.“ seufzte Sven.

„Also!“ Markus stieß Sven an. „Heast Oida. Red doch!“

Sven beugte sich wieder nach vorne und schaute auf den Boden vor seinen Schuhspitzen

Dann begann er doch zu reden. „Na. Erpressung halt. Zur Burschenschaft bin ich wegen dem Tom gegangen. Also. Der hat mich da hingebracht. Es hat mir e nicht gefallen. Diese komischen Rituale und wie die reden. Aber dann waren wir dauernd bei dem Maximus zu Hause und der hat immer einen Job gewußt. Da war immer was los und so. Und zuerst. Da ist immer nur so geredet worden. Da war das nur so theoretisch. Dann war das mit der Mensur. Aber wenn alle das machen, dann schaut das nicht so schwer aus. Und fechten. Das lern ich auch fürs Schauspielen. Und dann. Der Alte hat plötzlich alles gewußt. Das Witzige ist. Mir ist da erst alles so klar geworden. Und was ich eigentlich will. Also. Ich war vorher gar nicht so sicher. Wegen der Conchita. Das hat mich total unsicher gemacht. Ich habe gedacht, ich mach da nur etwas nach. Aber wie der da geredet hat, da hab ich mir gedacht. Also. Da ist mir das eben klar geworden. Ich fang einmal mit der Beratung an und dann wird schon etwas sein. Aber den Maximus. Also den Chrobath. Den hat das total zum Toben gebracht. „Wie kannst du kein Mann sein wollen.“ hat er geschrien. Und daß wir alles bekommen sollen. Von dem Höflein sollen wir alles bekommen. Ökologie. Gesundheitssystem. Und so. Österreich soll ein wahres Paradies sein, aber die Männer müssen die Männer bleiben. Ich weiß auch nicht. Es sollte ja nicht so ernst werden. Und ich war total fertig. Da hauen wir hin, und es ist der Maximus selber. Ich wollte niemanden. Richtig. Ich meine. Der hat das wollen. Ich hab gar nicht anders können. Der hat von dem Dr. Koller alle Befunde gehabt. Die Diagnose. Die Protokolle wegen dem Zugehörigkeitsempfinden. Nur das mit dem äußeren Erscheinungsbild. Da bin ich noch nicht so weit.“

„Aber ich habe doch Mascara gesehen. Bei dem Höflein Besuch bei Euch. Da im Keller.“ rief die Vroni. „Dabei ist es in Österreich doch überhaupt kein Problem. Was kann da erpresst werden.“ Frau Fischer schüttelte den Kopf. „Na ja.“ Der Onkel Franz klang skeptisch. „Die Gesetze sind da. Aber die Einstellung. Sie glauben doch nicht, daß jetzt alle tolerant sind, weil Conchita diesen Wettbewerb gewonnen hat oder der Life Ball stattfindet. Österreich. Das ist doch keine offene Gesellschaft. Und das wird schon stimmen. Österreich ein ökologisches Paradies und eine gesellschaftliche Hölle der Unbarmherzigkeit.“ höhnte der Onkel Franz. Frau Fischer seufzte. „Ach Österreich.“ Die Vroni setzte sich so weit weg wie möglich von diesem Sven auf das Sofa. Dann stand sie aber doch lieber wieder auf und ging ans Fenster. „Österreich.“ sagte sie. “ Seit 1789 Angst vor der Revolution. Seit 1848 Konstitutionssehnsucht. Die katholische Kirche immer schon moralische Staatsanstalt sich kaiserlos in den Austrofaschismus steigernd. Dann Gott durch das deutsche Volk und den Führer ersetzt. Demokratie nachgelernt. Selbstbewußtsein nicht. Männernostalgie. Jetzt. Oder?“ Sie schaute Sven ins Gesicht. Der hielt ihren Blick nicht aus und starrte an ihr vorbei.

„Wir können nicht so tun, als wäre nichts gewesen und den da laufen lassen.“ sagte Markus. „Nein.“ stimmte ihm Frau Fischer zu. „Aber wir können es zu unseren Bedingungen machen.“ „Aber wenn er doch erpresst worden ist.“ rief die Mia. „Das ist doch auch schrecklich.“ „Aber er hätte deswegen nicht meine Nichte verletzen müssen. Und bitte. Vergessen wir nicht, daß ich mit diesem Anschlag gemeint gewesen bin. Ich kann das alles nicht lustig finden.“ Onkel Franz stellte sich vor Sven hin und schaute böse auf ihn hinunter.

„Mami.“ Die Mia stellte sich zu ihrer Mutter. „Ach. Mia. Ich bin nicht sicher.“ „Nein.“ bettelte Mia. „Transgender. Ich bitte dich.“ Frau Fischer seufzte. „Ich verstehe dich schon. Aber weißt du. Das muß alles auch gar nicht stimmen.“ „Du meinst, das ist nur so ein Gschichtl?“ Die Mia wollte es gar nicht glauben. Frau Fischer seufzte. „Nun.“ sagte der Onkel. „Es ist schon noch zu erwarten, daß jemand die Verantwortung für seine Taten übernimmt. Geschlecht trans, sub oder was auch immer.“ Frau Fischer hob die Hand. „Ich überlege, wie wir diesen Chrobath mit hineinnehmen können. Werden Sie.“ Sie wandte sich an Sven. „Werden Sie das alles so bei der Polizei sagen. Oder bei der Staatsanwaltschaft.“ Sven nickte. „Das ist nicht genug.“ sagte Markus. Sven nickte wieder.

„Wer braucht einen Kaffee?“ fragte die Mia. Sie begann Kaffee zu kochen. Sie goß Wasser in die Kaffeemaschine und löffelte Kaffeepulver in den Filtertrichter. Markus hatte sich zur Vroni gestellt. Die Vroni schaute auf den Platz hinunter. Die Bäume waren ohne Blätter. Sie konnte durch die Platanenzweige auf den Boden hinunterschauen.

Das hatte sie sich anders vorgestellt. Sie holte tief Luft. Sie hatte gedacht, es würde befriedigend sein, wenn sie den Täter gestellt hatte. Aber es war nur traurig. Sie seufzte wieder. Markus legte seinen Arm um ihre Schulter, und sie lehnte sich einen Augenblick gegen ihn.

„Warum hast du dir das nicht überlegt.“ fragte sie Sven. „Auf so etwas kann man doch nicht so ohne Weiteres eingehen. Und wenn du schon nicht an jemanden anderen denkst, dann mußt du doch an dich selber denken.“ Der Onkel schnaufte empört und ging zur Küche. Es hatte nach Kaffee zu riechen begonnen.

„Es liegt an dir.“ sagte Frau Fischer auch zu Sven. „Vielleicht hätten wir ihn mit der Polizei mitschicken sollen. Vroni! Für dich ist das ja etwas ganz anderes. Leute!“ Frau Fischer wandte sich an alle. „Ich finde, die Vroni soll entscheiden, was mit diesem jungen Mann geschehen soll.“

Die Vroni schüttelte den Kopf. „Nein.“ sagte sie. Einen Augenblick war sie sehr müde und traurig. „Ich kann das nicht. Und. Das ist eine der Aufgaben des Staats. Das kann ich nicht ändern. Es tut mir leid.“ sagte sie in Richtung Sven. Der ließ sich noch tiefer in den Fauteuil sinken. „Dann trinken wir jetzt Kaffee.“ Frau Fischer und Mia brachten allen Kaffee. Auch der Sven bekam ein Häferl. „Und dann…“ Alle nickten. Der Onkel stellte sich zu Vroni ans Fenster. Markus hatte seinen Arm von Vronis Schultern nehmen müssen, aber er lehnte gegen Vronis Arm. Die Mia und Frau Fischer waren hinter Sven stehen geblieben. „So etwas passiert immer nur, wenn Gruppen sich so vollkommen aus der Gesellschaft herausnehmen.“ sagte Frau Fischer. „Und sich besser vorkommen.“ sagte der Onkel Franz. „Habt Ihr Euch eingebildet, Ihr seid eine Elitetruppe. Was? Daß es nie etwas Neues gibt…“

Alle tranken oder nippten an ihrem Kaffee. Die Vroni wünschte sich, daß dieser Augenblick so lange wie möglich dauern sollte. Sie wollte nicht mehr an diesen Überfall denken. „Bin ich so faul?“ fragte sie sich. „Bin ich zu faul für eine Strafverfolgung. Habe ich nicht genug Selbstachtung, Gerechtigkeit für mich zu verlangen?“ Sie schüttelte den Kopf. Markus sah sie fragend an. Die Vroni lächelte. „Daß immer alles Arbeit ist.“ sagte sie. Markus schaute sie fragend an. „Es ist alles so anstrengend.“ fügte sie hinzu. Der Markus nickte. „Ich glaube, ich weiß, was du meinst.“ Vronis Handy läutete.

Diese Folge ist allen Kindern gewidmet, die weltweit in Kriegen leben müssen.

So wird das Leben. Siebzehnte Folge.

Und dann war es wie schon das letzte Mal. Es war zu hören, wie die Tür innen aufgesperrt wurde. Dann passierte lange nichts. Die Klappe des Türspions war zu hören. Die Vroni hatte plötzlich ein komisches Gefühl. Sie war knapp an der Tür gestanden und trat ein paar Schritte zurück. Der Onkel Franz schlug wieder mit der Hand gegen die Tür. Da wurde die Tür aufgerissen. Der Onkel wurde fast umgeworfen. Ein Mann raste geduckt durch die Tür heraus, und die Vroni stand gerade so, daß sie nur den Fuß ausstrecken mußte. Der Mann schien sich fast in der Luft zu überschlagen. Dann schlug er seitlich gegen das Gitter vom Stiegenabsatz, und stürzte von da die Stiegen hinunter.

Einen Augenblick stand die Vroni gelähmt da. Sie war erschrocken über die Wirkung. Hatte sie diese Person nun verletzt. Sie schaute dem Sturz des Manns über die Stiegen hinunter entsetzt zu. Dann aber sah sie, daß es der Mann vom Überfall war und lief ihm die Stiege hinunter nach. Der Mann begann gerade sich aufzurappeln, und die Vroni setzte sich auf seinen Rücken. Sie setzte sich einfach auf den Rücken dieser Person. Sie ließ sich auf diesen Rücken fallen. Zuerst sackte der Mann unter ihrem Gewicht zusammen. Dann begann er zu versuchen, sie abzuschütteln, und die Vroni nahm ihn bei den Haaren und zog seinen Kopf in die Höhe. Der Bursch hatte ziemlich lange Haare. Jedenfalls vorne, an der Stirn waren sie lange genug, sich fest in ihnen zu verkrallen. Ganz kurz und nur einen winzigen Augenblick lang, fiel der Vroni ein, daß ihr eigentlich grauste. Ihr grauste vor diesem Mann und ihn anzugreifen war widerlich. Dann aber kam die Wut zurück und sie mußte sich daran erinnern, daß sie nur mit der linken Hand kräftig genug war, ihn an den Haaren zu zerren, und sie zog gleich noch fester an den Haaren und zog den Kopf des Manns fest ins Genick hoch. Der war schuld, daß sie ihre reche Hand noch immer nicht voll gebrauchen konnte. Der Mann ächzte und begann um sich zu schlagen. Da war aber schon der Onkel Franz da und hielt dem Mann die Arme auf den Boden nieder. „Ist der das denn?“ fragte er, und die Vroni nickte. Sie konnte nichts sagen. Sie mußte die Lippen zusammenpressen und sich selbst schwer machen, um diesen Mann zu bändigen. Fast mußte sie lachen, so warf der Bursche sie hin und her. „Wie auf einem Kamel.“ dachte sie.

Dann war die Frau Fischer da und mit ihr die Mia und der Markus. Die kamen von unten heraufgelaufen.

Es war gar nicht so leicht, diesen Mann dingfest zu machen. Die Vroni konnte erst wieder aufstehen, nachdem der Onkel Franz den einen Arm und der Markus den anderen Arm festhielten. Der Markus kniete sich auf die Schulter, und die Vroni richtete sich auf. Sie zog aber weiter an den Haaren, und der Mann hatte zu wimmern begonnen.

Da hatte die Vroni mit einem Mal den Impuls, ihn noch fester an den Haaren zu ziehen oder ihn gleich an den Haaren über den Boden zu schleifen. Sie hätte schreien und aufstampfen mögen und diesem Mann ins Gesicht treten. Einen Moment war sie außer sich vor Haß. Dann ließ sie den Mann los und der Onkel Franz und der Markus schliffen den Mann in die Wohnung vom Chrobath zurück und alle gingen ihnen nach.

Gleich nach rechts stand die Tür zum Balkonzimmer offen. Wie beim Onkel Franz im Stock darüber war das auch hier das Wohnzimmer. Aber im Wohnzimmer vom Dr. Chrobath schaute es aus wie in einem Museum. Auf barocken Tischen und Kommoden standen Uhren aller Art. Die Wände waren dunkelgrün gestrichen und graue Brokatvorhänge umrahmten den Ausgang zum Balkon.

Dr. Chrobath saß in einem dunkelblau überzogenen Lehnstuhl. Er grinste alle an. „Hast du es wieder nicht geschafft. Was?“ sagte er. Der junge Mann machte wieder einen Versuch sich loszureißen. Der Onkel Franz und Markus hielten ihn fest, und sie stießen in dem Gerangel fast an einem der Tische mit den Uhren an. „Hö. Hö.“ rief Chrobath. „Hö. Das machst du mir nicht. Meine Uhren in Gefahr bringen.“ Dann wandte Dr. Chrobath sich an den Onkel Franz. „Das ist unserf Alfie.“ Chrobath grinste den jungen Mann an. „Wir haben ihn Alfie nach Alf genannt. Sie erinnern sich. Diese Serie aus den 80ern. Und wer aufgepaßt hat, der weiß, daß Alf von Alien Life Form kommt. Jetzt ist der Sven nicht vom Planeten Melmack gekommen, sondern aus der Transgenderei. Zuerst hat der Sven ja Pantherus geheißen, aber dann sind wir draufgekommen und haben ihn umgespitzt.“ Die Vroni schüttelte den Kopf. „Das heißt umbenennen. Bei uns.“ sagte Chrobath. Die Vroni schaute verständnislos. „Bei uns Männern von den Burschenschaften.“ setzte Chrobath nach. Er machte eine Pause. Er wirkte sehr angegriffen. Er hatte Anstalten gemacht aufzustehen, aber dann hatte er sich wieder in den Sessel zurücksinken lassen.

„Sie meinen, dieser Mann ist….“ Die Vroni konnte nicht weiterreden. Der alte Mann grinste. Der junge Mann machte einen Schritt auf den alten Mann zu. Er riß den Onkel Franz und Markus mit sich. Dann spukte er dem Dr. Chrobath ins Gesicht. „Ihr könnt mich zur Polizei bringen.“ sagte er dann und wandte sich von Chrobath ab. „Wenn das hier alles das bedeutet, was ich vermute, dann sind Sie ja wirklich ein richtiges Butzerl.“ sagte Frau Fischer zu Chrobath und ging davon. „Arschloch.“ sagte die Mia und lief ihrer Mutter nach.

Chrobath hatte ein Taschentuch aus seinem Morgenmantel geholt und wischte sich die Spuke vom Gesicht. Er schüttelte den Kopf. Aber er grinste zufrieden. Die Vroni war entsetzt. Sie hätte diesem Mann auch gleich ins Gesicht spuken können. Wieder hatte sie diese Aufwallung von Haß und wünschte sich, diesen Mann schlagen zu können. Sie blieb aber ruhig und ging hinter den drei Männern aus der Wohnung hinaus. „Schmeißts mir die Tür zu.“ rief der Chrobath ihnen nach. Die Vroni ging still hinter den anderen die Stiegen hinauf. Sie ließ die Wohnungstür weit offen stehen. Dann drehte sie doch um und warf die Tür zu. Dieser Mann gehörte eingesperrt.

Oben hielt Frau Fischer ihre Wohnungstür auf und alle drängelten sich in ihr Wohnzimmer.

Bei der Frau Fischer waren die Zimmer groß und hell und die Küche war ins Wohnzimmer eingebaut. Bei ihr war alles weiß und apfelgrün und die Sitzecke hellgrauer Filz. Die Vroni atmete auf und ließ sich auf das Sofa fallen.

„Was machen wir jetzt?“ fragte Markus. Jetzt erst bemerkte die Vroni wie fest er diesen Sven im Griff hatte. „Wir hätten dich heute ohnehin angezeigt.“ sagte die Mia zu Sven. Der stand da und ließ den Kopf hängen. Dann zuckte er mit den Achseln, und Markus verbog ihm gleich den Arm den Rücken hinauf. „Komm. Komm.“ sagte der Onkel Franz. „Wir lassen Sie jetzt los und Sie setzen sich in diesen Sessel.“ Markus und der Onkel Franz führten Sven zu einem der Feauteuils und setzten ihn hin. Markus stellte sich neben den Sessel. Er war drohend über Sven gebeugt. Dann holte der Onkel sein Handy aus der Tasche und machte ein Foto von Sven. Der wollte sich nicht fotografieren lassen und Markus packte ihn wieder an den Haaren und zwang ihn, sich fotografieren zu lassen. Sven verzerrte sein Gesicht und der Onkel Franz mußte lachen. Dann lachten alle, und sogar Sven mußte mitlachen. Da bekam der Onkel dann ein klares Bild von ihm und setzte sich gegenüber von Sven nieder.

„Ich rufe jetzt die Polizei an und bis die kommen, können Sie uns noch alles erzählen.“ sagte er, aber er rief nicht an.

„Das war alles Erpressung.“ sagte Sven. Er hatte sich vorgelehnt und schaute vor sich auf den Boden. „Das war Erpressung.“ Die Vroni ging zum Fenster und schaute hinaus. Der Onkel Franz stand auch auf und stellte sich neben sie. „Dann hätten sie halt eine Anzeige machen müssen.“ sagte Frau Fischer. Die Mia setzte sich aufs Sofa und schaute böse. „Das können Sie so sagen.“ sagte Sven. „Was machen Sie, wenn Sie zu einem Psychiater gehen wegen des Problems und der ist ein Bundesbruder von diesem Alten da und so kommt der an meinen Akt. Was machen Sie da?“ Sven setzte sich auf und starrte alle der Reihe nach an. „Was machst du da?“ fragte er noch einmal. „Ich wollte nur eine Psychotherapie und die Krankenkassa zahlt erst, wenn so ein Gutachten vorliegt. Das war alles. Ich weiß gar nicht, was ich machen will. Ich dachte. Na ja. Das ist ja jetzt gleichgültig.“

Er schwieg. Alle blieben stumm. Die Vroni verstand nicht ganz, was das Problem dieses jungen Mannes war. War der schwul oder was? Aber war das ein Problem? Oder war der transsexuell?

„Aber das sind doch gleich mehrere Delikte.“ rief Frau Fischer. Dann stellte sie sich zu Vroni und Onkel Franz ans Fenster.

„Na ja.“ sagte sie. „Wenn Ihr Kollege Höflein die Wahl gewinnt, dann brauchen Sie keine Gutachten mehr. Da werden Sie als Mann genommen und da gibt es keine Spompanadln mit dem Geschlecht. Da geht es dann wieder um die Familie als die Keimzelle des Volkskörpers und da müssen Sie Ihre Geschlechterrolle spielen. Ja. Ja. Da bleibt ein Mann ein Mann und zeugt die Kinder und bestimmt. Die Frau bekommt die vielen Kinder, die der Mann vor sich hinzeugt. Und die Kinder kriegen wieder die Watschn, weil das einfach so ist. Wer weiß, vielleicht ist so eine autochthone Watschn dann ja auch die einzige Möglichkeit.“ Der Onkel Franz nickte Frau Fischer zu. Er wollte gerade den jungen Mann etwas fragen. Da läutete es. Sven sprang auf. Er klammerte sich an Markus. „Rette mich!“ rief er. „Rettet mich!“ Jemand klopfte an der Tür. „Polizei! Wir haben einen Notruf von hier. Hallo? Polizei!“

Frau Fischer ging zur Tür und schloß auf.

Diese Folge ist den türkischen Mädchen stellvertretend für alle Mädchen und Frauen auf der ganzen Welt gewidmet, die patriarchaler Brutalität von Staatsseite ausgesetzt sind.

***

So wird das Leben. Sechzehnte Folge.

Die Vroni mußte aber dann doch aus dem Bett und an die Tür. Es wurde geläutet und geläutet und die Polster über den Ohren reichten nicht mehr aus, das Geräusch zu ersticken.

Durch den Spion sah die Vroni nur einen Mann vor der Tür auf und abgehen, und sie wollte schon durch die Tür schreien, daß sie die Polizei holen wolle. Da wandte sich dieser Mann aber der Tür zu. Die Vroni sah, daß es der Onkel Franz war und riß die Tür auf. Während sie all die Schlösser aufsperrte, rief sie „Bitte. Nur einen Augenblick. Gleich. Gleich.“ und der Onkel Franz lachte und sagte, „Mach nur ruhig.“ Die Vroni freute sich so über die Rückkehr des Onkels, daß sie fast weinen mußte. Sie begann dem Onkel alles zu erzählen, da war der noch kaum durch die Tür gekommen.

Der Onkel Franz hörte sich Vronis Erzählung ruhig an. Die Vroni zögerte, die Beschimpfungen von diesem Dr. Chrobath zu wiederholen, aber der Onkel sagte, „Sag nur. Ich weiß, daß der mich einen Schwuli nennt. Und sonst noch alles mögliche.“ In der Hast des Berichtens vergaß die Vroni, daß sie niemandem bisher alles so genau erzählt hatte. So kam es, daß der Onkel den ganzen Hergang des Überfalls zu hören bekam. Auch die Sache wie der Dr. Chrobath ihr trotz seiner eigenen Schmerzen so grinsend gesagt hatte, daß es ihr niemand glauben werde, daß er diesen Überfall bestellt gehabt hatte.

Der Onkel Franz hörte sich die Geschichte an. Er unterbrach die Vroni nicht, und nachdem sie fertig war, begann er im Zimmer rund um den Tisch zu gehen. Er ging den Rand des großen Teppichs entlang und starrte vor sich hin.

„Du schaust toll erholt aus.“ sagte die Vroni dann, und der Onkel nickte zerstreut. Der Onkel Franz sah aber wirklich gesund aus. Er war braungebrannt und ging frisch und elastisch. Er schien viel jünger zu sein als vor der Sache mit dem Herz. Die Vroni überlegte, wie alt der Onkel Franz war. Der Großonkel Franz und die Großtante Roswitha feierten keine Geburtstage. Deshalb wuße niemand so ganz genau, wie alt sie wirklich waren.

„Mir geht es sehr gut.“ sagte der Onkel. „Aber was machen wir mit dieser Sache?“ Er blieb stehen und schaute beim Fenster hinaus. „Diese Fehde geht schon seit Jahren. Du weißt, daß der selber schwul ist. Aber das sagt der nicht. Ich möchte nicht wissen. Na ja. Ich glaube nicht, daß er.“ Er sprach nicht weiter. Dann schüttelte er den Kopf. „Komm.“ sagte er. „Zieh dich an. Ich schau einmal, ob ich die Fischer erwische.“ Er ging davon, und die Vroni lief ins Badezimmer.

Vor dem Spiegel fiel ihr dann die Geschichte von der Mami wieder ein. Sie schaute sich lange an. „Böse Zeiten.“ sagte sie dann zu sich selber. „Sehr böse Zeiten.“ Sie war traurig. Es war so klar, wieviel Leid nun losgetreten werden würde. Millionen von Menschen aus den USA ausweisen. Eine ganze riesige Gruppe von Personen demütigen. Sie in die Verachtung knebeln. Sie mit dieser Verachtung beschäftigen und nichts anderes zulassen. Wie das schon mit den afroamerikanischen Personen gemacht worden war. Mit den Indigenen. Die Familien zerreißen. Lebenswege unterbrechen. Lenken. Hinter Mauern verschaffen. Und Mexico. Eine verbrecherische Polizei. Mit der würde Trump sich aber verbünden. Die mußten die Ausgewiesenen in Mexiko zurückhalten. Da würde es Abkommen geben. Da wurde doch bezahlt. Die mexikanische Polizei würde von der Trump-Administration dafür bezahlt werden, daß sie der Trump-Administration Ärger mit den Ausgeschafften und den Flüchtenden ersparten. Ein Krieg war das. Ein Krieg von oben nach unten. Kapitalismus halt. Was waren diese Personen überhaupt für die mexikanische Polizei? Schutz gab es für diese Flüchtenden dann von keiner Seite. Die wurden zu Gejagten. Schießbefehle gab es schon. Am Ende endete das wie in der DDR und war nicht aufrechtzuhalten. Aber bis dahin. So viele Schicksale. Aber die Vroni mußte weitermachen. Der Onkel rief von draußen, daß die Dr. Fischer nicht zu Hause sei, aber das würde nichts machen. „Wir machen das jetzt!“

Die Vroni lief ins Schlafzimmer und zog sich an. Der Onkel drehte den Fernsehapparat auf. Die Vroni konnte nur das flache Gemurmel von Nachrichtensprechern hören. Dann wurde abgedreht. Dann hörte sie die Nachrichten wieder. Sie rief aus dem Schlafzimmer, „Gibt es wieder so schreckliches Zeugs?“

Der Onkel antwortete nicht. Die Vroni mußte ihre Handtasche aus dem Wohnzimmer holen. Sie wollte ein Parkemed nehmen, und die Tabletten waren in ihrer Handtasche. In ihrer Hand hatte plötzlich wieder der Schmerz begonnen. Es war ein wolkiger Schmerz und wie weit entfernt. Aber die Vroni wollte nichts mehr mit diesem Schmerz zu tun haben. Alle, auch der Markus sagten immer wieder, daß sie sich damit auseinandersetzen sollte. Aber die wußten nichts. Wenn sie den Schmerz mit Hilfe der Tabletten verbannte, dann war sie auch von den Erinnerungen nicht so angegriffen.

Der Onkel hatte sich hingesetzt. „Da. Schau!“ sagte er und wies auf den Bildschirm. Da war Präsident Obama auf einem von diesen blaubezogenen Sesselchen im Weißen Haus zu sehen und Donald Trump saß links von ihm und schaute böse vor sich hin.

„Das ist das Schlimmste.“ sagte der Onkel. „So war das mit dem Hitler auch. Ein Verbrecher wird durch das Amt zum Amtsträger und alle glauben, das verändert den. Na. Damals hat man das auch nicht sehen wollen. Ein Strizzi bleibt ein Strizzi. Komm. Dann nehmen wir uns den Strizzi hier im Haus einmal vor.“

Die Vroni war dann endlich fertig und angezogen.

„So.“ Der Onkel sprang auf. Die Vroni war unsicher. Die Vorstellung an die Tür vom Dr. Chrobath zu gehen und da anzuläuten, ließ sie erstarren. „Komm. Komm.“ sagte der Onkel. „Komm. Wir outen uns jetzt.“ Die Vroni schaute ihn fragend an. „Als nicht erpressbar, outen wir uns.“ sagte der Onkel. „Der soll doch nicht glauben, er kann seine sadistischen Spielchen mit uns treiben. Das muß man konfrontieren. Oder?“ Der Onkel hielt an der Wohnungstür inne. „Hast du Angst.“ Die Vroni nickte. „Aber du willst doch zur Polizei gehen und eine Anzeige machen. Das mußt du. Wenn du sogar den Namen von dem Mann weißt, der dir die Hand zerschlage hat. Dann kannst du nicht anders.“ Die Vroni zögerte. Da nahm der Onkel sie an der gesunden Hand und führte sie ins Stiegenhaus hinaus und die Stiege hinunter. „Das ist eine Frage der Selbstachtung.“ sagte er. „Weißt du. Ich habe in meinem Leben auf die schwierige Art lernen müssen, daß es darum geht. Um die Selbstachtung. Das können wir nicht so drangeben. Verstehst du. Das macht dich kaputt.“ Er schaute sie von der Seite an. „Wenn du jetzt denkst, du zerstörst ein anderes Leben, wenn du die Maschinerie von Polizei und Gericht lostrittst, dann täuscht du dich. Dein Leben ist zerstört worden. Es geht um dich und nicht um diese Leut da. Und noch haben wir diese Möglichkeit einer freien Gerichtsbarkeit. Wer weiß…“

Sie waren vor der Tür von Chrobath angekommen. Der Onkel läutete. Es gab keine Reaktion. Der Onkel läutete wieder. Dann noch einmal. Dann hörte man Schritte drinnen und jemand schaute durch den Spion. „Chrobath. Machen Sie auf. Ich will mit Ihnen reden.“ rief der Onkel Franz. Dann schlug er mit der flachen Hand gegen die Tür. „Aufmachen. Sag ich.“ Aber es gab keine Reaktion. Es war still hinter der Tür. Die Vroni konnte gar nicht mehr sagen, ob sie wirklich eine Person hinter der Tür wahrgenommen hatte.

„Dann ist es gut. Chrobath.“ Der Onkel sprach laut durch die Tür. „Ich rufe die Polizei.“ Er wartete. „Ich mache mir große Sorgen und rufe die Polizei.“ Der Onkel holte sein Handy aus seiner Rocktasche und wählte den Notruf. Da war dann doch zu hören, wie ein Schlüssel im Schloß gedreht wurde und die Tür ging auf.

Diese Folge ist dem Fußballer Andy Woodward stellvertretend für alle Mißbrauchsopfer gewidmet.

***

So wird das Leben. Fünfzehnte Folge.

Die Vroni hatte die anderen an diesem Abend dann doch noch getroffen. Das Gespräch mit Meran war an der Leitung gescheitert, und sie hätte es in der Wohnung nicht ausgehalten. Beim ersten Abheben hatte sie Meran nicht hören können. Dann beim zweiten Anruf war Merans Stimme wie von einem Synthesizer zerhackt gewesen. Dann hatte Vroni es versucht, aber es war keine Verbindung zustande gekommen. Als dann die Kristi textete, daß sie in die Bar vom Top Kino nachkommen solle, ging sie sofort hin.

Die Bar war überfüllt, und die Vroni mußte sich durch die Menge zum Toni und der Kristi durchdrängeln. Der Markus war auch noch da. Die Mia war im Gartenbaukino geblieben. Sie hatte zufällig einen Schulkollegen aus der Mittelschule getroffen, und sie hatten reden wollen.

Die Vroni ließ sich auf das Sesselchen neben der Kristi fallen und wollte fragen, was die anderen tranken. Aber der Toni hielt sie gleich am Arm fest und machte ein böses Gesicht. Er deutete auf einen Mann an der Bar vorne, und die Vroni verstand gleich, warum er so böse schaute. Sie schüttelte seine Hand ab und lachte.
„Das ist der Freund von der Mami.“ sagte sie zu Markus. „Schön, daß du doch noch da bist.“ sagte der. „Ja. Entschuldige. Hallo!“ Die Vroni beugte sich zu Markus und küßte ihn zur Begrüßung auf die Wange. „Aber du mußt uns entschuldigen.“ sagte sie. „Dieser Mann. Weißt du. Der ist so. So…“ Die Vroni schaute fragend zu Toni. Der saß vorgebeugt und schaute auf den Boden. „Ist es so schlimm?“ fragte die Kristi und lachte. Der Toni schüttelte den Kopf. Er ließ sich nicht aufheitern. „Was stört Euch denn an dem?“ Markus beugte sich vor. Sie mußten die Köpfe zusammenstecken, damit sie einander verstehen konnten. Es war sehr laut in dem Lokal, und die Vroni konnte nur den Rhythmus der Musik über dem Lärm hören.

„Der Toni geniert sich für ihn.“ sagte die Vroni. „Er stellt sich an Straßenecken und hält Volksreden.“ „Ach.“ sagte die Kristi. „Und was predigt er?“ Die Vroni schaute wieder den Toni fragend an. Der setzte sich auf. „Nein. Ich geniere mich nicht. Wirklich nicht. Oder doch? Ich weiß es nicht.“ Die Kristi setzte sich auf. „Also was?“ lachte sie. „Ja. Weißt du…“ „Wer ist denn das überhaupt?“ fragte der Markus. „Also.“ sagte Vroni. „Der heißt Conrad Boenhase. Conrad mit C. Und der ist Romanist. Der unterrichtet Französisch an der Uni. Und der glaubt an die Macht der Philosophie. Deswegen…“

Der Mann an der Bar war auf die Theke der Bar geklettert. Er saß auf der Theke und ragte über alle hinaus. Er hielt zwei Weingläser hoch und stieß sie gegeneinander. Erst war das Klirren gar nicht zu hören, weil es so laut war. Dann wurde gezischt und „Ruhe“ gerufen und es war die Musik zu hören. Conrad Boenhase deutete dem Barkeeper, die Musik leiser zu schalten. Der schaute sich erst um. Es waren aber alle Boenhase zugewandt. Der Barkeeper zuckte mit den Achseln und ging in die Ecke zur Musikanlage.

„Ich möchte mit Euch über diese Wahl reden.“ sagte der Mann. Es wurde geschrien und gepfiffen, und alle lachten.

„Ich verstehe, was du meinst.“ sagte die Kristi zum Toni und die Vroni nickte. Markus lachte auch.

„Ihr lacht?“ fragte Boenhase. „Dann lacht Euch noch einmal ordentlich aus. Ihr Fehlgeleiteten. Aber was verlange ich von Euch, Ihr kulturell digitalisierten Verlorenen. Ihr wißt ja nicht einmal mehr, was eine persönliche Entscheidung ist, weil Ihr nur den Likes nachgehen könnt. Ihr müßt Euch ja Euren Platz in der digitalen Gemeinschaft mit Euren Likes verdienen. Ihr werdet immer nur so viel Anerkennung bekommen, wie Ihr vergeben habt. Ihr werdet nie auf einen grünen Zweig kommen, weil Ihr für die Algorithmen nur noch black boxes seid und Eure Ideen, Träume und Wünsche nicht einmal von Euch selber noch gedacht werden können. Und da kommt nun die Möglichkeit, sich in einer Ideologie Bestätigung holen zu können. Aber ich frage Euch. Wen wollt Ihr denn da wählen? Bei dieser Präsidentschaftswahl.“

Wieder wurde geschrien und gepfiffen. Viele hatten aber ihre Gespräche wieder aufgenommen, und der Barkeeper ging, die Musik wieder lauter aufzudrehen. Welchen Präsidenten er meine, wurd gerufen.

Boenhase kletterte auf die Bar und kniete. Er hielt sein Weinglas hoch. „Ich meine beide Präsidentschaftskandidaten. Eigentlich meine ich Trump und Höflein. Aber hier geht es um uns. Um unseren Staat. Um unsere Demokratie oder das, was wir so nennen. Und. Ist es denn wirklich so vermessen, sich Verantwortung von einem Kandidaten für dieses Amt zu wünschen. Und hat ein Mensch, der drei Kinder hat, aber den gefährlichen Sport des Paragleitens ausübt, hat der Verantwortlichkeit gezeigt. Ich sage nein.“

Es wurde wieder zugehört. Alle riefen „Nein. Das hat er nicht.“

„Und können wir es Verantwortung nennen, wenn jemand die Bezahlung der Folgen einer solch gefährlichen Sportausübung der Allgemeinheit überläßt. Ist Solidarität für Elitensportarten selbstverständlich, während die Vorschläge der Gewerkschafter überstimmt werden, wie das bei den CETA-Entscheidungen wieder der Fall war.“

Buhrufe waren zu hören.

„Und wenn wir erfahren, daß dieser Mann sich nach einer Berufsunfähigkeitspension erkundigt hat, während er die Sozialhilfe weiter kürzen will und den Zugang zur Krankenkasse von der Autochthonie einer Person abhängig machen will. Das heißt, er will alle, die als Ausländer gelten, nicht an den solidarischen Sozialleistungen beteiligen, für sich selbst aber alles nehmen. Ist so eine Person wählbar, wenn sie für sich alle Privilegien beansprucht, sie aber den anderen streitig machen will. Ich sage nein.“

Boenhase trank einen Schluck aus seinem Glas. Es wurde applaudiert. Der Barkeeper benutzte diesen Augenblick, die Musik sehr laut aufzudrehen. Es gab Applaus und Zurufe, aber Boenhase konnte nicht mehr weiterreden. Ein paar Leute umringten ihn und halfen ihm, von der Bar herunterzuspringen.

Die Vroni schüttelte den Kopf. „Es ist ja richtig, was er sagt.“ meinte sie. „Aber muß es der Freund der eigenen Mutter sein?“ seufzte Toni. „Was macht er denn in Wien.“ fragte die Vroni. „Keine Ahnung.“ gab er zur Antwort. „Denn sonst versinke ich im Boden vor. Vor…“ Markus legte seinen Arm beruhigend um Vronis Schultern. „Eltern sind doch immer peinlich.“ sagte er. Die Kristi nickte.

„Müssen wir ihn begrüßen.“ Die Vroni schaute sich nach Boenhase um. „Das müssen wir.“ Der Toni beugte sich wieder vor und schaute den Boden an. „Sei nicht so resigniert.“ sagte die Kristi. „Es gibt Schlimmeres. Ich finde den gut.“

„Und wie wollen wir es machen?“ fragte der Markus die Vroni. Die Vroni wußte nicht gleich, was er meinte. Markus lachte. „Du wolltest doch zur Polizei gehen.“ Der Vroni war gleich wieder schlecht. „Du sollst mit der Mutter von der Mia reden, soll ich dir von der Mia ausrichten.“ sagte die Kristi. „Kannst du aber auch mitkommen?“ fragte Vroni den Markus. Sie mußte aber dann auch gleich wieder an Meran denken und wie das Gespräch so schiefgegangen war. Sie nickte Markus zu, und der nickte zurück. „Dann treffen wir uns bei der Mia. Ja?“ sagte sie und stand auf. „Ich gehe wieder nach Hause.“ sagte sie. „Nein. Nein.“ sagte sie zu Markus. „Allein?“ Vroni nickte. Sie ging sehr schnell weg. Sie wollte allein sein.

Sie drängelte sich zum Ausgang durch. Sie zog ihren Mantel erst auf der Straße wieder an und setzte die Haube auf. Es war kalt. Die Bäume waren fast schon kahl. Die gelben Blätter der Linden lagen auf dem Boden. Die Vroni ging auf dem Ring zur Löwengasse. Sie ging gerade vor dem ehemaligen k.u.k. Kriegsministerium, da läutete ihr Handy. Meran versuchte es noch einmal. Vroni zögerte wieder.

Es war aber nicht Meran. Die Vroni hatte nicht richtig hingeschaut. Es war ihre Mutter. „Vroni, meine Maus. Bist du das?“ fragte sie. „Deine Stimme klingt so komisch.“ „Deine aber auch.“ antwortete die Vroni. „Ist etwas passiert.“ „Das kann man sagen.“ erwiderte die Mutter. „Stell dir vor, was mir passiert ist. Ich habe dir doch von diesem blauen Betriebsrat erzählt. Ich treffe den gerade in der Tiefgarage und wir reden so über alles mögliche und dann über die Wahl in den USA. Und dann sagte der, daß er sicher ist, daß dieser Trump es werden wird. Und dann stützt der sich so auf dem Autodach auf und schaut mich an. ‚Weißt du.‘ sagt er dann. ‚Wenn der gewonnen hat, dann kann ich dich „Blöde Fotze“ nennen, ohne daß mir etwas passiert.‘ Und das Schlimmste ist, daß der sich großartig vorgekommen ist, weil er mir das so indirekt sagt und nicht ins Gesicht.“

Vronis Mutter seufzte. „Was kommt da auf uns zu?“ fragte sie.

Die Vroni wurde wütend. „Was hast du ihm denn gesagt?“ „Ich war so entsetzt, daß mir nichts eingefallen ist.“ „Das ist ja scheußlich.“ meinte Vroni. „Ich habe übrigens den Conrad gesehen.“ „Ja. Der ist für sein Seminar an der Akademie in Wien. Aber wie geht es denn dir so?“ Vroni konnte nur seufzen, und sie machten sich aus, daß die Vroni am Wochenende nach Graz kommen sollte. „Aber wir reden morgen früh. Schauen wir, in was für einer Welt wir aufwachen.“ verabschiedete sich Vronis Mutter.

Als Vroni dann am nächsten Morgen die SMS „das Grauenhafteste ist passiert“ von ihrer Mutter geschickt bekam, da zog sie die Decke über den Kopf. Sie konnte sich nicht in einer Welt vorstellen, in der dieser Trump Präsident der Vereinigten Staaten sein sollte. „Ich weiß nicht, wo und wie ich mich in so einer Welt vorstellen soll.“ dachte sie. Meran hatte auch nicht mehr angerufen. Vroni blieb im Bett liegen. Es läutete an der Tür. Aber sie wollte niemandem aufmachen.

Diese Folge ist den 40.000 Kunden der Bank Tesco in Großbritannien stellvertretend für alle jene gewidmet, die in der digitalen Welt keine Person mehr finden können, die ihnen Auskunft über ihr Schicksal geben könnte. Tesco teilte am Montag mit, daß seit Samstag von 40.000 Koten im Internet Geld gestohlen worden war und daß deshalb das Internet Banking vom Netz genommen werden mußte. Es gab danach keine Möglichkeit, etwas über den Zusand des eigenen Kontos und des eigenen Gelds in Erfahrung zu bringen. Tesco entschuldigte sich. Aber es dauerte bis Montag, bis wenigstens eine offizielle Erklärung zur Lage abgegeben wurde.

***

So wird das Leben. Vierzehnte Folge.

Vroni blieb dann im Café Klinik sitzen. Der Toni und die Kristi hatten ins Kino gehen wollen und sich einen Film bei der Viennale anschauen. Die Mia sollte zum Gartenbaukino nachkommen, und der Markus hatte sich angeschlossen. Die Vroni hatte geseufzt und gesagt, sie müsse lernen. „Wißt Ihr, ich habe so viel versäumt wegen dieses Blödsinns.“ Dabei hatte sie ihre Hand gehoben, und alle hatten verständnisvoll genickt.

Die Vroni schämte sich aber dann. Sie saß in der Ecke im Café und schämte sich. Sie hatte ihre Verletzung benutzt, das Mitgefühl der anderen auszulösen. Die Kristi hatte sie gar nicht alleinlassen wollen und wollte den Kinobesuch absagen. Der Markus war sehr traurig geworden, weil er ihr nicht helfen konnte. Dabei hatte sie ihm nur nicht sagen wollen, daß der Meran sie anrufen würde. Dann war das auch dem Meran gegenüber nicht fair, daß sie ihn verheimlichte, obwohl es gar keinen richtigen Grund dafür gab.

Sie saß da und überlegte, wie wegen dieses Überfalls alles in ein Chaos geraten war und sie das Gefühl hatte, in einem wirbelnden Durcheinander zu leben.

Die Vroni hatte dann ein so schlechtes Gewissen, daß sie beschloß, wirklich lernen zu gehen. Sie ging zur Bäckerei „Anker“ in der Halle vom AKH. Auf dem Weg dahin rief sie noch den Toni an und fragte ihn, was sie beim Bäcker für ihn für das Frühstück mitnehmen solle. Der Toni wollte aber nichts. Auf ihre Frage hatte es diese Pause gegeben, und die Vroni konnte sich gleich vorstellen, wie der Toni die Kristi fragend anschaute, während er ihre Frage wiederholte. „Ein Croissant oder ein Kipferl fürs Frühstück?“ Und dann hatte er abgelehnt. „Ich versorge mich schon.“ hatte er nach dem vielsagenden Zögern gesagt. „Warte nicht auf mich. Ja?“

Da fühlte die Vroni sich gleich noch verlorener, und sie kaufte 3 Kipferl für sich allein. Sie wünschte sich, sie wäre mit den anderen mitgegangen und hätte sich nicht selbst ausgeschlossen. Wenn der Toni jetzt etwas mit der Kristi anfing. Wahrscheinlich war ihre Eifersucht der Grund dafür gewesen, daß sie nichts von Meran gesagt hatte. Dann mußte sie sich aber zugeben, daß es wegen dem Markus gewesen war und daß sie nicht gewollt hatte, er müsse vermuten, daß sie noch mit dem Meran zusammen war. Denn das wußte sie selber ja gar nicht, und dieser Gedanke machte sie noch trübsinniger.

Sie stand mit dem Sackerl mit den Kipferln in der Hand in der Halle und überlegte, ob sie in die Wohnung vom Onkel Franz fahren sollte oder durch die Stadt in den 3. Bezirk hinüber zu Fuß gehen. Eine ältere Frau saß auf einer der Bänke am Rand der Halle. Vroni hatte nur so vor sich hingeschaut. Die Frau streckte den Kopf vor und schaute Vroni von unten ins Gesicht. „Es geschieht ja nichts mehr.“ sagte sie zu Vroni und stand auf.

Die Frau stellte sich vor Vroni auf. „Schauen Sie sich doch um. Dieses Krankenhaus zerfällt. Alle Krankenhäuser zerfallen. Dafür gibt es kein Geld. Aber für die Neger. Für die schon.“ Sie zeigte auf eine Gruppe dunkelhäutiger Männer. „Da. Schauen Sie. Denen geht es gut. Denen geht es besser und uns geht es schlechter. Meine Rente. Ich bin jetzt fast 80. Wenn das so weitergeht, dann werde ich mit 83 erschossen, weil die das Geld für mich nicht ausgeben wollen. Und Sie.“ Die Frau trat noch einen Schritt näher an Vroni heran. „Sie werden gar nichts kriegen. Weil sich nichts ändern wird. Nichts wird sich ändern und immer wird alles noch schlechter werden. Ich kann nur hoffen, daß dieser Höflein gewinnen wird. Dann wird es endlich wieder besser werden. Da werden Sie schon sehen. Da werden wir alle wieder wissen, wohin wir gehören. Und die da.“ Die alte Frau zeigte auf eine Kopftuchträgerin. „Die. Die werden das dann auch zur Kenntnis nehmen müssen.“

Vroni machte einen Schritt zurück, um den Atem der Frau nicht so direkt ins Gesicht zu bekommen. „Aber was fehlt Ihnen denn.“ fragte sie die alte Frau. „Geld.“ sagte die. „Geld. Zum Beispiel. Wie soll ich mit der Mindestrente auskommen? Und dabei habe ich alles gemacht. Für den Mann gesorgt. Die Kinder großgezogen. Die Enkel betreut. Gearbeitet. Ich habe meinen Teil erledigt, aber das gilt ja alles nicht.“

Vroni überlegte. Sie kannte sich nicht so gut aus, wie das mit den Pensionen war. In ihrer Familie hatten die Frauen immer gearbeitet und bekamen ihre eigenen Pensionen. Das war nicht so viel, und es klagten alle. Und die Tante Roswitha hatte sogar ausgerechnet, daß eine Person, die heute ihre Pension antreten mußte, nur mehr die Hälfte des ehemaligen Einkommens erwarten konnte, und dabei war man früher von mindestens 75% dieses Einkommens ausgegangen. Die Tante Roswitha hatte auch gemeint, daß das immer schlechter werden würde, daß aber die private Vorsorge auch keinen Sinn mache, weil die Lebensversicherungen alle ohnehin pleite wären, und der deutsche Staat zum Beispiel Gesetzte geändert hätte, damit die Versicherungen ihre vertraglichen Verpflichtungen nicht mehr erfüllen mußten. „Wer braucht Einbrecher, wenn es den Staat gibt.“ hatte die Tante Roswitha gesagt und daß es seit der Finanzkrise 2008 endgültig mit dem Sozialstaat vorbei sei.

Vroni sagte zu der alten Frau, „Ich kenne mich nicht aus, wie das ist. Mit den Pensionen.“ „Kinderl.“ antwortete die Frau. „Kinderl. Da muß man sich nicht auskennen. Sie machen alles wie es richtig ist und am Ende ist es trotzdem falsch.“ Die Frau setzte sich wieder und schüttelte den Kopf als wundere sie sich noch immer. „Wir brauchen neue Männer.“ sagte sie und schaute zu Vroni auf. „Warum machen Sie nicht etwas?“ fragte Vroni. „Warum gehen Sie nicht in die Politik?“ Die Frau schüttelte den Kopf. „Das müssen die Männer machen.“ sagte sie. jetzt schüttelte Vroni den Kopf. „Aber Sie sind doch nicht zufrieden damit, wie es ist. Dann ändern Sie das doch. Sie kennen die Probleme und wissen, was gemacht werden müßte.“

Vroni schaute die Frau genau an. Die Frau trug einen roten Anorak und dunkle Hosen. Ihre Haare waren kastanienrot gefäbt. Der dunkelrote Lippenstift verrann in die Falten rund um den Mund. Diese Frau sah nicht arm oder heruntergekommen aus. Sie war nur schrecklich wütend. Noch wie sie dasaß, schien sie vor Wut zu glühen. „Und dann will dich niemand mehr sehen.“ sagte sie. Vroni wiederholte ihre Aufforderung. „Gehen Sie doch in die Politik. Dann würde die Politik von den Leuten gemacht werden, die mit dieser Politik leben müssen.“

„Nein. Nein.“ Die alte Frau schüttelte wieder ihren Kopf. „Das muß dieser Höflein machen.“ „Der wird sie nicht retten.“ rief Vroni verzweifelt. Sie dachte, daß es um die Einsamkeit dieser Frau ging. Warum saß die an einem Abend in der Halle vom AKH und sprach wildfremde Menschen an. „Das macht mir gar nichts.“ sagte die alte Frau. „Der Höflein. Der wird wenigstens alles anders machen. Der wird es denen zeigen.“

Vroni ging. Sie grüßte die Frau und ging. Es war wohl so, daß die Lebensentscheidungen dieser Frau sich am Ende als falsch herausstellten. Das war ja für viele Frauen so. Über die Altersarmut von Frauen wurde immer nur so nebenbei geredet. Wahrscheinlich hatte sich der Mann dieser Frau am Ende noch scheiden lassen, und sie war nicht in der Lage gewesen, beim Scheidungsprozeß einen Unterhalt herauszuschlagen. Sie hatte die ganze Liebesarbeit erledigt und deswegen nicht so viele Stunden in der Woche arbeiten können. Da kam am Ende die Mindestpension heraus. Dieser Frau mußte das wie eine Strafe für ihre guten Taten vorkommen. Aber es deswegen den anderen „zeigen“ lassen. Warum sprach es niemand offen aus, daß Frauen, die sich für die Familie, also für den Mann, entschieden hatten, damit einen Fehler gemacht hatten. Warum wurde immer noch über die Wahlfreiheit für Frauen geredet, wenn sie am Ende mit der Mindestpension wirklich betrogen dastand. Vom Staat mitbetrogen, der ein solches Scheidungsrecht über die Frauen verhängt hatte. Das war häßlich.

Vroni ging sehr schnell weg. Sie wandte sich von der Frau ab und ging in Richtung Haupteingang weg. In der Eile rempelte sie einen Mann an. Vroni murmelte „Entschuldigung.“ und wollte weiter. Da spukte der Mann vor ihr auf den Boden. Die Vroni war so entsetzt, daß sie gerade noch sehen konnte, daß das ein Afrikaner gewesen war, der da gespukt hatte, so schnell lief sie davon. Ein anderer Mann riß den Afrikaner zurück und rief, „Entschuldigen Sie.“ Aber die Vroni konnte nur noch weg. Sie lief zur U-Bahn. Ihr Gesicht brannte vor Scham. Diese Frau fühlte sich jetzt sicherlich nur noch mehr bestätigt. Das war alles schrecklich. Die Vroni wollte nur weg.

Um 10.00 Uhr saß Vroni im Wohnzimmer vom Onkel Franz. Sie wartete auf den Anruf von Meran und war traurig. Ihr war so viel zugestoßen. Sie hatte diesem alten Mann gegen diese Schläger einfach helfen wollen, und ssie hatte so teuer mit der Verletzung ihrer Hand dafür bezahlt. Meran wollte Demokratie und Frieden und hatte deswegen die Türkei verlassen müssen. Er hatte mit seinem ganzen Leben dafür bezahlen müssen und war jetzt ein Flüchtling geworden. Die Vroni fühlte sich wie die Nußschale auf dem Ozean. Sie hatte sich nicht einmal vorstellen können, daß sich das Leben so anfühlen könnte. Einen Augenblick lang verstand sie diese Frau aus dem AKH. Sie fühlte sich verloren und nutzlos und ausgeschlossen. Zurückgelassen, fühlte sie sich. Einen Augenblick lang konnte sie sehen, wie befriedigend die Vorstellung sein konnte, daß andere gezwungen wurden, sich ebenso elend fühlen zu müssen.

Aber das machte Vroni dann endlich wieder wütend. Es machte sie wütend, daß all die Umstände rundherum sie dazu brachten, diesen Augenblick des Verständnisses von Sozialsadismus zu durchleben. Sie mußte aufstehen und im Zimmer auf und ab gehen, so empört machte sie das. Sie holte das Handy und begann Markus zu texten, ob er mit ihr am nächsten Tag zur Polizei mitkommen könne und ihr bei der Anzeige von diesem Sven Mitterer beizustehen. Da läutete das Telefon. Auf dem Display war die Vorwahl der USA zu sehen. Meran rief an. Vroni zögerte.

Diese Folge ist Sanaa und Hajar in Marokko stellvertretend für alle Personen gewidment, die ihr Geschlecht selbstbestimmt leben wollen. Die beiden Teenager wurden beim Küssen auf einem Dachgarten fotografiert. Die Fotos von den jungen Frauen wurden einer der Familien zugespiel. Die Familie benachrichtigte die Polizei. Sanaa und Hajar wurden noch am selben Tag verhaftet und sitzen in Untersuchungshaft. Morgen, Freitag, 4. November wird ein Gericht über sie urteilen. Unter dem Artikel 489 des Strafgesetzes erwarten sie Strafen von 6 Monaten bis 3 Jahre für „unnatürliche Akte zwischen Personen des gleichen Geschlechts“.

***

So wird das Leben. Dreizehnte Folge.

Die Vroni hatte begonnen, wieder in die Nationalbibliothek zu gehen und dort zu lernen. Auf dem Weg von der Bibliothek zum Institut im alten AKH hinüber sah sie, wie ein Panzer von einem Tieflaster heruntergefahren wurde. Der Panzer wurde neben das Burgtheater gefahren, und Vroni erinnerte sich, daß die Ringstraße ja als Aufmarschstrecke für das Militär geplant worden war. Der Kaiser verdankte seine Thronbesteigung schließlich den Ereignissen des Jahres 1848, und die Angst vor der Revolution lag von da an allem seinem Handeln zugrunde.

Vroni blieb stehen und schaute noch zu, wie ein Hubschrauber auf einem Tieflaster geliefert und zu den Panzern neben das Burgtheater gestellt wurde.

In den Medien war zum Nationalfeiertag nur gemeldet worden, daß die Angelobung der Soldaten diesmal ohne Bundespräsidenten stattfinden müsse, und es wurde nicht gesagt, daß es die Nationalratspräsidentin sein würde, die den Soldaten den Eid abnehmen würde. Das war sicherlich, weil man sich das von einer Frau nicht vorstellen wollte.

Die Vroni ging dann weiter zum Institut. Sie wollte in der Bibliothek da noch ein Buch bestellen und danach den Toni im AKH im Café Klinik treffen.

Die Vroni dachte, daß die Panzer und diese Transporthubschrauber schon sehr groß gegen das Burgtheater ausgesehen hatten. So mußte das damals in Budapest ausgesehen haben, dachte Vroni. Es war gerade der Jahrestag des Ungarnaufstands im Jahr 1956 gefeiert worden, und die Bilder von damals mit den russischen Panzern mitten in Budapest waren überall zu sehen gewesen. In Ungarn war ein Kampf darüber entbrannt, welche Partei sich diese Volkserhebung anrechnen durfte. In Österreich hatte man sich nur an die Willkommenskultur erinnert, mit der die Ungarnflüchtlinge empfangen worden waren. Aber das waren „weiße“, antikommunistische Flüchtende gewesen, fiel Vroni ein. Die hatte das Schicksal ereilt, das sich die Österreicher und Österreicherinnen gerade mit dem Staatsvertrag erspart hatten. Die heutigen Flüchtenden. Vroni mußte einer Gruppe als Zombies und Hexen verkleideten Kindergartenkindern ausweichen. Die heutigen Flüchtenden waren einfach nicht „weiß“ genug, dachte sie. Wenn sie an Trump dachte und dann an den Höflein. Denen ging es doch nur darum, so viele „weiße“ Babys wie möglich in die Welt zu zerren. Die hatten immer noch eine Staatsvorstellung wie die Kaiserin Maria Theresia im Barock, bei der es darum ging, so viele Staatsbürger wie möglich zu produzieren. Damals war es um das Kanonenfutter für die imperialen Kriege gegangen. Was hatte der Höflein vor. Die Tante Roswitha hatte gesagt, daß es auf Krieg zuginge und daß man sich einmal anschauen müsse, wie oft der Strache von Bürgerkrieg reden würde. „Wer vom Krieg redet, der führt schon Krieg.“ hatte die Tante Roswitha gemurmelt, und die Vroni hatte den Kopf geschüttelt über so viel Pessimismus. Aber die Panzer und wie die Polizisten und die Soldaten miteinander so plaudernd herumgestanden hatten, da war ihr das plötzlich real geworden. Sie hatte sich gut vorstellen können,

wie die Soldaten auf die Panzer kletterten und die Polizisten sich zu einer Reihe formierten. Die Zuschauenden wurden von den Polizisten zusammengedrängt, und die Panzer fuhren auf den Ring und stoppten den Verkehr. Oder die Panzer fuhren auf dem Reitweg zwischen den Bäumen zum Parlament und umstellten es. „Frühjahrsparade“ fiel ihr ein. Das war einer dieser Filme aus dem Austrofaschismus, der in Deutschland nicht gespielt werden sollte, weil der Hauptdarstellerin Franziska Gaal vorgeworfen worden war, nicht arisch genug zu sein. Robert Stolz hatte 1934 einen Marsch für den Film geschrieben, von dem mittlerweile alle glaubten, er wäre aus der Monarchie und die echten Soldaten wären in der echten Frühjahrsparade vor dem echten Kaiser nach diesem Marsch im echten österreichischen Paradeschritt defiliert. Vroni hatte eine Lehrveranstaltung über das Film-Österreich der Jahre bis 1968 besucht, und da war lange über den Unterschied zwischen dem deutschen Stechschritt und dem österreichischen Paradeschritt geredet worden. Dabei mußte der Soldat in der Habt-Acht-Stellung den aufrechten Körper vorneigen, die Ferse abheben und das Bein mit nach unten gestreckter Spitze heben und den Fuß mit der ganzen Sohle aufsetzen. Die Vroni konnte sich noch erinnern, daß die Vorlage des Oberkörpers wichtig war und daß nur immer halbe Schrittlängen gegangen werden durften. Sie waren auf den Gang im Institut hinausgegangen und hatten dieses Gehen ausprobiert.

Im ersten Hof vom alten AKH mußte die Vroni dann stehen bleiben. Sie stand vor der Tür zum Aufgang zum Institut für Zeitgeschichte und konnte nicht weiter gehen. Sie mußte an der Tür vorbeigehen und gleich nach links zum Ausgang aus dem Hof abbiegen. Sie hatte plötzlich schreckliche Angst, diesen Sven Mitterer zu treffen. Sie stellte sich vor, der säße in der Bibliothek und schaute sie verächtlich an. Die Vroni konnte sich mit einem Mal ganz genau an diesen Mann erinnern und wie er den Rucksack für sie nicht vom Sessel nehmen hatte wollen, obwohl kein einziger Platz mehr frei war. Sie mußte sich vorstellen, wie er mit diesem arroganten Blick ihre Hand streifte, um zu sehen, wie es um ihre Verletzung stand, die er ihr zugefügt hatte. Die Vroni konnte sich sehen, wie sie diesem Blick folgend dann wieder ihn ansehen mußte und daß sie dann eigentlich die Polizei holen mußte. Und das konnte sie nicht. Dazu war sie nicht fähig, und sie fühlte sich wie gelähmt.

Sie ging über die Spitalgasse und bog in die Lazarettgasse ein. Warum hatte sie keine Wut. Warum bekam sie keine Wut. Warum stieg kein Zorn auf. Wieso hatte sie immer noch Angst. War das so einfach, sie in eine derartige Ohnmacht zu treiben.

Sie setzte sich ins Café Klinik und starrte vor sich hin. „Vroni. Vroni.“ Ihr Name wurde gerufen. Der Toni saß in der Ecke hinten. Die Kristi war bei ihm und der Markus.

Die Vroni mußte einen Augenblick sitzen bleiben. Was machte die Kristi schon wieder da? Und wie kam der Markus hierher?

Sie tat so, als wäre ihr etwas zu Boden gefallen. Sie beugte sich unter den Tisch und holte tief Luft. Dann richtete sie sich auf und ging zu den anderen. Denen war ihr Zögern gar nicht aufgefallen.

„Hast du schon gehört, wie das mit Naeem und Pant ausgegangen ist?“ Vroni schüttelte den Kopf. Markus sah sie fragend an, aber sie setzte sich neben Toni. Die Kristi saß da und lachte. „Das war alles ein Mißverständnis. Stell dir vor. Die zwei sind jetzt Lehrlinge bei dem Tischler Soyka. Du weißt schon. Der grantige ältere Mann, der immer die Polizei holt, wenn jemand auf seinem Halteverbot parkt. Das hätten wir uns auch nicht gedacht. Aber der hat die zwei gefragt, ob sie nicht etwas Ordentliches machen wollen, und dann hat er sie gleich in die Werkstatt hineingeholt, und die sind ewig da geblieben.“ Und der Toni erzählte weiter. „Und weil der Pant nicht so gut Deutsch kann, hat er nur „Wir sind weg.“ auf den Zettel für die Prokesch geschrieben, und deshalb hat die geglaubt, die sind ganz weg.“ „Die Prokesch und der Soyka haben jedenfalls das erste Mal in den 30 Jahren, die sie in dem Haus sind, miteinander geredet.“ sagte die Kristi.

Die Kellnerin kam und Vroni bestellte Pfefferminztee. Sie getraute sich keinen Kaffee zu trinken. Nach Kaffee wurde sie immer noch unruhiger. Markus lehnte sich über den Tisch ihr zu und fragte, „Was ist denn los mit dir? Es ist doch etwas. Oder?“ Die Vroni seufzte. Sie wollte nicht erzählen, daß sie aus neurotischen Gründen nicht in ihr Institut gehen hatte können, deshalb fragte sie, ob die anderen die Panzer auf dem Ring gesehen hätten. Aber die waren alle mit der U-Bahn gekommen. „Was gelobt so ein Soldat eigentlich?“ fragte Vroni. „Gute Frage.“ sagte Kristi. „Was verteidigen die denn eigentlich?“ Der Toni googelte schon. „Na.“ sagte er dann. „Das ist sehr allgemein.“ und dann las er vor:

„Ich gelobe, mein Vaterland, die Republik Österreich, und sein Volk zu schützen und mit der Waffe zu verteidigen. Ich gelobe, den Gesetzten und den gesetzmäßigen Behörden Treue und Gehorsam zu leisten, alle Befehle meiner Vorgesetzten pünktlich und genau zu befolgen und mit allen meinen Kräften der Republik Österreich und dem österreichischen Volke zu dienen.“

„So wahr mir Gott helfe und ich Höflein heiße.“ ergänzte Markus und grinste. Alle lachten. Der Bundespräsidentschaftskandidat Höflein warb mit diesem Satz auf seinen neuen Wahlplakaten. „Aber da wird nichts darüber gesagt, was für eine Staatsform diese Republik hat.“ sagte Vroni. „Nein.“ sagte der Toni. „Das könnte auch der reine Faschistenstaat sein und die armen Teufel müßten dann den glatt verteidigen.“ „Wollen wir ins Kino gehen.“ fragte Kristi und schaute fragend. „Wir müssen uns von diesem ganzen Zeugs auch einmal erholen.“

Vronis handy piepste. Vroni schaute nach und sah, daß das eine Nachricht von Meran war. Sie ging auf die Toilette, um die Nachricht nicht vor den anderen lesen zu müssen. Meran wollte sie um 10.00 Uhr am Abend ihrer Zeit anrufen. Ob sie erreichbar sein würde. Vroni wußte nicht, was sie tun sollte. Auf den Anruf warten und mit diesem unerreichbaren Mann sprechen oder mit einem erreichbaren Mann ins Kino gehen?

Diese Folge ist allen weiblichen Parlamentsabgeordneten auf der ganzen Welt gewidmet. In einer Studie der Inter-Parliamentary Union (IPU) beklagten 80 % der weiblichen Abgeordneten aus 39 Staaten sexistisch motivierter Gewalt in ihrem jeweiligen Parlament selbst und noch dazu von ihren eigenen Parteien ausgesetzt zu sein. Im Internet erhalten diese Politikerinnen doppelt so viele Haßpostings wie ihre Kollegen. 40% der Politikerinnen gaben an, mit Tod, Vergewaltigung oder Entführung bedroht worden zu sein. Selbst die Kinder der Politkerinnen bekamen Todes- oder Entführungsdrohungen. Nach wie vor geht es darum, den Raum der Politik für Frauen zu reklamieren. Denn. Demokratie gibt es erst nach erreichter Geschlechtergerechtigkeit.

***

So wird das Leben. Zwölfte Folge.

Die Kristi hatte Detektiv gespielt und alles herausgefunden.

Vroni war wieder nach Wien zurückgekommen, und sie trafen einander alle bei der Mia in der Wohnung. Die Kristi hatte auch den Markus dazugeholt. Markus war ja ein Zeuge. Er hatte diesen Mann beim Weglaufen gesehen, und die Angelegenheit mit dem Schaden vom Tragesessel war ja weiter ein Problem. Das Rote Kreuz wollte 800,- Euro wegen mutwilliger Sachbeschädigung von Markus und seinem Kollegen.

Die Vroni setzte sich in den grauen Fauteuil, in dem sonst Mias Mutter saß. Vroni wollte plötzlich neben niemandem sitzen und neben Markus schon gar nicht. Sie konnte ihn nicht einmal richtig anschauen. Die Vroni dachte, das käme davon, daß sie so viel mit ihm getextet hatte und daß sie jetzt gar nicht wußte, wie sie mit der Person selber reden sollte. Markus war aber schon vor ihr da gewesen und hatte mit Mia in der Küche geredet. Da hatte sie ihm so zuwinken können und sich dann schnell in den Fauteuil geflüchtet.

Die Kristi brachte eine Flasche Prosecco vom Hofer mit. „Wir müssen das feiern.“ sagte sie und schenkte allen ein. „Wie hast du das denn gemacht?“ fragte Vroni. „Eigentlich hast du ja schon alles herausgefunden gehabt, Vroni.“ meinte Mia. Die Kristi begann zu lachen. „Wißt ihr. Ich habe es nur einfach so gemacht, wie ich es bei Tom Turbo gelernt habe.“ Da mußten alle lachen.

Tom Turbo war eine Detektivserie im Kinderfernsehen in den 90er Jahren gewesen. Tom Turbo war ein Wunderfahrrad, das 111 Tricks gekonnt hatte und vom Autor Thomas Brezina selbst gespielt worden war.

„Gibt es das eigentlich immer noch.“ fragte Markus und setzte sich auf die Armlehne vom Fauteuil neben die Vroni. Aber niemand wußte das. Niemand schaute noch fern. „Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal ferngesehen habe.“ sagte Kristi. „Ich bin aufgeblieben und habe mir die Trump-Debatten angeschaut.“ sagte Vroni. Markus legte den Arm um ihre Schulter. „Da bist du ja eine Märtyrerin.“ meinte er. „Aber da seht ihr es. Wir sagen „Trump-Debatte“ und damit bekommt dieser Typ noch mehr Bedeutung.“ warf Mia ein. „Das hat die Vroni nicht gemeint.“ entgegnete Markus. Die Vroni setzte sich auf, und Markus mußte seinen Arm von ihrer Schulter nehmen. „Da hast du vollkommen recht.“ sagte Vroni zu Mia. „Wir müssen noch viel besser aufpassen, was wir sagen. Aber was ich wissen will, muß ich jetzt zur Polizei gehen.“

„Also. Paßt auf.“ lachte die Kristi. „Ich bin einfach zu dieser Burschenschaft gegangen und habe gesagt, daß ich überlege, Mitglied zu werden. Da haben die mir das Vereinslokal gezeigt und gesagt, daß sie Mädchen nicht in die Burschenschaft aufnehmen. Ja. Der hat „Mädchen“ gesagt. Ist das nicht komisch. Ich habe befürchtet, der sagt „Fräulein“ zu mir und ich bekomme einen Lachkrampf. Dann hat der eine gesagt, ich könnte doch Couleurdame werden und den Gedanken so unterstützen. Ja. Lacht nicht. Er hat, „Gedanken“ gesagt. Also da habe ich wiederum gesagt, daß ich den „Gedanken“ unterstützen möchte, weil ich total gegen diesen Zivildienst bin. Dann habe ich über die Zivildiener schlecht geredet. Ihr wißt schon. Feiglinge. Schmarotzer. Warmduscher und so. Da hat dieser Diarmaid. Ja. Das ist der Verbindungsname von dem. Er hat es mir aufgeschrieben. Diarmaid ist ein Tristan, der seine Vasallentreue über die Liebe stellt und seine Isolde für seinen Lehensherr verläßt. Er schläft auch nicht mit ihr, sondern legt das Schwert zwischen sie beide. Und da bleibt es auch.“ Kristi grinste bedeutungsvoll.

„Das kann doch nicht sein.“ rief Mia. Vroni lehnte sich wieder zurück, so daß der Arm von Markus wieder um ihre Schultern lag. Die Kristi zuckte mit den Schultern. „Bitte. Ich kann nichts dafür. Wenn sich einer so nennt und das so meint. Mehr Beweis für eine autoritäre Persönlichkeit brauche ich nicht. Aber dann. Wartet. Dann. Ich habe gesagt, daß ich einen Kollegen in der Zeitgeschichte habe, der mich auf den Gedanken gebracht hat, den „Gedanken“ zu unterstützen. Aber daß mir sein Name jetzt nicht einfällt. Da hat dieser Diarmaid so gefragt. „Zeitgeschichte? Zeitgeschichte? Das muß der Alf sein. Mitterer heißt der mit zivilem Namen. Sven Mitterer. Alf ist sein Verbindungsname. “ Ich habe mich sehr gewundert. Ich habe gedacht, diese Namen sind ein Geheimnis. Aber ich habe gleich noch gefragt, ob es sein kann, daß dieser Alf mit einem „alten Herrn“ zu tun hat, der Maximus heißt, und da hat dieser Tristanersatz genickt. Ich bin dann rasch weg. Es riecht da schrecklich. Die Holzböden sind mit Bier eingeweicht. Jedenfalls riecht es irgendwie so.“

„Dann trinken wir jetzt einmal auf dich. Kristi.“ Mia hob ihr Glas. Vroni saß da und konnte nichts trinken. „Ich habe das totale Stockholmsyndrom.“ sagte sie. „Ich sollte doch eigentlich wütend sein und mich freuen, daß der jetzt bestraft werden kann. Aber nein. Ich fürchte mich davor.“ „Das ist doch normal.“ sagte Mia. „Aber es wird dir helfen. Du wirst sehen.“ Die Vroni schüttelte den Kopf.

Markus stand auf und ging ans Fenster. „Ich kann es nicht glauben.“ sagte er. „Das ist alles so. So.“ Er rang nach Worten. „Unglaublich?“ fragte Kristi. „Ja.“ seufzte Markus. Er schaute zum Fenster hinaus. „Es ist eben so. In unserer Gesellschaft wird Friedlichkeit immer nur bestraft.“ „Ich meine das nicht so.“ rief Vroni. „Ich werde den schon anzeigen. Aber es. Es. Kostet.“ Vroni wußte nicht weiter. Markus kam zum Fauteuil zurück und setzte sich wieder auf die Armlehne. „Ich habe nicht dich gemeint. Ich habe das allgemein gemeint. Ihr wißt, daß ich keinen Waffenschein bekommen kann, weil ich Zivildiener bin.“ Er schaute sich fragend um.

„Nein. Das weiß ich nicht.“ sagte Mia. Kristi schüttelte den Kopf. „Das ist ja. Das ist ja…“ „Ja. Kastration. Sag es.“ rief Markus. „Eine friedliche Person wird entmachtet. Nicht, daß ich eine Waffe haben will. Aber wenn ich einem Bundespräsidentenkandidaten gegenüberstehe, der immer eine Waffe in der Hosentasche mit sich herumträgt, dann will ich nicht wehrlos sein.“

„Stimmt das wirklich.“ Mia war noch immer verwundert. „Das heißt ja wirklich, daß die Männer in die, mit der Waffe und die, ohne Waffe eingeteilt werden.“ „Richtig.“ bestätigte Markus. „Wir leben in einem Land mit Waffenmonopol für die Gewalttätigen. Friedliche Menschen, die sich ihrer Verantwortung bewußt sind, die werden ausgeschlossen. Ich könnte ja auch nicht zur Polizei gehen. Ich müßte zuerst alles widerrufen, was ich gegen den Dienst mit der Waffe im Kriegsfall gesagt habe.“ Vroni mischte sich ein. „Das mit der Pistole in der Tasche. Das ist sowieso schon ein Grund gegen den Höflein zu sein. Haßt der die Leute so, zu denen er spricht. Oder was ist das. Ein Machtgefühl, jeden, mit dem er zu tun hat, niederschießen zu können. Aber in Österreich. Die Brutalisierung ist hier immer von oben gekommen.“

„Aber was tun wir jetzt wirklich.“ Mia schenkte Prosecco nach. „Was würde Tom Turbo machen?“ fragte Vroni. „Wir brauchen den 112. Trick.“ „Ja.“ sagte Kristi. „Wir sollten uns den Kerl zuerst einmal anschauen. Glaubst du nicht. Ich meine. Wir können doch noch nicht zur Polizei gehen. Wir sollten genau wissen, ob der das war. Oder?“

Die Vroni saß ganz still. Sie sah vor sich, wie das alles ablaufen würde. Die Polizeistation. Die skeptischen Fragen. Das Herumwarten. „Ich weiß jetzt, was es heißt, verzagt zu sein.“ sagte sie vor sich hin. Markus stand wieder auf und ging zum Fenster. Da läutete es. Mia ging zur Tür. Frau Prokesch kam hereingelaufen. „Meine Buben sind weg.“ sagte sie und schaute alle der Reihe nach an. „Versteht ihr. Meine Buben sind weg.“ und dann begann sie zu weinen.

Diese Folge ist Natascha Maria Kampusch stelltvertretend für alle Personen gewidmet, denen die Gründe für ihre Flucht in einem kulturell tief eingelassenen Einverständnis mit Gewalt und ihrer Anwendung nicht anerkannt werden. Natascha Maria Kampusch war von einem Nachrichtentechniker entführt worden. Damals war sie 10 Jahre alt. Sie wurde 8 Jahre in einem Keller gefangen gehalten und sexuell genötigt. Auf Wikipedia wird die Entführung und die vollkommene Auslieferung Natascha Maria Kampuschs an ihren Entführer „Freiheitsentzug“ genannt. Mit diesem Wort wird angedeutet, daß alles ja vielleicht nicht so „schlimm“ gewesen war, wenn die Freiheit nur entzogen und nicht geraubt wurde. Es muß darüber nachgedacht werden, welche Komplizenschaft sich darin ausdrückt, wenn die Erzählung des Opfers über den Täter und die Tat so prinzipiell angezweifelt werden kann und damit dem Täter und der Tat noch einmal zur Wirkung verholfen wird. Es liegt ja schon eine grammatikalische Verstärkung der Täterschaft im Aktiv vor und wir sollten überlegen, auch noch ganz andere Sehweisen in der Grammatik zu entwickeln, als sich mit dem einfachen Gegensatz von Aktiv und Passiv zu begnügen. Es ginge darum, die Gewalt des Subjekt-Prädikat-Objekt Satzes im Aktiv aufzulösen und damit andere Erzählweisen und demokratisches Sprechen herzustellen.

***

So wird das Leben. Elfte Folge.

Der Toni kam ein Wochenende nach Klagenfurt. Er hatte seine Jahresprüfung bestanden, aber das Semester hatte begonnen. Vroni und er mußten wieder nach Wien. Die Vroni bereute, in Wien inskribiert zu haben, aber es ließ sich nichts mehr ändern. Die Großmutter sollte im Krankenhaus bald wieder auf eine normale Station kommen können. In den Tests konnten keine MRSA-Keime mehr nachgewiesen werden. Die Tante Roswitha suchte schon nach einem Wohnheim für ihre Schwester, in dem sie dann nach dem Spital leben konnte. Die Tante beklagte den rechtlichen Zustand, der immer mehr Verantwortung an die Konsumenten und Betroffenen abwälzte, denen aber keine rechtlichen Möglichkeiten einräumte, sich zu wehren. „Das Spital gehört geklagt wegen dieser Infektion.“ sagte sie immer wieder. „Und dann Schmerzensgeld vom Land Kärnten für den Polizeitransport.“

Der Toni ging jeden Tag mountainbiken, aber die Vroni konnte wegen der Hand noch nicht mit. Beim Sonntagsfrühstück bei der Tante Roswitha meinte der Toni, die Vroni solle doch eine Psychotherapie machen. Nach dem Opferschutzgesetz stünde ihr das auch zu, und die Kristi hätte auch gemeint, daß die Vroni Hilfe bräuchte. Die Tante Roswitha fragte den Toni, „Ist das deine Freundin?“, und die Vroni sagte, „Noch nicht. Oder?“

Der Toni fuhr dann mit dem Mountainbike weg, und Vroni setzte sich auf die Veranda und las die Kronenzeitung. Sie wollten später alle gemeinsam ins Krankenhaus gehen und die Großmutter besuchen.

In der Kronenzeitung in der Rubrik „Lust und Liebe“ las sie, daß Betrug auch nur mit Emotionen möglich wäre. Die Vroni dachte gleich an den Toni und die Kristi. Sie wollte nicht, daß der Toni sich mit einer anderen Frau über ihre Probleme beratschlagte. Der Toni war ihr doch ihr Zwillingsbruder. „Gefühlsresourcen sind begrenzt!“ stand da. Das konnte Vroni sich aber auch nicht vorstellen. Sie fand die Kristi nett. Sie wollte nur nicht, daß sie sich zu sehr in ihre Angelegenheiten einmischte. Dann aber fiel ihr ein, daß sie das doch auch machte. Sie beriet sich mit Markus und mit dem Meran nicht. Aber mit ihm ging das ja gar nicht. Der Meran antwortete auf ihre langen E-mails nur ganz kurz und manchmal schrieb er überhaupt nur „Kisses“ und „xoxoxo“. Aber das hätte auch der Jim aus New York schreiben können. Der war ein Cousin von ihrem Vater und so etwas wie ein Onkel.

In der Sonntagsbeilage der Kronenzeitung war dann viel über die Muttergottes geschrieben. Im Horoskop stand unter „Krebs“, daß nachhaltige Veränderungen nur von ihr selbst ausgehen könnten und im politischen Teil wurde über ein Wahlsystem im Internet geschrieben.

Da waren die beiden Kandidaten wieder einmal zu sehen. Der Wahlkampf war ja aus der Öffentlichkeit verschwunden. Es waren kaum Wahlplakate zu sehen, und in den Medien war nur der Kampf Hillary Clinton gegen Donald Trump zu beobachten. In Österreich wurde über vorgezogene Parlamentswahlen gerätselt. Die ÖVP rechne sich bessere Chancen aus, hieß es. Die Tante Roswitha hatte schon gleich gesagt, daß die nur aus der Koalition mit den Roten herauswollten und wieder mit der FPÖ zusammengehen. Vroni fand das lustig, daß sie das Wort zusammengehen für die politischen Parteien verwendete. In der 3. Klasse Mittelschule hatte sie der Maurer Kevin gefragt, ob sie mit ihm „zusammengehen“ wollte, und sie hatte gesagt, daß sie ja schon ihren Bruder habe.

Auf den Bildern in der Kronenzeitung stand der grüne Kandidat mit hängenden Armen da. Das schaute hilflos aus. Der Höflein hielt seine Hände vorne übereinander und grinste mit so einem schiefgelegten Kopf. Das schaute kokett aus. Vroni fand es ganz normal, daß man im Internet abstimmen können sollte. Die Tante Roswitha konnte sich das nicht vorstellen. Dabei benutzte die Tante Roswitha das Internet selber viel mehr als die Vroni. Die Tante Roswitha bestellte ihre Lebensmittal im Internet und ließ sich alles nach Hause liefern. Für alte Leute, sagte sie, da wäre das alles eine richtige Erleichterung.

Die Vroni hatte zugehört gehabt, wie die Tante sich bei der Krankenkasse wegen ihrer ELGA-Abmeldung telefonisch erkundigt hatte. Dafür hatte die Tante sich schwerhörig gestellt und sich alles erklären lassen. Vroni war von ELGA, der elektronischen Gesundheitsakte nicht abgemeldet. Sie dachte, daß es vielleicht hiflreich sein könnte, daß ihre medizinischen Daten jederzeit zur Verfügung standen. Aber die Tante Roswitha sagte, daß sie sich abmelde, damit die Ärzte nicht einfach nur die Fehler der Ärzte davor weitermachen konnten. „Und Vroni.“ hatte sie gesagt. „Wenn du eine Psychotherapie machst wegen des Überfalls, dann wird jedes Symptom, das du hast, psychosomatisch ausgelegt werden. So ein Vorfall. Der ist dann festgeschrieben, und du wirst das nie wieder los. Ich kenne das. Nach dem Tod vom Michi haben sie mir alle gesagt, daß es nur die Trauer ist, und dann habe ich ja doch eine kalte Lungenentzündung gehabt und bin so lange im Spital gelegen. Man muß sich heute eben selbst behandeln. Aber dafür brauche ich keine elektronische Überwachung von mir. Und ich sag dir eins.“ hatte die Tante gemeint. „Wenn es so käme, wie die FPÖ das will, daß es nur mehr eine Krankenkassa gibt und die nur mehr für die Inländer gilt. Dann sind wir alle abgestempelt und ausgeliefert. Was glaubst du, was das dann für ein Datenverbund sein wird. Ungeheuerlich, wäre das.“

Bei den Adabei-Meldungen in der Sonntagskrone fand Vroni Fotos von der Hochzeit von H.C.Strache und seiner sehr jungen Freundin. Es war eine Trachtenhochzeit gewesen und Strache hatte kurze Lederhosen angehabt. Die Braut hatte ein weißes Brokatdirndl getragen und Orangensaft getrunken. Ob da vielleicht Nachwuchs erwartete würde, fragte der Kolumnist. Vroni fragte sich, warum dieser Mann überhaupt geheiratet hatte, und dann noch dazu so kitschig. Die FPÖ lehnte ja den österreichischen Staat ab und wollte nach der „Durchforstung“ aller Bereiche eine neue Staatsform einführen. Wie konnte der Vorsitzende dieser Partei vor einem österreichischen Beamten oder einer Beamtin „Ja“ sagen. Daß nicht kirchlich geheiratet worden war, das war wegen der antiklerikalen Einstellung. Aber das Standesamt. Das hieß ja, daß man die Autorität dieses Staats anerkannte. „Und sich das Jawort zu geben, zeigt der ganzen Welt, daß man bedingungslos zueinander steht.“ sagte der Bräutigam. Vroni mußte lachen. „Sich das Jawort zu geben.“ Das hieß es sich selber zu geben und nicht einander. Das war dann ein Ja, das nichts galt. Aber dieser Mann war ja auch schon einmal verheiratet gewesen, und diese erste Frau war in die Wahlkämpfe für ihn gezogen und hatte in Fernsehdiskussionen für ihn argumentiert.

Vroni war auf der Veranda langweilig. Sie zählte die Anzeigen auf Seite 69. Von den 43 Sexanzeigen mit Foto waren 31 für „Asiagirls“. „Neuimportiert“ stand da. Oder es hieß, „Neue geile Asiagirls eingetroffen.“ Vroni wußte, daß Sexarbeiterinnen sofort einen vorläufigen Aufenthalt bekamen. Aber sie mußten Sexarbeiterinnen bleiben. Wenn sie das nicht mehr machen wollten, mußten sie das Land verlassen. Das war das Modell, daß die Höflein-Partei für alle Personen anwenden wollte, die sie Ausländer nannten. Die Tante Roswitha hatte gesagt, daß es aber gar nicht um die sogenannten Ausländer ginge. Die Frage um den Aufenthalt würde deshalb aufgebauscht, damit man dann ein Instrument gegen die eigenen Leute in der Hand habe. Der prekäre Aufenthalt für die anderen würde sehr schnell zum prekären Aufenthalt für alle gemacht werden, und dann gäbe es wieder vertriebene Personen, weil man dann die Kritiker und Kritikerinnen aus dem Land jagen könne. Der Toni hatte die Tante Roswitha eine Schwarzmalerin genannt, aber die Tante hatte gesagt, „Hast du dir vorstellen können, daß man sich gegen die Polizei wehren muß, wie bei deiner Großmutter?“ Der Toni hatte diese Geschichte gar nicht richtig begriffen gehabt. „Weil du nie richtig zuhörst. Wie willst du das denn mit deinen Patienten machen?“ fragte die Tante. Der Toni hatte gelacht und hatte sein Mountainbike geholt. „Willst du nicht die Sprechstundenhilfe bei mir werden.“ hatte er gerufen, und die Tante hatte lachen müssen.

Die Frage wegen der Psychotherapie ließ Vroni dann aber keine Ruhe. Sie fürchtete sich auch vor den Folgen und wie das sein würde, wenn sie den Kriminellen bei der Polizei anzeigen sollte. Sie hatte Angst davor, diesen Mann wieder sehen zu müssen. Aber Vroni konnte das nicht mit der Tante besprechen. Die Tante hatte sich hingelegt und ruhte sich aus. Die Mama war bei einem Seminar über Personalführung auf dem Semmering. Mit Kristi wollte sie jetzt einmal nicht reden. Vroni textete dem Markus, ob er ihr einen Rat geben könnte. Der Markus rief sie gleich an, und sie redeten lange. In das Gespräch hinein klopfte Meran an. Vroni verwechselte die Tasten und beendete unabsichtlich beide Gespräche. Vroni schaltete dann ihr handy ab und überlegte. Sie schaute auf die Herbstblumen im Garten von der Tante Roswitha und wußte nicht, wen von den beiden Männern sie als ersten anrufen sollte.

Diese Folge ist dem saudischen Blogger und politischen Aktivisten Raif Badawi stellvertretend für alle inhaftierten und gequälten Personen gewidmet, die den jeweiligen Regimes nicht genehm sind. 

***

So wird das Leben. Zehnte Folge.

Vroni blieb in Klagenfurt. Sie wohnte in der Wohnung der Großmutter und ging jeden Tag ins Spital. Bevor sie zur Großmutter in die Abteilung durfte, mußte sie sich umziehen, als würde sie in den Operationssaal gehen. Sie durfte mit der Großmutter nur mit Mundschutz sprechen. Aber Vroni konnte die Großmutter kaum anschauen. Von ihrem Genick ging eine Traube von Schläuchen in den buntesten Farben weg, und Vroni mußte immer auf diese Schläuche starren und wie sie sich schlängelten, wenn die Großmutter sich bewegte.

Die Großmutter war schwach und wollte nicht viel sprechen. Vroni saß an ihrem Bett. Zuerst hatte Vroni ihr die Hand halten wollen, aber die Großmutter hatte ihre Hand weggezogen. Vroni hatte nicht gleich begriffen gehabt, daß die Berührung ihrer Großmutter schmerzhaft sein konnte, und war beleidigt gewesen. Dann aber setzte sie sich in den Sessel am Bett. Das erste Mal hatte sie dann versucht, der Großmutter die Zeitung vorzulesen. Weil Vroni die Großmutter nicht aufregen wollte, las sie ihr nur die guten Nachrichten vor. In Kärnten war die Pleitegefahr nicht mehr so dringlich. Die 11 Milliarden Euro Schulden bei deutschen Banken und Versicherern sollten mit einem Schuldenschnitt zurückgekauft werden. Die Gläubiger schienen diesem Schuldenschnitt zugestimmt zu haben. Die Großmutter mußte unter ihren Sauerstoffschlauch lächeln. „Dann brauchen die vielleicht nicht mehr die Polizei, um Leute wie mich aus den Spitälern auszuschaffen.“ Dann las Vroni der Großmutter das Ergebnis der Volksbefragung in Ungarn vor und daß Orbán sein Ziel nicht erreicht hatte. Die Großmutter hob ihre Hand und ließ sie wieder fallen. „Da waren die Falschen faul.“ sagte sie. Dann begann Vroni den Artikel über Kolumbien und die Volksabstimmung da zu lesen. Sie wollte gleich wieder aufhören, aber die Großmutter sagte, „Weiter.“ Als Vroni dann vorgelesen hatte, daß die Volksabstimmung gegen den Friedensvertrag mit der Farc ausgegangen war, da seufzte die Großmutter. „Das ist eine Tragödie. Das ist jetzt so lange gegangen. Ich habe da einen Bericht gelesen. Von einer Französin, die von denen gefangen gehalten worden war. Das war genauso wie die Berichte von den Entführten in Italien. Aber die waren wegen des Lösegelds entführt worden und sind manchmal zurückgekommen. Aber so verändert. So verändert.“

Vroni beschloß, das mit der Zeitung zu lassen. Die Großmutter hatte noch lange „So verändert. So verändert.“ vor sich hin gesagt, und Vroni hatte Angst bekommen.

Zum Abendessen fuhr Vroni mit dem Bus zur Tante Roswitha. Die war schon immer eine Vegetarierin gewesen. Sie war deshalb von der ganzen Familie ausgelacht worden, und nur der Onkel Franz hatte zu ihr gehalten. Der Onkel Franz war ihr Halbbruder und war sonst immer den ganzen Sommer bei ihr am See gewesen. Die Tante Roswitha wohnte in einem winzigen Holzhäuschen mit einem riesigen Garten in einem Dorf am See. Die Tante machte sich große Sorgen wegen der starken Stürme, die im Herbst zu erwarten waren. Sie dachte, die hohen Fichten könnten diesen Stürmen nicht mehr standhalten und auf das Nachbargrundstück stürzen. Das Nachbargrundstück gehörte dem Bürgermeister, und der wollte einen neuen Bebauungsplan durchsetzen, damit er dieses Grundstück in Parzellen aufteilen und verkaufen könnte. Die Tante Roswitha war aber in die Gemeinderatssitzung gegangen und hatte gesagt, daß das alles korrupt sei und daß sie die Kleine Zeitung von diesen Vorgängen verständigen würde. Es hatten zwar alle Gemeinderäte gelacht und gesagt, daß die Kleine Zeitung gar nicht genug Platz habe, einen so normalen Vorgang wie eine Umwidmung zu berichten. Aber es war dann doch nichts geschehen und beim alten Bebauungsplan geblieben. Wenn aber nun eine Fichte vom Sturm auf das Nachbargrundstück geworfen würde, dann hätte der Bürgermeister wieder ein Argument gegen sie. Vroni mußte an den Satz mit dem „Ausforsten“ denken.

Der Bürgermeister regierte mit einer Koalition von ÖVP und FPÖ, und es waren nur Männer im Gemeinderat. Die Frauen trafen einander im See-Café und schimpften auf die Politik. Sie hatten der Tante Roswitha dafür gratuliert, daß sie sich in den Gemeinderat getraut und es den Männern einmal gesagt hatte. Sie könnten ja gar nichts tun oder ändern, weil das alles ihre Ehemänner waren.

Die Tante Roswitha konnte das nicht verstehen. An einem Abend fragte sie Vroni, wie das mit ihr sei. Ob die Vroni einen Freund habe. Die Vroni wußte keine Antwort. Sie erzählte der Tante die Geschichte mit dem Meran. Die Tante nickte und fragte, „Und der andere?“ Vroni schaute fragend. „Du hast das jetzt so erzählt, als wäre das schon für dich vorbei.“ sagte die Tante. Da bekam Vroni einen großen Schreck, und sie beteuerte, daß es der Meran für sie sei. Die Tante nickte nur wieder und sagte, „Such dir nur einen, der dir gut tut.“

Vroni mußte dann immer gleich nach acht Uhr aufbrechen, um zum letzten Bus zu kommen. Die Tante hätte sie mit dem Auto zurückgebracht, aber Vroni wollte das nicht. Es war schon genug, daß die Tante für sie kochte und sie sich nur zum Essen hinsetzen mußte. Manchmal griff Vroni schon mit der rechten Hand zur Gabel. Die Hand schmerzte nicht mehr bei jeder Bewegung und Vroni begann die Verletzung zu vergessen. Dann wieder begann die Hand wieder zu klopfen, und Vroni mußte die Hand ins lauwarme Wasser legen und ganz ruhig halten. Vroni saß oft lange auf einem Sessel vor dem Waschbecken und schaute ihrer Hand beim Schweben im warmen Wasser zu.

Vroni merkte, daß die Tante sich bemühte wenn sie beim Abendessen saßen, nicht auf ihre Hand zu starren. Die Hand schillerte nicht mehr so stark blau und grün und braun wie in den Tagen nach der Verletzung. Aber es waren immer noch hellgrüngelbe Schatten am Daumenballen und außen am Rand. „Willst du nicht doch lieber hier schlafen.“ fragte die Tante dann. Aber Vroni konnte sie beruhigen. Vroni wollte in der Wohnung der Großmutter schlafen. Sie wollte all die Ängste hinter sich bringen und nicht mehr bei jedem Ton vor der Wohnungstür draußen erschrecken müssen. Die Tante verstand das.

Vroni las der Großmutter dann „Anna Karenina“ vor und las die Zeitung zum Kaffee. Donald Trump hatte sich über die Veteranen lustig gemacht, die an PTSD litten. Vroni dachte nach, ob sie das nun selbst auch hatte. Wenn sie darüber nachdachte, fiel ihr die Szene wieder ein. Wie der junge Mann sich die Schimütze hinaufschob und sie erschrocken ansah.

Vroni textete Markus, daß sie schon wieder so einen flashback gehabt hatte, und Markus textete zurück, daß er ihr helfen würde, in eine Therapie zu kommen. Ob sie ein bißchen Geld habe, um die Zeiten zu überbrücken, in denen wegen der Sparmaßnahmen die Krankenkasse die Therapie nicht übernehmen würde. Die Therapien hätten sich deshalb in Fleckerlteppiche verwandelt, und viele Leute könnten das nicht gut verkraften, nach drei Monaten gleich wieder eine Therapiepause haben zu müssen.

Dann sagte der Toni, daß er für zwei Tage nach Klagenfurt kommen könne. Da freute Vroni sich und textete dem Markus, „Bin glaube ich nur verstört. Hast du heute Dienst.“ Vronis Mutter wollte auch über das Wochenende kommen. Die Befunde der Großmutter begannen besser zu werden.

Es schien alles gut zu werden. Vroni ging in Klagenfurt und in der Umgebung viel spazieren. Die Wahlplakate waren vom Regen durchnäßt und lösten sich ab. In der Zeitung hatte Vroni gelesen, daß die FPÖ die Bestellung der Oberstrichter ändern wollte. Sie hatten begonnen, einzelne Oberstrichter anzuklagen. Die Tante Roswitha sagte dazu, „Man kann ein System immer mit sich selbst ruinieren.“

Vroni wäre am liebsten in Klagenfurt geblieben, aber Kristi textete immer wieder „Wir müssen etwas tun!“

Diese Folge ist allen Personen gewidmet, die an PTSD leiden.

So wird das Leben. Neunte Folge.

Wieder war alles anders geworden. Vronis und Tonis Großmutter war in Klagenfurt in ihrer Wohnung gestürzt und hatte sich das Becken gebrochen. In Klagenfurt, das war die Mutter von ihrem Vater, der ja schon tot war.

Die Mutter mußte nach Klagenfurt fahren und alles organisieren, und weil Vroni gerade nur lernte und ohnehin überall lernen konnte, mußte sie nach Klagenfurt kommen und der Mutter helfen. Die Mutter wollte alles so schnell wie möglich regeln, damit sie nicht zu lange von ihrem Arbeitsplatz fern bleiben mußte. Es war zwar der alte Intendant gewählt worden, aber alle sagten, daß er nach dieser Wiederwahl erst recht gezwungen sein würde, alles zu ändern und sich den Umständen anzupassen.

Mit „den Umständen“ war der mögliche Sieg Höfleins bei der Wahlwiederholung gemeint. Frau Prokesch hatte gesagt, daß sich schon der Verfassungsgerichtshof mit seiner Aufhebung der Wahl nach „diesen Umständen“ gerichtet hätte. Man hätte ja auch eine Neuauszählung der Stimmen auftragen können. Frau Fischer hatte nur gelacht, und Kristi hatte gemeint, daß das alles eine große Hosenscheißerei vor den Rechten wäre.

Der Toni hatte gleich gesagt, er könnte nicht nach Klagenfurt kommen. Der Toni konnte nur in der Bibliothek vom AKH in Wien lernen. Er durfte die SIP nachholen, weil er im Juni krank gewesen war, aber es gab nur einen Prüfungstermin. Toni hätte ein Jahr seines Studiums verloren, wenn er diesen Termin versäumt hätte. Vroni mußte das einsehen. Vroni war ja schon weiter in ihrem Studium. Der Toni hatte nach zwei Jahren von Chemie auf Medizin umgesattelt, und er hatte ohnehin ein schlechtes Gewissen wegen dieses Studienwechsels. Toni hatte nämlich seine Waisenpension deswegen verloren. Er betreibe sein Studium nicht ernsthaft und zielstrebig, war ihm von der Sozialversicherung vorgeworfen worden. Toni hatte nämlich immer nur die besten Noten auf alle Prüfungen auch gleich in der Medizin gehabt, aber die Mutter mußte ihn voll unterstützen. Vroni bekam ihre Waisenpension wegen des Tods des Vaters weiter, weil sie in der vorgeschriebenen Zeit weiterkam.

Vroni war dann froh, jetzt einmal aus der Wiener Wohnung wegzukommen. Die verletzte Hand war weiterhin ein Problem. Vroni konnte nur eine Umhängtasche nehmen. Einen Koffer oder einen Rucksack konnte sie mit einer Hand nicht handhaben, aber es fühlte sich leicht und frei an, so ohne Gepäck aus der Wohnung zu gehen und eine Reise anzutreten. Vroni verabschiedete sich von den Fischers. Mia brachte sie bis zum Haustor, aber sie trafen niemanden im Haus. Der Chrobath war in einer Rehaklinik im Waldviertel. Die Frau Fischer hatte ihn getroffen, als er vom Krankentransport abgeholt worden war. „Das ist das Mindeste, was dieser Staat für mich tun kann.“ hatte er Frau Fischer zugerufen. „Das ist doch nur vernünftig.“ hatte Frau Fischer geantwortet. Das stünde doch jedem und jeder zu. Da hatte der Chrobath aber wieder begonnen, gegen die Ausländer zu schreien, und sie war davongegangen.

Vroni und Toni waren jeden Sommer bei ihrer Großmutter in Klagenfurt zu Besuch gewesen. Sie waren dann im See schwimmen gewesen oder waren in die Berge gegangen. Die Großmutter war Lehrerin gewesen, und sie hatten die ganzen Ferien bei ihr sein können. Die Mutter war dann am Wochenende zu Besuch gekommen oder sie war mit dem Christoph weggefahren. „Eure Mama braucht auch ein Leben.“ hatte die Oma Gaby gesagt. Vroni hatte das seltsam gefunden. Damals hatte sie gedacht, ihre Mutter sollte bei ihrem Vater bleiben, auch wenn der schon tot war.

Vroni mußte dann zwei Wochen in Klagenfurt bleiben. Die Oma Gaby bekam gleich nach der Operation den Spitalsvirus und mußte in Quarantäne. Vroni konnte sie nicht besuchen. Sie fuhr an den See und schaute auf das Wasser hinaus. Die Touristen waren schon alle weg und Vroni hatte den Strand für sich alleine. Markus textete und berichtete, wie das mit der Anzeige weitergegangen war. Meran schickte ihr keine email-Adresse, und sie mußte darauf warten, daß er sie kurz anrief. Sie wußte von ihm nur, daß er in Chicago geblieben war. Sonst nichts. Wenn Vroni an Meran dachte, dann konnte sie sich nicht mehr an sein Gesicht erinnern. Aber die Hand wurde immer besser. Vroni machte so oft wie möglich die Handgymnastik im warmen Wasser im Waschbecken.

Dann läutete es an der Tür zu Oma Gabys Wohnung. Vroni fragte, wer da wäre, und jemand sagte, „Die Polizei.“ Es war früher Vormittag und Vroni war noch gar nicht angezogen. Sie trug einen Bademantel von ihrer Großmutter. Aber es war nicht deswegen, daß sie nicht aufmachen konnte. Sie hatte immer noch Angst vor Personen an ihrer Tür. Es gab keine Videoanlage, und sie konnte die Eingangstür unten im Haus nicht sehen. Vroni wußte nicht, wer da ins Haus wollte. Sie rief die Tante Roswitha an.

Die Tante Roswitha war die Halbschwester von der Oma Gaby. Die Tante Roswitha war in der Familie verschrien, und alle sagten, daß die Tante Roswitha immer alles besser wissen wolle. Vronis Mutter hatte dann einmal gesagt, daß die Tante Roswitha ja wirklich alles besser wisse. Die Tante Roswitha führte lange Kämpfe mit Ämtern und Hausverwaltungen über falsche Abrechnungen und unberechtigte Einziehungen, und sie gewann diese Auseinandersetzungen immer.

Während Vroni die Tante Roswitha anrief, läutete es, und jemand begann, gegen die Wohnungstür zu klopfen. Dann hörte Vroni die Großmutter rufen. Da war aber die Tante Roswitha schon am Telefon und befahl ihr, niemanden in die Wohnung zu lassen. „Unter keinen Umständen.“ sagte sie und daß sie gleich käme.

Vroni stand dann wieder hinter einer Wohnungstür und sprach mit den Personen draußen durch den Türspalt hindurch. Sie hatte die Kette angelassen und die Tür einen Spalt aufgemacht. Draußen standen zwei Polizisten und zwei Männer vom Samariterbund. Die Großmutter lag auf einer Bahre vor der Wohnungstür und rief immer wieder nach Vronis Mutter. Die Polizisten bedrohten Vroni. Das war den Männern vom Samariterbund peinlich, und sie gingen zum nächsten Stiegenabsatz hinunter. Vroni redete auf ihre Großmutter ein. „Mach dir keine Sorgen.“ sagte sie. „Die Roswitha wird gleich da sein.“ Vroni textete Markus und fragte ihn, was sie tun sollte. Er müsse sich als Sanitäter vom Roten Kreuz doch auskennen. Markus textete aber nicht zurück.

Es schien ewig zu dauern, bis die Tante dann endlich da war. Die Polizisten schimpften auf Vroni ein. Wie sie ihre Großmutter auf dem Gang liegen lassen könne, warfen sie ihr vor. Aber die Tante Roswitha hatte es ihr schon gleich gesagt. Wenn sie die Großmutter über die Schwelle in die Wohnung tragen ließ, dann mußten sie die Kosten für die Behandlung wegen des Spitalsvirus selber bezahlen, und das war sehr kostspielig. Weil das Land Kärnten wegen der Pleite von der Hypo-Alpe-Adria sparen mußte und weil man die Aktionärinnen der Bank nicht an den Kosten beteiligen wollte, wurde im Gesundheitswesen alles versucht, die Kosten auf die Patienten selbst abzuwälzen. Deshalb brachte man eine Patientin wie die Oma Gaby mit der Polizei nach Hause. Dann nahmen alle ihre Verwandten zurück ins Haus, und die Kosten blieben dem Land erspart.

Die Tante Roswitha kam dann und schickte ihre Schwester ins Spital zurück. Die Oma Gaby weinte, weil sie dachte, sie würde nie wieder in ihre Wohnung zurückkommen. Die Polizisten argumentierten mit der Tante. Am Ende ging der Krankentransport wieder zurück. Die Tante fuhr mit ihrer Halbschwester mit. Sie zeigte Vroni noch, wo die Oma Gaby den Kochcognac aufbewahrte und sagte, Vroni solle sich ein Glas nehmen. Man müsse harte Nerven haben gegen dieses System, sagte sie. „Und das alles verdanken wir dem Haider, und niemand sagt es.“ Dann war wieder Ruhe draußen, und die anderen Hausbewohner gingen in ihre Wohnungen zurück.

Vroni nahm sich ein Glas vom Kochcognac. Auf dem Platz mit dem Lindwurm war sie am Vortag bei einer Wahlversammlung vorbeigekommen. Es war um das Familienrecht gegangen. „Die Durchforstung des Sachverständigenwesens ist uns ein wichtiges Anliegen.“ hatte der Redner gesagt. Vroni saß am Küchentisch und nippte am Cognac. Sie schaute auf die Blumen auf dem Balkon hinaus und überlegte, wie eine Durchforstung aussehen konnte. Es fielen ihr nur große Maschinen ein, die alles beseitigten und nur die größten Bäume stehen ließen.

Dann rief Markus an, und sie erzählte ihm alles. Das gäbe es in Wien nicht, sagte er. Er habe so etwas noch nie erlebt. Dann textete Kristi. „Ich weiß, wie dein Krimineller heißt.“ schrieb sie.

Diese Folge ist Nahed Hattar stellvertretend für alle gewidmet, die auf der freien Rede bestehen. Nahed Hattar wurde auf dem Weg zu seiner Gerichtsverhandlung in Amman vor dem Gericht erschossen. Er war angeklagt gewesen, weil er auf facebook einen Cartoon veröffentlicht hatte, in dem ein Isis-Kämpfer neben zwei Frauen sitzt und Gott aufträgt, ihm zu trinken zu bringen. Der Cartoon ist „The God of Daesh (Isis)“ betitelt.

***

Vroni mußte dann das handy auf den Boden legen und mit der linken Hand betätigen. Mit der rechten ging alles noch zu langsam. Vroni hockte über dem handy und entsperrte und drückte auf den Notruf. Die anderen standen erstarrt. Der Mann an der Tür war wieder in die Wohnung zurück gegangen. Die Tür wurde geschlossen. Kristi lief auf die Tür zu und schlug mit der Hand dagegen. „Aufmachen.“ schrie sie. „Aufmachen. Sofort aufmachen.“ Die Tür wurde aufgerissen und wieder zugeschlagen und wieder aufgerissen. Vroni kauerte am Boden. Sie wollte gerade das handy aufheben und mit der Person am Notruf reden, da wurde sie zur Seite geworfen. Der Mann war aus der Wohnung gestürmt und hatte sie nicht gesehen. Vroni fiel nach links zur Seite. Das handy schlitterte davon. Der Mann war über sie gestürzt und auf dem Steinboden aufgeklatscht.

Vroni rappelte sich auf. Der Mann lag einen Augenblick still. Dann kroch auch er auf. Vroni saß schon. Der Mann richtete sich auf. Kurz sahen sie einander an. Dann schoß der Mann hoch und lief die Stufen hinunter.

Markus griff noch nach ihm und bekam ihn zu fassen. Der Mann entwand sich aber. Kristi schrie noch lauter, „Aufmachen.“ Mia telefonierte. Markus schaute dem davonlaufenden Mann nach. Dann beugte er sich über Vroni.

„Was tut dir weh.“ fragte er. Vroni seufzte. „Komm. Leg dich einfach wieder hin, wenn dir schwindlig ist.“ Markus kniete vor Vroni und legte seinen Arm um ihre Schulter. „Was tut weh.“ Vroni rappelte sich auf und lief an das Geländer. „Aufhalten.“ schrie sie. Es kamen Leute die Stiegen herauf. „Der ist doch schon weg.“ begütigte Markus. „Hast du das Haustor gehört.“ Vroni beugte sich weit vor. „Da hast du recht. Der ist noch nicht draußen.“ Markus sprang auf und lief die Stiegen hinunter. „Aufhalten.“ schrie Vroni. Mia schrie mit. Kristi läutete immer wieder an Chrobaths Wohnungstür. Von drinnen war Lärm zu hören, aber niemand kam aufmachen. Von unten tönten Rufe herauf. Vroni lief hinunter. Mia kam nach. Kristi schlug noch wütend gegen die Wohnungstür und drohte mit der Polizei.

Vroni fand dann Markus im Mezzanin. Zwei sehr junge Burschen hielten ihn fest. Markus versuchte, sich aus ihrem Griff zu entwinden. Frau Prokesch kam die Stiegen heraufgelaufen. Was denn los sei. „Aufhalten.“ sagte der eine Bursch. Der andere grinste verlegen. „Aber ich habe doch nicht ihn gemeint.“ Vroni zog Markus weg. „Das war doch der andere.“ Die beiden Burschen sahen einander an und schüttelten die Köpfe. Sie schienen nichts zu verstehen. Frau Prokesch rang nach Atem. „Also. Was ist hier los.“ Alle begannen zu reden. Am Ende war es dann Mia, die den Hergang erzählte. „Dann ist der doch noch im Haus.“ fragte Frau Prokesch. „Dann sollten wir die Polizei holen.“

Da läutete Vronis handy. Vroni kannte die Nummer nicht, aber es war aus den USA. Vroni fragte, wer da anrufe und es war Meran dran. Vroni hatte so lange nicht mit ihm gesprochen. Sie ging die Stiegen hinunter vor das Haus und setzte sich auf die Stufen zum Eingang.

Vroni hatte sich immer wieder vorgestellt, wie das sein würde, wenn sie mit Meran endlich wieder sprechen würde, aber nun konnte sie kaum reden. Es war so viel passiert. Vroni hatte auch gleich ein schlechtes Gewissen. Meran hatte flüchten müssen. Sie war ja nur an der Hand verletzt worden. Meran fragte, wie es ihr ginge. Vroni konnte nur „gut“ murmeln. Sie schaute auf ihre Hand hinunter. „Ich bin so froh, von dir zu hören.“ sagte sie. „I always thought of you.“ sagte Meran. Vroni nickte. „This is all very difficult.“ Meran seufzte. „Ich werde in Chicago bleiben. Ich kann keine Ausreise riskieren.“ Beide schwiegen lange. „Ich rufe dich wieder an, wenn ich besser weiß, wie das alles ist.“ sagte Meran. „Schick mir eine email Adresse.“ bat Vroni. „Dann können wir wenigstens schreiben.“ „Das mache ich. Mein Vronerl.“ Dann legte Meran auf. Das „Vronerl“ hatte er von Toni gelernt. Sie nannten einander „Vronerl“ und „Tonerl“ immer dann, wenn sie jemandem erklären wollten, daß sie Zwillinge waren. Meran hatte das gar nicht glauben wollen. Er hatte zuerst gedacht, Toni wäre Vronis Freund, weil sie so vertraut miteinander geredet hatten.

Vroni stand dann auf und ging zu dem winzigen Beserlpark vor dem Haus und setzte sich auf eine Bank. Ihr handy läutete. Es war aber nicht Meran. Vroni stellte das handy lautlos. Sie saß und schaute vor sich hin.

Ein Polizeiwagen kam gefahren. Zwei Polizisten läuteten an einer Glocke und gingen in das Haus. Der Krankenwagen hielt vor der Tür. Leute kamen und gingen. Vroni konnte nur dasitzen. Sie hatte das Gefühl, in einer zähen Masse eingefangen zu sein und sich nur in Zeitlupe bewegen zu können. Die Polizisten kamen wieder aus dem Haus. Markus ging zwischen ihnen. Sie stiegen in den Polizeiwagen ein und fuhren weg. Vroni verstand nichts. Es hatte ausgesehen, als würde Markus abgeführt werden. Aber das konnte doch nicht sein. Markus hatte nichts getan. Vroni stand auf, den Polizeiwagen aufzuhalten, aber es war zu spät. Vroni ließ sich wieder auf die Bank fallen. Sie hatte nichts gegessen. Die Kipferln für das Frühstück lagen noch in der Küche vom Onkel Franz. Sie hatte nur Kaffee getrunken und es war schon Nachmittag. Vroni legte sich auf die Bank. Im Liegen war ihr sofort wieder besser. Sie mußte auch lachen. Sie lag auf einer Parkbank wie eine Strotterin. Eine Frau, die ihren kleinen weißen Hund Gassi führte, zog den Hund rasch an ihr vorbei. Die Frau hatte sie nicht einmal angesehen, aber ihr Widerwillen gegen diese Person auf der Parkbank war unübersehbar. Vroni war alles gleichgültig.

Frau Prokesch holte Vroni dann ins Haus zurück. Mia und Kristi kochten mit Naeem und Pant ein Essen. Frau Prokesch hatte Vroni vom Balkon aus gesehen. „Wenn die beiden kochen, muß ich immer besonders lüften.“ erklärte sie Vroni. Sie nahm Vroni an der Hand und führte sie ins Haus zurück. „Sie müssen meine beiden Buben kennenlernen.“ sagte sie. „Die haben beide fast 2 Jahre gebraucht, bis sie in Wien gelandet sind. Sie haben währenddessen keine Schule besucht, und das holen wir jetzt alles nach. Der Naeem hat ein ganzes Jahr bei einem Schneider in Teheran im Keller gearbeitet, bis er das Geld beisammen hatte, weiter zu ziehen. Pant erzählt noch nicht so viel.“

Vroni hatte sich von Frau Prokesch ins Haus führen lassen. Sie wollte aber mit dem Lift fahren. Sie schaute die Stiegen hinauf. Man konnte bis hinauf zum Onkel Franz die Stiegen hinaufsehen. Vroni wollte nicht an der Wohnung von Chrobath vorbeigehen.

Die Wohnung von Frau Prokesch war sehr hell. Naeem schnitt Gemüse. Pant rührte in einem Topf auf dem Herd. Mia und Kristi schauten zu. Sie redeten in einem Durcheinander aus Englisch und Deutsch. Frau Prokesch fragte Vroni, ob sie auch einen Tee trinken wolle. Vroni setzte sich auf das hellblaue Sofa bei den Fenstern. „Was ist denn nur passiert,“ fragte sie. „Was macht die Polizei mit diesem Markus. Ist der verhaftet worden.“

Frau Prokesch brachte den Tee und setzte sich zu Vroni. „Aber nein. Der macht eine Anzeige.“ „Und haben die den Namen von diesem Kriminellen?“ Vroni konnte immer noch nicht schnell reden. Kristi rief aus der Küche, „Niemand weiß, wer das sein soll. Verstehst du.“ Vroni nickte. Wie sollte es anders sein. „Und die Sachbeschädigung.“ fragte sie. Kristi kam aus der Küche und setzte sich zu ihnen. „Auch da weiß niemand etwas.“ Frau Prokesch machte einen schmalen Mund. „Die machen sich lustig über uns.“ Kristi sagte das wütend. „Aber was kann man da wirklich machen.“ Während Vroni das fragte, wußte sie die Antwort. „Dann muß ich doch zur Polizei gehen. Aber die glauben mir doch jetzt sicher nichts. Wenn sie mir je etwas geglaubt hätten.“ Vroni setzte sich auf. „Ich möchte in einer von den alten Tatort-Folgen sein. Da, wo die Polizei noch so sozial ist und sich für alle Beteiligten so genau interessiert.“

„Ich mag nur den Tatort Münster.“ sagte Kristi. „Und vielleicht den aus Konstanz. Die Kommissarin da. Die ist so, wie du meinst. Oder?“ „Aber ihr wißt schon.“ Mia kam zum Sofa. „Das mit der Wahlverschiebung. Das stimmt. Ich habe es in den ORF-Nachrichten nachgeschaut. Die Bundespräsidentenwahl ist wirklich bis zum Dezember verschoben.“ „Dann ist mehr Zeit.“ meinte Frau Prokesch. „Das ist eine Chance. Es darf einfach nie mehr dazu kommen, daß die Geburt von Menschen über ihr Schicksal entscheidet. Das ist das, was dieser Höflein möchte. Ein unveränderbares Schicksal durch die Geburt.“ „Aber warum.“ fragte Kristi. Naeem und Pant waren aus der Küche zu hören. Sie lachten und redeten in ihrer Sprache. „Die wollen siegen.“ sagte Vroni. „Die wollen nicht glücklich sein. Die wollen nur siegen.“ „Wir sollten den Tisch decken.“ sagte Frau Prokesch. Vroni sah das Licht in ihrem handy angehen. Sie schaute nach. Es war ihre Mutter. „Vroni. Es gibt schreckliche Nachrichten.“ sagte sie.

Diese Folge ist stellvertretend für die etwa 900 unbegleiteten Jugendlichen im Camp in Calais dem 13jährigen Buben aus Afghanistan gewidmet, der am Sonntag, dem 18.9. beim Versuch auf einen Lastwagen zu klettern zu Tode fiel. Es wird berichtet, daß der Bub von einem anderen Jugendlichen auf den Lastwagen hinaufgezogen werden sollte und dabei abrutschte. Er stürzte auf die Straße und wurde von einem Auto überfahren. Das Auto wurde nicht angehalten.

***

So wird das Leben. Siebente Folge.

Vroni lief von der Wohnungstür ins Wohnzimmer davon. Sie mußte aber dann doch wieder ins Vorzimmer zurück. Ihr handy lag auf der Ablage gleich neben der Wohnungstür. Sie hatte es mit den Schlüsseln da abgelegt. Vroni nahm das Handy und schlich ins Wohnzimmer. Sie hatte pötzlich panische Angst davor, der Mann vor der Tür draußen könne sie auch nur irgendwie hören.

Der Mann klingelte wieder. Vroni rief Mia an. Sie hatte die Wohnzimmertür geschlossen, aber sie konnte trotzdem nicht laut reden, und Mia mußte immer wieder fragen, was sie sagen hatte wollen. Als Vroni dann endlich flüstern hatte können, daß ein Mann an ihre Wohnungstür hämmerte, kam Mia gleich auf den Stiegenabsatz heraus. Vroni konnte vom Vorzimmer aus hören, wie Mia den Mann fragte, was er denn hier wolle. Mia war mißtrauisch. Dann kam auch Kristi dazu.

Vroni lehnte innen an der Wohnungstür und schaute durch den Spion hinaus. Mia redete auf den Mann ein. Der trat bei jedem Satz einen Schritt zurück. Vroni konnte dann nur noch Kristi durch den Spion sehen. Kristi hatte die Arme vor der Brust gekreuzt und schaute den Mann böse an. Dann trat Mia in das Blickfeld des Spions und hielt Vroni einen Ausweis hin. „Dieser Mann ist wirklich von der Rettung. Du kannst herauskommen.“ „Ja. Wirklich.“ Kristi drängte sich auch in das Blickfeld und schrie, Vroni könne herauskommen. Es gäbe keine Gefahr.

Vroni zögerte. Sie stand vor der Tür. Sie konnte Mia und Kristi draußen hören. „Überfall.“ verstand sie. „Kann nicht.“ „Schwierigkeiten.“ Vroni stand. Die Worte drangen durch die Tür zu ihr. Sie lösten die Erinnerung an den Augenblick aus. Die Geräusche. Das Stöhnen des alten Manns. Seine Ausrufe. „Das war doch für den Kaindlinger gedacht.“ „Ihr Deppen.“ „Ich bin es doch. Der Maximus.“ Der Augenblick des Schlags. Sie sah wieder zu, wie der Schläger gegen ihre Hand krachte. Wie sie die Hand schützend und stützend um die Schulter des alten Manns gelegt gehabt und die knochige Schulter des alten Manns gefühlt hatte. Sie spürte ihre Hand nicht mehr. Sie hatte die Hand angesehen und nicht erkannt. Die Hand hatte gar nicht mehr zu ihr gehört. Sie hatte eine fremde Hand angesehen. Einen Augenblick hätte Vroni schluchzen mögen oder sich übergeben. Aber die Empörung war dann doch stärker und Vroni drehte am Schnappschloß. Wie konnten sich diese Menschen herausnehmen, so zuzuschlagen.

Vroni steckte den Schlüssel in das oberste Schloß. Sie hatte den Schlüssel in die rechte Hand genommen und hatte gleich wieder Schmerzen. „Scheiße.“ Sie flüsterte „Scheiße“ vor sich hin. Von draußen fragte Mia, ob sie Hilfe brauche. Aber es konnte ihr niemand helfen. Sie stand eingesperrt hinter dieser Wohnungstür und nur sie konnte sich befreien. Dann hatte sie es aber geschafft und sie schaute auf den Gang hinaus.

Der Mann von der Rettung stand an das Gitter vom Stiegenabsatz gelehnt. Er kam gleich auf sie zu. „Das tut mir wahnsinnig leid,“ sagte er. „Wenn ich gewußt hätte, daß sie gerade eine solche…“ „Sagen Sie nicht Erfahrung.“ sagte Vroni. Der Mann grinste sie an und sagte, „Ich bin der Markus.“ „Und ich bin die Erfahrung.“ sagte Vroni trotzig. Mia nahm sie um die Schultern. Kristi nahm ihr die Schlüssel aus der Hand. „Wir gehen jetzt alle in unsere Wohnung,“ sagte Mia und schob Vroni zur Wohnungstür Fischer hinüber. „Da gibt es nämlich ein blödes Problem.“

Vroni wollte die Wohnungstür selber versperren, aber Kristi hatte das schon erledigt und hielt ihr den Schlüsselbund hin. „Jedes Schloß total zu.“ sagte sie und lächelte. Erst wollte Vroni sagen, daß es keinen Grund gäbe, sich über sie lustig zu machen. Aber dann mußte sie doch grinsen. Kristi wollte helfen und machte sich sicher nicht lustig über sie.

„Ja. Wir haben ein Problem.“ sagte dieser Markus. Vroni saß auf der Couch und Mia und Kristi links und rechts von ihr. Markus hatte sich auf die Fensterbank gesetzt und schaute zum Fenster hinaus. „Das ist wirklich blöd.“ sagte er und wandte sich Vroni zu. „Du bist unsere einzige Zeugin.“ „Zeugin.“ fragte Vroni. „Ja.“ sagte Markus. „Du hast doch gesehen, wie die mit dem Krankensessel in die Wohnung von diesem Mann hinein verschwunden sind.“ Vroni nickte. „Ja. Die haben euch den Chrobath ja richtig aus der Hand gerissen.“ „Richtig. Und ist dir aufgefallen, daß die dann lange in der Wohnung waren?“ Markus war aufgestanden und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. „War das lange?“ Vroni überlegte. „Ich weiß es eben auch nicht mehr.“ sagte Markus. „Aber es war lange genug, daß die alle Tragegriffe abmontiert haben.“ „Was haben die?“ fragte Kristi. „Ja,“ nickte Markus. „Die haben den Sessel kaputt gemacht. Jedenfalls kann man jetzt mit diesem Sessel niemanden in den dritten Stock transportieren, weil man den Sessel nicht anheben kann. Die haben den Sessel kaputt gemacht und uns so zurückgegeben.“ „Aber das gibt es doch nicht.“ schüttelte Mia den Kopf. „Das ist doch der reine Vandalismus.“ Markus setzte sich wieder auf das Fensterbrett. Er nickte. „Das Dumme ist nur, daß wir den Schaden bezahlen müssen. Wenn wir keine Anzeige machen und wegen Sachbeschädigung klagen, dann müssen wir so einen Tragesessel bezahlen und ich habe das Geld dafür nicht.“ „Glaubst du, die wissen, daß das so ist?“ fragte Vroni. Markus zuckte mit den Achseln.

Kristi sprang auf. „Da muß es doch eine Haftpflichtversicherung geben.“ rief sie. „Zuerst müssen wir beweisen, daß wir nicht selbst an dem Schaden schuld sind.“ sagte Markus. „Das ist für Zivildiener so.“ Kristi sprang auf. „Ich mache Kaffee.“ sagte sie. „Das ist ja unerträglich. Da lebt das ganze Gesundheitswesen von euch und dann seid ihr nicht ordentlich versichert? Das ist doch pervers.“

„Hat der Chrobath nicht so etwas gesagt?“ fragte Vroni. „Hat der nicht etwas von der Dienst an der Waffe gesagt.“ „Hat der? Weißt du, ich versuche so etwas nicht mehr zu hören. Und die meisten alten Leute, die wir transportieren müssen. Die sind sehr nett. Aber ja.“ Markus schaute nachdenklich. „Komisch war das schon mit diesem Mann. Der wollte dauernd, daß wir ihn mit Doktor anreden.“ Mia begann zu lachen. „Das hören wir hier jeden Tag.“ rief sie. „Und meiner Mama wirft er vor, daß sie ihr Doktorat verleugnet. Nur weil sie es nicht an die Wohnungstür schreibt.“ „Aber was machen wir jetzt mit dem Sessel.“ fragte Kristi. Sie verteilte Kaffee. „Am besten wird es sein, wir gehen einfach hinunter und fragen die.“

Markus nahm sein Kaffeehäferl und ging wieder zum Fenster. „Um wieviel Geld geht es denn.“ fragte Kristi Markus. „Ich habe keine Ahnung.“ antwortete er. „Wir haben einmal einen gebraucht,“ sagte Vroni. „Also wir haben nur so einen Transportsessel gebraucht. Für einen Ausflug, weil wir den Rolly da mitgenommen haben und da haben die so um die 800,- Euro gekostet und wir haben einen für einen Tag mieten können. Aber eurer, der wird ja eine Spezialanfertigung sein. Der kommt wahrscheinlich mit dem Krankenwagen mit.“

„Du sagst es.“ nickte Markus. „Dann gehen wir jetzt und fragen die da unten.“ sagte Kristi. „Wir trinken den Kaffee und dann gehen wir.“

„Wir müssen vorsichtig sein.“ sagte Mia. Sie nippte an ihrem Kaffee und schaute vor sich hin. „Der Chrobath verklagt gleich alle Leute.“ „Was meinst du.“ fragte Kristi. „Na, der klagt halt gleich und damit kriegt er fast alles, was er will.“ „Der scheint ja ein ziemlicher Terror zu sein.“ Markus schaute sich um und trug sein Häferl in die Küche hinaus. „Das kann man sagen.“ seufzte Mia. „Aber wir alle fürchten uns vor ihm.“

Kristi stand auf. „So einen Terror kann man sich nicht bieten lassen.“ Sie schaute Vroni an. „Du wirst lieber hier bleiben wollen. Oder?“ Vroni stellte ihren Kaffee ab. „Nein. Ich komme mit. Aber sollen wir nicht lieber. Ich meine. Die Polizei.“ „Da bist du selber nicht hingegangen. Was soll die uns helfen.“ „Ist es denn nicht genug, wenn ihr eine Anzeige wegen Vandalismus habt und damit zur Versicherung geht?“ Vroni wandte sich an Markus. „Deshalb habe ich ja nach dir gesucht. Das ist doch das Blöde. Wir wissen genau, wer den Sessel kaputt gemacht hat. Aber wenn wir das sagen, dann glauben die uns doch nichts. Deshalb bist du ja als Zeugin so wichtig.“

Alle schwiegen. Kristi stand an der Tür. Markus saß wieder auf der Fensterbank. Mia saß vorgebeugt auf dem Sofa. Vroni lehnte sich zurück. „Voran. Voran.“ rief Kristi und zog Mia an der Hand vom Sofa auf. „Na gut.“ sagte Mia. „Fragen kostet ja nichts. Gehen wir.“

Vroni ging als letzte aus der Wohnung. Kristi hatte schon begonnen, mit ihrem handy ein Video zu machen. Sie stiegen die Stufen zum dritten Stock hinunter und sagte, „12. September 2016. 13.23 Uhr.“ Dann waren sie schon vor der Wohnung von Dr. Chrobath angekommen. Die Wohnungstür stand offen. Von drinnen waren laute Rufe und Geschrei zu hören. „Der Sieg ist unser.“ war zu hören. „Wir haben es geschafft.“

Kristi läutete. Die Glocke war in dem Tumult gar nicht richtig zu hören. Markus ging an die Tür und schrie „Hallo. Hallo.“ Lange geschah nichts. Alle schauten einander fragend an. Kristi machte Anstalten, die Wohnung zu betreten. Markus rief wieder, „Hallo. Hallo. Was ist denn da los?“ Er ging durch die Wohnungstür in das Vorzimmer und schrie noch einmal, „Was ist denn hier los?“ Er trat aber gleich wieder auf den Gang heraus. Ein junger Mann kam an die Wohnungstür und steckte den Kopf heraus. Er sah Markus und sagte, „Hier ist alles in Ordnung. Wir brauchen keine Rettung. Wer hat Sie denn geholt. Wir feiern. Wir feiern doch nur. Aber das wissen Sie vielleicht noch nicht. Die haben die Bundespräsidentenwahl auf Dezember verschoben und da werden wir alles gewinnen.“

„Sie werden das nicht.“ sagte Vroni und suchte auf ihrem Handy nach dem Notruf. Vroni wandte sich an die anderen. „Das ist der Mann, der mich überfallen hat.“

Diese Folge ist allen gewidmet, die „es“ in der Flüchtlingsfrage schaffen.

***

So wird das Leben. Sechste Folge.

Vroni war vom Bäcker gekommen. Sie hatte ihren rechten Arm wieder in die Schlinge gelegt. Es tat weh, wenn sie die Hand beim Gehen baumeln ließ, und sie hatte Angst irgendwo anzustoßen. Vroni merkte immer wieder, wie sie die Hausmauern entlang ging und entgegenkommenden Personen weit auswich. Sie versuchte dann, den Kopf zu heben und nicht so geduckt dahinzuschleichen, aber sie entdeckte sich bald wieder an einer Hausmauer und wie sie schützend ihre gesunde Hand vor die verletzte hielt. Deshalb trug Vroni das Sackerl mit den Briochekipferln so vor der Hand in der Schlinge als sie vor das Haus kam. Ein Krankenwagen stand da. Zwei Zivildiener hatten gerade den Tragesessel mit dem Chrobath aus dem Krankenwagen gehoben. Der alte Mann schimpfte schon wieder und Vroni blieb stehen, um nicht von ihm gesehen zu werden.

„Seicherln.“ rief der alte Mann. „Ihr seid’s doch so linke schwule Seicherln. Keinen Dienst an der Waffe. Das Vaterland nicht verteidigen. Lieber alte Leut herumschieben…“ „Haben Sie Schmerzen?“ fragte der eine Zivildiener. „Wenn ich Schmerzen hätte, würde ich schreien.“, fauchte Chrobath den jungen Mann an.

Die zwei Zivildiener hoben den Tragesessel an und begannen den alten Mann über die Stufen zum Hauseingang hinaufzutragen. Da kamen vier junge Männer von hinten und stellten sich den Zivildienern mit dem Chrobath auf dem Tragesessel in den Weg. Zwei hielten die Zivildiener an. Zwei drängten sie vom Tragesessel weg. Einen Augenblick stand der Tragesessel auf den Stufen und drohte umzustürzen. Vroni hatte unwillkürlich einen Schritt in Richtung des alten Manns gemacht. Sie mußte einen kleinen Schrei ausgestoßen haben. Alle jungen Männer hatten sich ihr zugewandt. Die Zivildiener in der roten Rotkreuzuniform. Die vier anderen trugen Sakkos und hatten eine Verbindungsschleife über die Krawatte gebunden. Dann übernahmen sie den Tragesessel. Zwei hoben den alten Mann hoch. Einer hielt die Tür auf. Der Vierte drehte sich noch einmal zu Vroni um. Dann verschwanden alle im Haus. Vroni versuchte, die Armschlinge hinter dem Bäckersackerl zu verstecken. Sie hatte plötzlich eine lebhafte Erinnerung an den anderen Mann beim Überfall an der Tür und wie der die Stiegen hinunter gelaufen war. Niemand sollte sehen können, daß sie das Opfer war.

Die Zivildiener gingen hinter den Burschenschaftlern her. „Den Sessel“, rief der eine. „Was soll das?“ der andere. Die vier jungen Männer eilten mit dem alten Mann hinauf. Der lehnte sich zurück und grinste.

Vroni ging dann auch ins Haus. Von unten schaute sie der Prozession zu. Chrobath wurde hinaufgetragen als würde eine Verfolgung stattfinden. Die Zivildiener gingen langsamer hinter der Gruppe um Chrobath her. Sie sprachen leise miteinander. Sie schüttelten die Köpfe und der dunkelhaarige lachte.

Vroni ging der Gruppe nach. Vom Stiegenabsatz in den dritten Stock aus sah sie, wie einer der jungen Männer die Wohnungstür aufsperrte. Die Alarmanlage schlug an. Chrobath sagte etwas. Die Alarmanlage hörte auf. Alle verschwanden in der Wohnung. Die Wohnungstür wurde zugeschlagen. Die Zivildiener waren gerade vor der Wohnungstür angelangt. Der dunkelhaarige junge Mann läutete. Das Schrillen der Glocke war zu hören. Niemand kam an die Tür. Der blonde Zivildiener schlug mit der Hand gegen die Tür. „Der Sessel“, rief er. Immer wieder „Der Sessel. Wir brauchen den Sessel.“

Vroni war im dritten Stock angekommen und war schon auf den Stufen zum vierten Stock. Die Tür zu Chrobaths Wohnung ging auf. Der Tragesessel kam herausgefahren. Die Zivildiener hatten nicht damit gerechnet und der Sessel fuhr dem blonden gegen die Beine. „Au“, schrie er. „Scheiße.“ Einer der vier Burschenschafter beugte sich aus der Tür. Er schaute den blonden Zivildiener an. Er musterte den dunkelhaarigen. Dann richtete er sich auf und wandte sich von den beiden Männern ab als hätte er etwas schrecklich Ekelhaftes ansehen müssen. Vroni sah, wie er im Wegdrehen schon zufrieden lächelte und da wußte Vroni, daß es darum ging. Es ging um diesen Ekel.

Die Zivildiener merkten diesen Blick gar nicht. Sie schienen sich nicht einmal über den Vorfall zu wundern. Der blonde Zivildiener schob den Tragesessel. Der andere ging zum Lift und drückte auf den Knopf. Er drehte sich um und sah Vroni.

„Brauchen Sie Hilfe.“ fragte er. Er kam zu ihr gegangen. Vroni holte tief Luft. „Nein. Nein.“ Sie drehte sich um und stieg die Stufen weiter hinauf.

Oben angekommen konnte Vroni sich nicht vorstellen, in die Wohnung zu gehen. Der Gedanke, daß alle diese Männer in der Wohnung unter ihr herumgingen. Vroni stand vor ihrer Wohnungstür, da kam Frau Fischer auf den Gang. Sie schaute Vroni an und fragte, „Du hast doch nicht geweint. Oder?“ Dann sagte sie, „Heute ist offenkundig Tränentag. Komm.“ Sie schob Vroni in ihre Wohnung. „Es ist schon die Kristi bei der Mia und heult. Da kannst du gleich mitweinen. Ich muß leider weg.“

„Brauchst du auch einen Kaffee?“ rief Mia aus der Küche. Im Wohnzimmer stand eine junge Frau am Fenster und schaute mißmutig hinaus. „Das ist die Kristi.“ sagte Mia und schaute ins Wohnzimmer herein. „Sie hat Ärger mit ihrem Chefredakteur. Der will einen Beitrag von ihr nicht bringen. Der Kaffee ist jetzt fertig. Holt ihr ihn euch? Ich weiß nicht, wie du deinen Kaffee nimmst.“

Vroni ging zu Mia in die Küche. Kristi kam nach. „Das ist die Vroni.“ sagte Mia zu Kristi. „Sie ist gerade vor der Wohnungstür nebenan zusammengeschlagen worden. Aber sie will nicht darüber reden.“ Dann stellte Mia sich vor Vroni. „Was hast du denn mit deinen Haaren gemacht!“ Mia starrte Vroni entsetzt an und weil Vroni den beiden Frauen erklären wollte, warum es notwendig gewesen war, sich die Haare abzuschneiden, mußte sie die ganze Geschichte erzählen. Sie erzählte, wie sie diesem alten Mann zu Hilfe hatte kommen wollen und deshalb den Schlag auf die Hand abgekriegt hatte. Wie der alte Mann sich gefreut hatte, daß es wenigstens jemanden aus der Familie vom Onkel Franz getroffen hatte, wenn schon diese dumme Verwechslung passiert wäre und nicht ihr Großonkel Franz niedergeschlagen worden wäre, sondern er selbst, weil er aus dieser Wohnungstür herausgekommen sei. Wie dieser Dr. Chrobath über die Ironie der Situation noch lachen hatte müssen, obwohl er doch verletzt gewesen war. Wie sie den Mann, der auf sie eingeschlagen hatte, dann doch erkannt und in der Studentenverbindung aufgefunden hatte.

„Das ist eine richtig üble Geschichte“, sagte Mia und schaute Kristi an. Kristi zuckte mit den Achseln. „Das ist doch auch so eine Geschichte, die niemand anrühren will. Wenn die schon einen Beitrag über einen Wahlkampfroman nicht nehmen, was glaubst du, was da los ist, wenn ich mit einer Geschichte von einem bestellten Überfall komme. Du hast ja wahrscheinlich keine Beweise.“ Vroni wollte ihre verletzte Hand heben, aber sie ließ es gleich bleiben. Einem Opfer wurde nicht geglaubt. Das hatten sich die Täter so eingerichtet. Sie fragte Kristi, was das für ein Problem mit dem Chefredakteur sei. „Ich habe eine Wiener Autorin zu einem Roman interviewt und weil der Roman sich mit den Auswirkungen der rechten Ideologie beschäftigt, ist der Beitrag nicht gekommen, weil der Chefredakteur keine Schwierigkeiten haben will. Gesagt hat er aber, daß der Beitrag wegen der journalistischen Qualität nicht genommen wird.“

Vroni nahm ausnahmsweise Zucker für ihre Nerven in den Kaffee. „Das ist so wie damals“, sagte sie. Man weiß heute, daß die Menschen in den 30er Jahren sehr viel mehr ahnten und wußten als es im Nachhinein den Anschein hat.“

„Ist das so?“ fragte Mia. „Es schaut doch immer so aus als hätte nie jemand etwas gegen die Nazis gesagt.“

„Wenn man zum Schutz des Volkes nur noch mit Verordnungen regiert und alle Gegner verhaftet hat und alle Medien gleichgeschaltet sind, dann kann nicht mehr viel gegen die Regierung gesagt werden.“ antwortete Vroni. „Ich wüßte nicht, was ich getan hätte, wenn ich damals auf der Welt gewesen wäre.“ sagte Mia und schenkte Kaffee nach. „Meine Mama sagte, daß es bei uns auch so kommen könnte. Daß der Bundespräsident die Macht genauso ergreifen könnte wie das mit diesem Hindenburg und dem Hitler passiert ist. Das hast du doch gemeint, Vroni. Oder?“ Vroni nickte nur. Sie war wieder schrecklich müde und sie kam sich dumm vor, weil sie alles erzählt hatte und sich ja doch nichts geändert hatte.

Kristi war wieder zum Fenster gegangen und hatte hinausgeschaut. Dann wandte sie sich um und kam zu Vroni. „Wir müssen etwas mit deinen Haaren machen“, sagte sie. „sonst erkennt dich der doch noch.“ „Am besten wohnst du überhaupt hier herüben.“ sagte Mia. „Du kannst auch zu mir kommen, wenn du magst“, sagte Kristi. Vroni schüttelte den Kopf. „Dann würde ich mich vertreiben lassen.“ sagte sie. „Und dann trifft es den Onkel Franz doch noch.“

Dann berieten Mia und Kristi, was mit Vronis Haaren zu machen sei. Vroni saß auf dem Sofa und hörte zu. Kristi war dafür, Vroni eine Punk-Frisur zu verpassen. Mia meinte, Vronis Haare sollten blondiert werden und zurechtgeschnitten, weil Vroni dann am meisten verändert aussehen würde. „Eine Punk-Frisur. Da schauen doch alle hin. Wenn wir aus der Vroni eine ordentliche Tussi machen, dann wird sie am besten übersehen.“

Mia ging, Haarfärbemittel zu kaufen. Kristi begann an Vronis Haaren herumzuschneiden. Dann rief Toni an und wollte wissen, ob es Vroni gut ginge. Da mußten alle lachen und riefen, daß der Toni sich nicht schrecken dürfe, wenn er nach Hause käme. Er würde die Vroni sicher nicht wiedererkennen. Was da los sei, wollte der Toni wissen und Kristi erklärte ihm warum Vroni ihr Aussehen verändern musste. Der Toni regte sich fürchterlich auf. Seine Schwester hätte ihm das alles selber sagen sollen. Vroni hatte gleich noch mehr schlechtes Gewissen. Dann mußten sie aber wieder lachen. Vroni sah mit den blonden Haaren so brav aus. Sie schaute sich in den Spiegel und fragte, ob ihr nun von alleine eine Perlenkette wachsen würde. „Nein. Eher ein Dirndl“, lachte Mia und schlug vor, gleich in das Kaffee Leopold zu gehen und auszuprobieren, ob der Kellner die Vroni wiedererkennen würde. Aber Vroni tat die Hand weh und sie wollte wieder die Handgymnastik im warmen Wasser machen. Sie versprach, niemandem die Tür aufzumachen und ging in die Wohnung vom Onkel Franz zurück. Mia und Kristi blieben vor der Tür stehen und warteten bis Vroni alle Schlösser an der Wohnungstür hinter sich versperrt hatte.

Vroni ließ gerade das lauwarme Wasser in das Waschbecken ein, da läutete es. Vroni dachte, Kristi und Mia wollten sich einen Spaß machen. Sie ließ das Wasser rinnen und lief zur Tür. „Ich mache sicher nicht auf“, rief sie. „Ich mache mir Sorgen.“ hörte sie einen Mann draußen sagen. Vroni schaute durch den Spion auf den Gang hinaus. Ein Mann stand draußen. „Ich war vorhin da“, rief der junge Mann. „Ich bin der von der Rettung.“ Da erkannte Vroni ihn wieder. Das war der dunkelhaarige von den beiden Zivildienern. Was wollte der von ihr?

Diese Folge ist Freddy Mercury stellvertretend für alle Opfer der Aids-Epidemie gewidment, die heute noch leben könnten, hätte die Bekämpfung dieser Epidemie nicht erst alle diese verquälten und diskriminierenden Sexphantasien einer postchristlich fundamentalistischen Öffentlichkeit überwinden müssen.

***

Vroni war in die Wohnung vom Onkel Franz zurückgekehrt und hatte sofort mit der Unterwassergymnastik für ihre Hand begonnen. Vroni war im Badezimmer gestanden und hatte im lauwarmen Wasser des Waschbeckens ihre Hand doch zur Faust geballt. Das war mühsam gewesen. Vroni hatte das Gefühl gehabt, ein Hindernis überwinden zu müssen, das sich gar nicht in ihrer Hand befand. Dann war Vroni in der Wohnung herumgegangen und hatte die verletzte Hand baumeln lassen. Das hatte wiederum anders weh getan. Vroni hatte dann erschöpft von den Schmerzen schlafen gehen müssen. Sie hatte Toni nicht mehr gesehen und hatte nichts mit ihm besprechen können.

Am nächsten Morgen wachte Vroni auf und wußte gleich, daß es ihr wieder besser ging. Sie konnte die Hand immer noch nicht richtig gebrauchen, aber die Hand fühlte sich nicht mehr so leblos an. Vroni wollte so weit kommen, keine Schlinge tragen zu müssen. Der Gedanke, der Täter könne sie erkennen, machte Vroni große Angst. Sie hatte überlegt, daß die Armschlinge sie verraten könnte. Dann erinnerte sie sich an den Blick, mit dem der junge Mann sie angestarrt hatte, während er sich die Zorro-Maske heruntergezogen hatte. Vroni dachte, sie müsse sich doch vollkommen verändern. Sie drehte ihre langen Haare oben am Kopf zusammen und schnitt die Haare dort knapp am Kopf ab. Dann schnippelte sie die wegstehenden Strähnen weg und schaute in den Spiegel. Sie schaute jetzt fast wie der Toni aus und deshalb borgte sie sich das Haargel und eine Jacke von ihm.

Vroni war den ganzen Tag nervös. Sie mußte sich vor den Fernsehapparat setzen und wollte alle Serien auf allen Sendern anschauen. Dann aber wurden auf allen Sendern Folgen von „Two and a half men“ gespielt. Charly Sheen war auf ATV in einer midlife crisis. Auf Puls4 war er sehr jung. Auf ORF1 war die Charly Sheen-Figur schon tot. Es blieb Vroni nichts anderes übrig als sich ein Buch vom Onkel Franz zu nehmen. Es fiel ihr „Schillers Werke. Achter Band“ in die Hand. In der „Selbstrecension“ Schillers von „Die Räuber.“ las sie „Wir lieben das Ausschließende in der Liebe und überall.“ Da mußte sie wieder an Meran denken. Sie schrieb ihm eine lange email und erzählte ihm von ihrem Vorhaben. Bei Meran in Chicago war es gerade sehr früher Morgen und er würde erst antworten können, wenn sie schon wieder im Café Leopold war.

Dann kamen Frau Fischer und ihre Tochter Mia vorbei. Mia blieb noch länger und sie diskutierten, wohin sie für ihr Auslandssemester gehen sollten. Mia wollte nach Italien, aber Vroni hatte gehört, daß es an den italienischen Universitäten besonders schwierig sei, Anschluß zu finden. Sie mußten beide über den Ausdruck „Anschluß finden“ lachen. Mia sagte, daß sie keinen Anschluß suchen müsse, sie ginge mit ihren Freundinnen dahin. Anschluß, das wäre doch peinlich. „Anschluß. Das brauchen doch wirklich nur die, die es gar nicht zustande bringen. Das ist doch in Wien auch nicht anders, wenn man aus Oberösterreich kommt oder so. Da lebt man mit und irgendwann gehört man dazu. Das ist doch ganz einfach.“

Vroni war dann viel zu früh dran. Im Café Leopold waren spätnachmittäglich alle Tische leer. Vroni setzte sich mit dem Buch in die Ecke und las Schillers Bericht an den Herzog Karl über sich selbst und seine Mitzöglinge. Schiller war damals 15 Jahre alt und wurde im Schloß Solitude zum Regimentsarzt ausgebildet. Das schien mehr ein Erziehungsgefängnis gewesen zu sein als eine Schule. Vroni mußte sich auch immer wieder vorsagen, daß der Autor da fast noch ein Kind gewesen war als er diese Texte geschrieben hatte, und daß er zu einem solchen Bericht über seine Mitschüler sicher gezwungen worden war. Aber ein Gefühl des Verrats blieb. Es war Überwachung und Urteil über die anderen, was da geschrieben stand.

Vroni las und die Kellnerin brachte ihr die Melange. Dann war Schichtwechsel und der Kellner vom Vortag war wieder da. Er kam an Vronis Tisch und musterte sie. Vroni bestellte gleich einen weißen Spritzer, damit er sie nicht so lange anschaute. Der Mann fragte aber doch, was sie mit ihren Haaren gemacht habe. Vroni wußte keine Antwort und wurde rot. Der Mann nickte aber und sagte, er verstünde schon. „Ich mache auch immer zu viel, wenn ich mich verliebt habe.“ Vroni grinste zustimmend.

Vroni las gerade Schillers „Beobachtungen bei der Leichen-Öffnung des Eleve Hillers.“, da stürmten drei junge Männer herein. Sie liefen an die Theke, umzingelten den Kellner. Sie riefen „Bier.“ „Katastrophe.“ „Hilfe.“ Der Kellner beruhigte sie und sie gingen alle in das Raucherzimmer. Vroni konnte nichts mehr hören.

Vroni saß da und schaute vor sich hin. Sie hatte ihre Hand auf den Tisch gelegt. Die Hand war geschwollen und dunkellila Flecken hatten sich am Handballen gebildet. Auf dem Handrücken war die Haut gelblich grün. Schiller war 19 Jahre alt gewesen, als er über diese Leichenöffnung berichten mußte.

Die jungen Männer stürmten wieder hinaus. Der Kellner kam an ihren Tisch. „Wie wichtig ist dir der Kerl.“ fragte er. Vroni schaute ihn erstaunt an. „Na, du weißt schon.“ sagte der Kellner. Vroni seufzte. „Du. Ich kenn dich aus der Globalgeschichte. Hörsaal 41. Du sitzt doch immer in der Mitte da.“ Vroni lehnte sich zurück. „Ja?“ sagte sie. „Na. Wenn du dich auf den stehst. Da drüben.“ Der Mann deutete auf das Haus über der Straße. „Dann kannst du mir helfen. Die haben ihr Bier nicht geliefert bekommen und ich brauche Hilfe. Das ist doch eine Gelegenheit. Oder?“ „Und warum sollte ich dir helfen.“ fragte Vroni. Der Mann schaute sich um. Dann hielt er Vroni die Hand hin. „Ich bin der Adrian. Ich bin schwul und ich will da nicht alleine hingehen.“ „Aber wenn du ihnen doch ihr Bier bringst.“ sagte Vroni und gab ihm ihre linke Hand. Adrian schüttelte den Kopf. So wären zwei Fliegen mit einem Schlag erledigt. Er habe eine Zeugin, weil er denen nicht traute und sie könne sich nach ihrem Kerl umsehen. „Oder willst du zu denen gehören.“ fragte Adrian. Vroni schüttelte den Kopf. „Nein. Und ich will ja nur seinen Namen.“ Adrian zuckte mit den Achseln. Dann hätte sie doch einen Deal.

Es war dann alles ganz einfach. Adrian hatte zwei Fässchen Bier auf eine Transportrodel gestapelt, und Vroni mußte ihm nur die Türen aufhalten. Das konnte sie auch mit der linken Hand machen. Vor dem Haus hatten sich viele Männer versammelt und warteten. Adrian bahnte sich einen Weg zur Seitentür und holperte mit der Rodel die Stiegen in das Vereinslokal hinunter. Zwei Burschen übernahmen die Fäßchen und schlossen sie an den Zapfhahn der langen Bar an. Ein älterer Mann besprach mit Adrian die Bezahlung. Vroni stand in der Ecke bei der Bar, da strömten die Männer herunter. „Er kommt.“ hieß es. Immer wieder wurde gerufen „Er kommt.“ Der Vereinsraum füllte sich.

Vroni konnte gar nicht mehr weg, so voll war es plötzlich. Sie hatte Angst vor dem Gedränge und daß ihr jemand gegen ihre Hand stoßen könnte. Vroni zog sich in die äußerste Ecke zurück. Sie stand halb von der offenstehenden Tür versteckt. Der Höflein ging ganz knapp an ihr vorbei. Er lächelte verschwörerisch glücklich.

„Meine lieben Freunde. Österreich steht vor großen Veränderungen.“ Der Mann war auf die kleine Bühne gesprungen. Die Tonanlage übersteuerte und nach den „großen Veränderungen“ wurde der Pfeifton überlaut. Es wurde gepfiffen und gejohlt. „Da hat es unser Gegner wieder versucht.“ sagte Höflein, nachdem die Tonanlage wieder in Ordnung gebracht war. Wirre Rufe waren zu hören. Vroni verstand nichts. „Ich schieße einfach gerne.“ Höflein schien auf einen Zuruf zu reagieren. „Ich schieße einfach gerne. Das ist für mich ein schöner Sport. Es ist immer ein Zeichen eines autoritären Regimes, wenn man die Bürger entwaffnet.“ Wieder kamen Rufe aus dem Publikum. „Was wäre ihre Lieblingsregierungskonstellation.“ konnte Vroni hören.

„Eine Regierung,“ antwortete der Mann, „die sich tatsächlich für Österreich einsetzt und weil es dann einen freiheitlichen Präsidenten, einen freiheitlichen Bundeskanzler und einen freiheitlichen Parlamentspräsidenten geben wird, da werden Sie sich wundern, was alles gehen wird.“ Es wurde applaudiert und gepfiffen. Wieder wurde herumgeschrieen. „Ich sage, die Ehe ist eine Partnerschaft, die Mann und Frau vorbehalten ist. Liebe Freunde, ich werde von dieser Linie nicht abgehen.“ Der Applaus stieg noch an. „Man kann nicht gleiches mit ungleichem vergleichen, solange es nicht möglich ist, daß zwei Männer ein Kind zeugen oder zwei Frauen ein Kind zeugen, so lange bin ich dafür, daß die Ehe Mann und Frau vorbehalten ist. Ich will auch, daß nur Paare aus Männern und Frauen das Recht haben, in Österreich Kinder zu adoptieren.“ Wieder Geschrei. „Wenn Österreich heute nicht Mitglied der europäischen Union wäre, wie würdet ihr abstimmen?“ Alle rund um Vroni schrieen „Nein.“ oder „No:“ „Ich habe gesagt,“ fuhr der Mann fort.“Ich habe gesagt, mit nein. Ich würde nicht für den Beitritt stimmen. Man hat mich gefragt, ob ich eine Ministerin mit Kopftuch angeloben würde. Ich habe gesagt, nein, das würde ich nicht tun. Und deshalb brauchen wir einen ordentlichen Grenzzaun und keinen Maschendrahtzaun. Einen Grenzzaun wie es ihn in Ungarn gibt. Genauso einen Zaun brauchen wir in Österreich. Wir müssen die Invasion der Muslimen stoppen. Liebe Freunde. Das ist eine ganz wichtige Aufgabe für uns.“ Wieder wurde applaudiert. „Wir Burschenschafter lehnen die geschichtswidrige Fiktion einer österreichischen Nation ab. Ja. Und warum sollte ich mich von meiner Burschenschaft abwenden.“ Wieder war Tumult. „Natürlich muß ein Bundespräsident überparteilich sein. Na ja. Ich bin eigentlich ein überparteilicher Kandidat. Nein. Das bin ich natürlich nicht. Ich bin ein Freiheitlicher durch und durch. Wir brauchen das freiheitliche Original, denn dieses Original ist Garant für eine positive Zukunft in Österreich. Daher hoffe ich wirklich, daß es schon bald nach dieser Bundespräsidentschaftswahl auch zu Neuwahlen kommt. Ich seh das genauso wie ihr. Ja. Sie werden sich wundern, wie das alles gehen wird. “ Wieder begann das Mikrophon zu pfeifen. Die Männer im Publikum schrieen und pfiffen. Höflein gemahnte zur Ruhe. Dann sagte er ganz leise und fast traurig. „Für mich ist das Schönste, wenn ich nach Hause komme und der Robi setzt sich auf den Schoß und beginnt zu schnurren. Das ist so entspannend. Das kann ich jedem empfehlen. Das ist perfekt.“ Dann begann der Mann zu schreien. „Aber Ihr. Je lauter Ihr schreit, desto besser ist das Wahlergebnis für uns. Schreit, schreit so laut ihr könnt. Schreit und die werden sich wundern, was alles gehen wird.“

Der Tumult wurde noch größer. Alle waren um den Mann am Mikrophon gedrängt.

Vroni schlüpfte hinaus. Auf der Stiege hinauf kam ihr der Mann entgegen, den sie suchte. Sie schaute ihm ins Gesicht. Vroni lief auf die Straße hinauf davon. Sie hielt ein Taxi auf und fuhr nach Hause. War das ein Rest von Mascara in den Wimpern von diesem Schläger gewesen?

Diese Folge ist stellvertretend für alle Flüchtenden auf der Welt den 71 Personen gewidmet, die 26. August 2015 auf der Fahrt von Ungarn nach Deutschland in einem LKW erstickten. Die Kinder, Frauen und Männer kamen aus dem Irak, Syrien, Afghanistan und Iran. Das jüngste Kind war 10 Monate alt. Auf dem Lastwagen außen war Werbung für Konserven mit Hühnerfleisch angebracht.

***

Evelyn hatte dann wieder nach Graz zurückfahren müssen. Evelyn wollte Kostüm- und Bühnenbildnerin werden. Sie machte gerade ein Praktikum bei einem Weltmeisterfriseur in Graz, und sie durfte nicht länger von da wegbleiben. Vroni hatte gemeint, daß Evelyn ja ohnehin nichts bezahlt bekam und daß sie deshalb über ihre Zeit verfügen könne. Evelyn hatte nur gelächelt. Wenn sie eine Bestätigung für dieses Praktikum haben wollte, dann mußte sie ihre Arbeit da erledigen, hatte sie gesagt, und war nach Graz zurückgefahren.

Vroni war dann allein in der Wohnung vom Onkel Franz gewesen. Toni hatte bedauert, über den Tag nicht bei ihr bleiben zu können. „Ich kann da nicht lernen.“ hatte er gesagt und Vroni hatte ihn verstehen müssen. Als Zwillingsschwester verstand sie ihn ja ohnehin immer.

Vroni war dann doch langweilig geworden. Zuerst hatte sie nach unterhaltsamen Büchern gesucht, aber der Onkel Franz hatte nur eine Wand mit den deutschen Klassikern in der Golddruckausgabe von Meyers Klassiker-Ausgaben in 150 Bänden. Vroni dachte, daß alle 150 Bände in Onkel Franzs Bücherkasten standen. Sie blätterte in den Büchern herum und stellte fest, daß schon damals holzfreies Papier verwendet worden war. Dann hatte Vroni Angst bekommen, etwas Privates vom Onkel Franz zu finden und hatte zu stöbern aufgehört. Sie hatte begonnen, die Kunstbände aus der untersten Reihe herauszuziehen, da war ihr das alte Schulbuch in die Hände gefallen. „Wir lernen lesen“ stand da. „Ein Erstlesebuch für Schulanfänger“. Die Bilder waren von demselben Zeichner, der auch das Schulbuch von ihrem Vater nach 1945 gezeichnet hatte. Vronis und Tonis Vater war bei einem Autounfall gestorben. Da waren sie beide 9 Jahre alt gewesen. Die Bücher ihres Vaters waren die einzige Erinnerung an ihn. Die Mutter hatte den Bücherkasten vom Vater so gelassen wie er gewesen war. Alle anderen Dinge von ihm waren im Lauf der Zeit weggeschafft worden. Das Schlafzimmer der Eltern war für Toni und Vroni in zwei Zimmer geteilt worden und nur ein paar seiner Pokale von Schwimmmeisterschaften standen noch auf der Kommode im Schlafzimmer der Mutter.

Vroni trug ihre Hand immer noch in einer Schlinge. Die Schmerzen machten sie müde und trotzdem unruhig. Sie nahm die Parkemed-Tabletten aber nur noch höchstens fünfmal am Tag.

Vroni dachte, daß sie diese Schulbücher vergleichen sollte. Sie schaute das Erstlesebuch aus dem ostmärkischen Landesverlag, Wien 1942 genau an. In dem Schulbuch aus der Nazizeit hatte jemand das Bild des Führers zerkritzelt und seinen Namen aus dem Papier herausgekratzt.

Da kam dann gerade der Installateur wieder in die Wohnung. Die Frau von der Hausverwaltung hatte angerufen und Vroni gebeten, den Installateur in die Wohnung zu lassen. Sie habe mit dem Dr. Kaindlinger gesprochen und der wolle auch, daß wegen des braunen Flecks alles so genau wie möglich untersucht werden solle. Vroni und Toni hatten alle gebeten, dem Onkel Franz nichts von dem Überfall zu erzählen. Der Onkel Franz war 77 Jahre alt und sie wollten nicht, daß er Angst haben solle. Toni hatte mit ihm geredet und der Onkel hatte gelacht. „Dieser Chrobath.“ hatte er gesagt. „Der ist doch selbst der braune Fleck.“

Vroni mußte den Installateur aber dann doch durch die Tür fragen, wie die Hausverwaltung hieße, von der er geschickt worden sei und beim Aufsperren der Schlösser hatte sie doch wieder diese Angst. Der Installateur rief von draußen, daß er der Mehmed von der Hausverwaltung sei. und daß sie dort anrufen solle, wenn sie Angst habe. Er habe von dem Überfall gehört. Vroni hatte dann ein dummes Gefühl, daß sie den Mann so lange draußen warten hatte lassen. Sie führte den Mann zum Badezimmer und immer noch verlegen wegen ihres Mißtrauens fragte sie den Mann, woher er denn käme. „Ich bin Österreicher.“ sagte der Mann. Vroni sagte „Aber…“ „Ja“, meinte der Mann. „Der Vorname. Meine Eltern sind aus Bosnien geflüchtet, aber ich bin hier geboren.“ Vroni wollte sagen, daß ihre Mutter auch aus Slowenien käme, aber dann fiel ihr ein, daß die Slowenen den Zerfall Jugoslawiens verursacht hatten, und sie sagte nichts. Sie drehte sich weg und ging ins Wohnzimmer zurück. Immer war gleich alles so mißverständlich.

Sie starrte gerade auf die Seite des Volksschulbuchs mit dem Titel „Ich werde ein Soldat.“, da kam dieser Mehmed an die Tür. „Ich habe alles überprüft.“ sagte er. Er sah neugierig auf das Bild des Führers im Buch und schüttelte den Kopf. „Das habe ich gerade gefunden.“ sagte Vroni entschuldigend. „Mein Großonkel muß das als Schulbuch gehabt haben.“ Mehmed sagte nichts. „Ich studiere Gechichte. Wissen Sie.“ Der Mann schaute sie fragend an. „Ich will wissen, wie es zu dem allem kommen konnte.“ sagte Vroni verzweifelt über das Mißverständnis. „Die lügen doch sowieso immer alle.“ lächelte Mehmed verständnisvoll. „Uns gibt es doch für die ohnehin nicht. Schauen Sie sich doch an, wie das jetzt wieder bei den Volkswagenwerken läuft. Die kleinen Leute sind nichts wert. Aber ich gehe jetzt. Sperren Sie sich gut ein.“

Dann ging er. Vroni hörte, wie er die Tür zufallen ließ, aber sie war zu müde, zur Tür zu gehen und abzusperren. Vroni saß auf dem Sofa. Ihre verletzte Hand lag schwer in der Schlinge, und sie starrte auf die letzten Sätze des Kapitels „Der Führer feiert Geburtstag.“ „Jeden Tag denken wir an ihn.“ stand da. „Wir wollen brave, tüchtige Menschen werden und ihm nur Freude machen.“

Da mußte Vroni weinen. Sie mußte die ganze Zeit an Meran denken. Sie hatte Meran dann nicht mehr gesehen. Toni hatte ihn getroffen und Toni hatte ihr erzählt, daß Meran in die USA weitergereist war und nur für sie noch einmal nach Wien gekommen war. Meran hatte das Visum in die USA sofort benutzen müssen, bevor sich wieder etwas an den Visabestimmungen änderte und er wieder nicht aus der Türkei herauskommen hätte können. Meran hatte sich auch gleich wieder aus Chicago gemeldet. Vroni hatte eine Telefonnummer und sie konnten auch wieder mailen. Aber sie hatte ihn nicht gesehen und das alles wegen dieser Leute und wegen dieses Chrobath und seiner Uhrensammlung. Vroni schluchzte. Ihr Zwerchfell schlug immer wieder gegen die Hand in der Schlinge. Es tat weh, und die großen Schmerzen vom Anfang kamen ihr in Erinnerung. Da wurde Vroni aber plötzlich sehr wütend, und sie setzte sich wieder auf. Sie ging an ihren laptop und begann zu suchen. Es war mühsam mit einer Hand zu tippen, aber dann hatte sie alles.

Vroni rief Frau Fischer an. Die wußte nichts, aber sie rief für sie einen Bekannten an, der in dem Betrieb arbeitete, in dem der Dr. Chrobath im Vorstand gewesen war. Der mußte noch jemanden anrufen, der mehr über den Dr. Chrobath wußte. Am Ende wußte Vroni, daß der Dr. Chrobath entweder in der Burschenschaft der Teuto-Wanen Mitglied war oder bei der Albinia Viennensis. Sie suchte die Adressen der Verbindungshäuser heraus. Sie würde diesen Mann mit dem Baseballschläger ausfindig machen. Wahrscheinlich wollte der auch so ein braver, tüchtiger Mensch werden und den alten Herren in seiner Verbindung nur Freude machen.

Vroni machte sich auf, diese Verbindungshäuser anzuschauen. Vroni wurde noch wütender, weil alles wegen der verletzten Hand so lange dauerte. Dann war die Angst aber doch wieder da und Vroni mußte dreimal nachschauen, ob sie die Türschlüssel auch wirklich in ihrer Handtasche hatte. Dreimal mußte sie zur Tür zurück und nachprüfen, ob die Schlösser versperrt waren. Dann wieder konnte sie nicht in den Lift einsteigen. Sie stand vor der Lifttür und wollte nicht in diese winzige Kabine hinein. Vroni beschimpfte sich dafür, aber es half nichts. Beim Hinuntergehen kam sie an der Tür von dem Chrobath vorbei und sie hatte kurz Lust, die Tür einzutreten. Sie ging aber langsam weiter. Sie konnte sich wegen der Hand nicht bewegen wie sie wollte. Sie mußte vorsichtig sein. Beim Hinuntersteigen fiel ihr ein, daß sie jetzt an diese Tat denken mußte wie das in dem Nazibuch für die Gedanken an den Führer reklamiert worden war. Die ganze Zeit mußte sie an ihre Verletzung denken. Vroni mußte lachen. Das war doch wie es in diesem Buch geheißen hatte. „Jeden Tag denken wir an ihn.“ Dann war doch dieses Denken an den Führer als würde es sich um eine Verletzung handeln, die sich selbst dauernd in Erinnerung brachte. Sie mußte lächeln. Da war es schon besser, verliebt zu sein und dauernd an Meran zu denken. Da war es sogar besser, unglücklich verliebt zu sein.

Auf der Straße war es dann aber wieder sehr schwierig. Vroni hatte große Sorge, jemand könne gegen ihre Hand stoßen. Sie ging auch lieber zu Fuß in die Hölderlinstraße als sich in die Straßenbahn zu drängen. Da war das Verbindungslokal der Teuto-Wanen.

Die Hölderlinstraße 66 war ein schmales Haus aus dem 19. Jahrhundert. Neben der Tür war das Wappen der Teuto-Wanen angebracht. In den vier Feldern des Herzwappens waren gekreuzte Schläger, die aufgehende Sonne, Eichenlaub und eine Leier zu sehen. Vroni seufzte. Die Bedeutung dieser Symbole sollte sie als Geschichtsstudentin herausfinden, aber manchmal war es schwierig, die Kraft dafür aufzubringen. Im Schulbuch vom Onkel Franz hatte sie gelesen „Und auf der Schulter trage ich ein richtiges Gewehr. Dann wohne ich nicht mehr bei Vater und Mutter daheim, sondern in der großen Kaserne draußen vor der Stadt.“ So ein Verbindungsheim war ja auch nichts anderes als der Bubentraum, nicht mehr bei Vater und Mutter daheim zu wohnen.

Gleich gegenüber vom Verbindungsheim fand Vroni das Café Leopold. Sie setzte sich an einen Tisch am Fenster. Sie hatte wohl zu lange zum Eingang hinübergeschaut. Der Kellner stand an ihrem Tisch und räusperte sich. Was sie bestellen wolle. Vroni bestellte eine Melange. Der Kellner brachte den Kaffee. „Wissen Sie etwas über die Studentenverbindung da drüben.“ fragte Vroni. Der Kellner lachte. „Was weiß ich nicht über die von da drüben. Die sind doch dauernd hier im Hinterzimmer. Die haben Probleme mit der Heizung und deshalb kommen sie lieber zu uns herüber. Aber warum interessiert Sie das.“ „Nur so.“ sagte Vroni. „Ich glaube, ein alter Nachbar von mir ist da Mitglied.“ „Wie heißt er denn. Aber ich kann Ihnen wahrscheinlich gar nicht helfen. Ich höre immer nur, wie die einander mit ihren anderen Namen anreden.“ „Ich weiß, wie der heißt.“ sagte Vroni. „Ich glaube, der nennt sich Maximus.“ „A.“ rief der Kellner. „Das ist der Kleine. Ja. Der ist da manchmal dabei. Der kommt aber nicht so oft. Ist wohl schon zu alt.“

Vroni beugte sich vor und lächelte den Mann strahlend an. „Eigentlich.“ sagte sie. „Eigentlich. Wissen Sie. Eigentlich suche ich einen Studienkollegen… Wissen Sie….“ Der Kellner nickte. „Ich verstehe. Na. Dann kommen Sie doch morgen abend hier vorbei. Da sind die alle da.“

„Das werde ich machen.“ sagte Vroni.

Diese Folge ist der Transgender-Person Hande Kader gewidmet. Hande Kader setzte sich in der Türkei für die Rechte und den Schutz von Transsexuellen ein. Die verstümmelte und verkohlte Leiche Hande Kaders wurde am 21. August 2016 in Istanbul entdeckt. Seit 2008 wurden etwa 40 Transgender-Personen in der Türkei ermordet.

***

Vroni hatte den Angreifer erkannt gehabt. Schon bei den ersten Fragen des Polizisten hatte sie nicht mit “Nein” antworten können. Aber da war sie wie gelähmt gewesen und hatte gar nichts sagen können. In der Rettung hatte sie sich schon an das Gesicht erinnert. Immer wieder war ihr dieses Gesicht in den Sinn gekommen und wie sie gesehen hatte, daß dieser Mann erschrocken dreingeschaut hatte. Er hatte sich die Zorromaske vom Gesicht gezogen und sie einen Augenblick verschreckt angestarrt. Dann war er die Stiegen hinunter davon galoppiert.

Sie war aber dann nach dem Spital wieder in der Wohnung vom Onkel Franz zurück, als ihr einfiel, daß sie diesen Mann aus den Vorlesungen im Seminarraum 1 vom Institut für Zeitgeschichte kannte. Das letzte Mal hatte sie ihn beim Vortrag “Der Handlungsspielraum der Opfer: Politiken des Widerstands gegen die Menschenversuche im Nationalsozialismus” von Paul Weindling gesehen.

Vroni hatte gerade mit ihrer Mutter geredet und gesagt, daß sie gerne ein Hühnersandwich essen würde, und da war es ihr eingefallen. Der junge Mann war mit einer älteren Frau da gewesen. Vroni hatte damals gedacht, daß das seine Mutter sein könnte. Er hatte seinen dunkelgrünen Rucksack auf einen Sessel zwischen diese Frau und sich gestellt gehabt und Vroni hatte ihn auffordern müssen, seinen Rucksack wegzunehmen und zur Seite zu rücken. Der Seminarraum war überfüllt gewesen. Trotzdem hatte der junge Mann seinen Rucksack nur widerwillig von dem Sessel genommen. Da war ihr wiederum schon eingefallen gewesen, daß sie diesen Studenten schon oft bei den Vorträgen im Seminarraum 1 gesehen hatte. Er war ihr aufgefallen, weil er nie mitschrieb und immer zurückgelehnt die Vortragenden fixierte. Er war dann mitten im Weindling-Vortrag weggegangen. Vroni war neben ihm gesessen und er hatte sich sehr dicht an ihr vorbei hinausgedrängt. Vroni wußte aber keinen Namen von diesem Mann.

Vronis Mutter war nach dem Überfall sofort aus Graz zu Vroni nach Wien gekommen und hatte Vronis Freundin Evelyn mitgebracht. Die Mutter konnte aber nur einen Tag bleiben. Sie arbeitete im Controlling in einem Medienbetrieb in der Steiermark und wegen der anstehenden Generalintendantenwahl gab es Gerüchte, daß große Strukturreformen zu erwarten waren. Der blaue Betriebsrat hatte beim Sommerfest bei der Erdbeerbowle durchblicken lassen, daß er die Frage der Autochthonie schon einmal ernst nehmen wolle und hatte eine Umfrage begonnen, wer von den Angestellten und den freien Mitarbeitern in der dritten Generation Österreicher sei und deshalb für den Bezug aller Sozialleistungen berechtigt wäre. Vronis Mutter hieß Manca und der blaue Betriebsrat erkundigte sich scherzend, was denn das für ein Name sei. Ein österreichischer Name sei das ja nun nicht und ob er sich für Vronis Mutter einsetzen solle, damit sie nicht in die Kategorie Ausländer gerate. Sie habe ja nun ihr ganzes Arbeitsleben in Österreich investiert und er könne da sicher etwas machen, wenn sie dann an der Macht wären. Die sozialdemokratischen Betriebsräte lachten über diese Bemerkungen und die schwarzen Betriebsräte schauten dem blauen Betriebsrat mit Verständnis zu. Vronis Mutter hatte deshalb Angst und wollte unter keinen Umständen einen Anlaß für Unzufriedenheit mit ihr geben. Aber sie fragte sich, ob es richtig gewesen war, die österreichische Staatsbürgerschaft anzunehmen.

Evelyn hatte ihr Strickzeug mitgebracht und setzte sich zu Vroni. Vroni hatte schreckliche Schmerzen. Die junge Ärztin in der Ambulanz im AKH hatte sich den Hergang der Verletzung schildern lassen und hatte dann genickt. Da hätte Vroni Glück gehabt. Gegen den Arm des alten Manns hätte ihre Hand dem Schlag durch den Baseballschläger so weit ausweichen können, daß zumindest keine Brüche entstanden wären. Die Prellungen wären aber schmerzhaft genug. Die Ärztin gab Vroni 3 Parkemed für die allernächste Zeit. Alle anderen Verschreibungen sollte Vroni sich bei ihrem Hausarzt besorgen, dafür sei die Ambulanz nicht zuständig. Vroni versuchte, der Ärztin zu erklären, daß ihre Hausärztin in Graz wäre und sie nur zu Besuch in Wien. Aber auch der Hinweis, daß Vroni das Opfer einer Kriminaltat geworden war, half nichts. Die Ambulanz war nicht zuständig und Ausnahmen wurden nicht gemacht. Auch Frau Fischer sagte, daß es sich doch nur um ein Rezept handle und daß niemand verlange, daß die Ambulanz das Medikament verschenken solle. Vroni bekam keine Verschreibung. Da hatte sie dann richtig zu weinen begonnen.

Gerade da war der Toni gekommen und der hatte sich um alles gekümmert. Die Frau Fischer hatte ihn auf Vronis Handy angerufen. Er war ja ohnehin im AKH in der Bibliothek zum Lernen gewesen und er hatte das Medikament auf der Herzstation besorgt, auf der er gerade in der Abendschicht famulierte. “Hier kann man nichts mehr regeln, ohne jemanden zu kennen,” hatte Frau Fischer gesagt. “Bei der Mafia kann es nicht schlimmer sein. So viel zu unserem tollen Gesundheitssystem.”

Vroni nahm dann alle zwei Stunden ein Parkemed. Die Schmerzen erinnerten sie an den Überfall und wie der alte Chrobath dagelegen hatte und es noch genossen hatte, daß sie gegen ihn machtlos sein würde. “Maximus” fiel ihr immer wieder ein. Das war wohl der Verbindungsname von diesem Mann. Vroni kannte sich bei Burschenschaften nicht aus, aber sie wußte, daß die sich neue Namen suchten. Der kleine Herr Chrobath als Maximus. Das war gar nicht komisch. Vroni mußte auch die ganze Zeit überlegen, ob sie nicht doch bei der Polizei etwas über diesen Studenten sagen sollte. Vroni hatte aber gehört, daß die Polizeigewerkschaft von der FPÖ beherrscht wurde, und sie dachte, daß der Chrobath und seine Burschenschafter von denen geschützt werden würden und sie nicht.

Dann kam die Frau Prokesch zu Besuch. Es läutete an der Wohnungstür und Evelyn ging aufmachen. Sie kam mit einer Frau ins Wohnzimmer zurück und sagte, “Das ist die Frau Prokesch. Sie ist eine Nachbarin von dir und will dich sprechen. Dann hast du ja Gesellschaft. Ich gehe rasch einkaufen.”

Die Frau Prokesch trug ein mintgrünes Leinenkleid und mintgrüne Ballerinas und sie hatte einen Vuittonbeutel mit. Vroni dachte, daß sie so um die Fünfzig war wie ihre Mutter. Die Frau Prokesch setzte sich Vroni gegenüber. “Sie haben sozusagen große Schmerzen.” sagte sie. Vroni konnte nur nicken. “Das waren sozusagen Identitäre, die diesen Überfall gemacht haben.” Vroni zuckte mit den Schultern. Ganz genau konnte sie das ja nicht sagen. “Das ist sozusagen ein weiterer Schritt in der Eskalation zwischen dem Chrobath und dem Waldner.” Auch das wußte Vroni nicht wirklich. Die Frau Prokesch starrte Vroni an. Vroni dachte, daß diese Frau eine neugierige Tussi sei und schaute auf den Vuittonbeutel. “Das ist ihr Onkel.” fragte die Frau. “Großonkel.” besserte Vroni aus. “Gut.” sagte Frau Prokesch. “Ihr Großonkel.” Dann starrte die Frau wieder auf Vronis Hand. “Ich mache mir große Sorgen.” sagte sie. Vroni zuckte wieder mit den Achseln. Sie konnte im Gesicht dieser Frau keine Sorgen sehen. Sie konnte im Gesicht dieser Frau überhaupt keine Gefühle sehen. Die war doch nur eine neugierige Spießerin. “Wenn dieser Höflein die Wahlen gewinnt. Der braucht nur sagen “Ich gelobe.”, und sein nächster Satz kann schon sein, “Ich entlasse die gesamte Regierung und löse den Nationalrat auf.” Vroni mußte seufzen. Ging das wirklich so einfach. Sie konnte sich das nicht vorstellen. Es gab doch eine Verfassung, die genau das verhindern sollte. Österreich war doch ein demokratisches Land. Da konnte niemand so einfach die Volksvertretung auflösen. “Es ist sich sozusagen niemand im Klaren wie gefährlich unsere Situation ist. Ich bin Juristin, wissen Sie.”

Frau Prokesch hatte sich weit zu Vroni hinüber vorgebeugt. Vroni lehnte sich zurück und die Hand schmerzte gleich wieder höllisch. Vroni wollte wieder ein Parkemed nehmen. Sie griff nach der Schachtel auf dem Tischchen vor dem Sofa. Frau Prokesch kam ihr zuvor. Sie hielt die Packung fragend hoch. Vroni nickte und Frau Prokesch ging in die Küche. Sie kam mit einem Glas frischen Wassers zurück. Vroni nahm die Tablette. Frau Prokesch schaute ihr zu. “Ich mache mir Sorgen wegen meiner Buben. Wissen Sie. Mein Mann und ich. Wir sind Paten von zwei pakistanischen Teenagern, die unbetreut nach Wien geflüchtet sind und hier jetzt einmal einen vorläufigen Aufenthalt haben. Die haben 2 Jahre für den Weg hierher gebraucht. Wissen Sie. Die holen jetzt sozusagen in aller Eile ihre Schulbildung nach und das geht alles sehr gut. Aber was wird aus denen. Was soll aus denen werden. ” Die Frau Prokesch stand wieder auf. Sie schaute auf Vroni hinunter. “Geben Sie auf sich acht. Es tut mir leid, was Ihnen passiert ist. Ich komme sie wieder besuchen.” Frau Prokesch nahm ihren Vuittonbeutel. Vroni setzte sich auf. “Können Sie noch bleiben.” fragte sie. Die Frau Prokesch setzte sich. “Sie können nicht allein in der Wohnung bleiben?” Vroni seufzte. “Das ist sozusagen normal. Unter den Umständen.” lächelte Frau Prokesch und blieb sitzen. Vroni wußte immer noch nicht, wie sie diese Frau einschätzen sollte, aber sie war sehr froh, daß sie bei ihr blieb.

Evelyn kam dann zurück. Frau Prokesch verabschiedete sich. Evelyn meinte, daß die nett sei. Vroni konnte nichts sagen. Sie ging ins Badezimmer und ließ sich lauwarmes Wasser ins Waschbecken ein. Vroni hatte im internet herausgefunden, daß man bei Prellungen nach 24 Stunden mit Bewegungsübungen in lauwarmem Wasser beginnen solle.

Vroni stand vor dem Waschbecken und ließ ihre rechte Hand im lauwarmen Wasser schwimmen. Sie konnte sich nicht dazu durchringen, eine Faust zu machen. Ihr ganzer Körper sträubte sich dagegen und ihr Solarplexus krampfte. Es läutete an der Tür. Evelyn ging hin. Nach langem kam sie zu Vroni ins Badezimmer zurück und sagte, “Da war jetzt ein Ausländer da. Weißt du. Dunkle Augen. Dunkle Haare. Aber ich hab ihn weggescheucht. Wir brauchen keinen Koran, habe ich ihm gesagt. Mach dir keine Sorgen. Ich habe nur durch die Tür mit dem geredet. Ich habe die Tür nicht einmal aufgemacht.”

“Hat der einen langen Bart gehabt,” fragte Vroni. “Nein.” Evelyn überlegte. “Eher so einen Dreitagesbart. Der hat ganz gut ausgeschaut. Eigentlich.” “Evelyn. Hast du. Nein. Du hast den Meran nie gesehen. Evelyn! Das kann der Meran gewesen sein.” Vroni stürzte zur Tür. Sie mußte mit der linken Hand die vielen Schlösser aufsperren. Die rechte Hand hatte sofort zu pochen begonnen. Auf dem Gang war niemand zu sehen. Vroni stand in der Tür. Sie war sicher, daß das Meran gewesen war, der zu ihr gewollt hatte. Wo war er jetzt.

Diese Folge ist Maida Yakubu und ihren 275 Mitschülerinnen gewidmet, die im April 2014 von Boko Haram Kämpfern aus einer Schule im Nordosten von Nigeria entführt worden waren. In einem gerade veröffentlichten Video sagte Maida Yakubu; “There is no kind of suffering we haven’t seen…” Boko Haram bietet die noch lebenden Mädchen im Austausch gegen gefangengenommene Boko Haram Kämpfer an.

Toni hatte eigentlich nicht zu Chrobath zum Frühstück gehen wollen, aber Vroni hatte ihn gedrängt, es doch zu tun. Sie hatte Toni erzählt, daß Chrobath über den Großonkel im gleichen Ton wie die Maranzkers in Thal über ihren Großonkel geredet hatte. Nur die hätten “der alte Schwuli” hinter dem Rücken vom Onkel Franz gesagt und nicht so ins Gesicht wie der Chrobath. Die Vroni hatte gemeint, daß der Toni und sie trotzdem alles tun sollten, daß die Situation im Haus für den Onkel Franz nicht noch schwieriger werden sollte, und der Toni war zum Chrobath gegangen. “Es ist doch immer mehr in den Leuten als man sehen kann.” hatte Vroni gesagt. “Man kann doch nie wissen, ob der nicht eigentlich doch nett ist. Niemand hat gedacht, daß die Biker vom Lechner Beisl sich so um diese syrische Familie kümmern würden.”

Die Vroni hatte aber dann mit dem Toni gar nicht reden können, weil schon um halb acht in der Früh der Installateur in die Wohnung wollte. Dann kam auch noch eine Frau von der Hausverwaltung, die mit dem Installateur nach der Ursache vom Wasserschaden beim Chrobath suchte. Vroni mußte dauernd jemandem die Tür aufmachen und wieder verschließen. Der Onkel Franz hatte wegen der Türschlösser genaue Anweisungen hinterlassen und die Vroni hatte ihn für paranoid gehalten. Nachdem sie den Dr. Chrobath getroffen hatte, verstand sie ihn aber sehr gut, und sie hielt sich daran, alle Schlösser jedesmal zu versperren.

Vroni war müde. Wegen des Meran schlief sie ohnehin kaum, aber in der letzten Nacht war sie gar nicht zum Schlafen gekommen. Sie hatte sich dann auf den Balkon gesetzt und auf die Sonne gewartet. In der Türkei ging es mit den Verhaftungen weiter. Aber in den Zeitungen war darüber nichts mehr zu finden. Am Vortag waren noch die Bilder von Erdogan und Putin in den Zeitungen zu sehen gewesen. Vroni war erstaunt gewesen, daß Erdogan größer zu sein schien als Putin. Jedenfalls hatte es auf den Fotos so ausgesehen, als würde Erdogan auf Putin hinunterlächeln müssen. Und sie hatten gelächelt. Die beiden Männer hatten einander in die Augen gesehen und wie in einem innigen Einverständnis einander zugelächelt. Wie bei einem Liebespaar hatten die Blicke dieser beiden Männer die Welt ausgeschlossen.

Am Morgen war der Himmel dann bedeckt gewesen und die Sonne war hinter den Wolken aufgegangen. Vroni hatte überlegt, ob die Verhaftungen all dieser Personen in beiden Ländern die Voraussetzung war, daß diese beiden Männer einander so innig in die Augen sehen konnten. Als würden diese vernichteten Personen den Grund der Netzhaut bilden, hatte das ausgesehen, dachte sie, und sie wußte gleich, daß sie wieder den ganzen Tag nichts essen können würde.

Die Frau von der Hausverwaltung war dann mit dem Installateur in die Wohnung von Chrobath hinuntergegangen. Der Toni war schon lange wieder weg. Vroni hatte sich aufs Bett gelegt und auf den display von ihrem Handy gestarrt. Sie wachte wieder vom Hämmern und Schreien gegen die Wohnungstür auf. Vroni lag einen Augenblick. Warum dieser Mann nicht klingeln konnte. Immerhin schrie er nicht mehr “Gsindel” und “rausschmeissn”.

Vroni brauchte lange, bis sie zur Wohnungstür kam. Dann waren die vielen Schlösser aufzusperren. Der Mann hörte nicht mit dem Hämmern auf. Vroni wurde wütend. “Was wollen Sie denn noch.” schrie sie auf ihrer Seite der Tür. “Die Wahrheit.” schrie der Mann zurück. “Die Wahrheit.”

Vroni konnte nur den Kopf schütteln. Was für eine Wahrheit konnte das sein. Aber kaum hatte sie die Tür aufgesperrt und einen Spalt geöffnet, drängelte der alte Mann sich in die Wohnung herein. “Das kann ja alles nicht wahr sein.” schrie er. “Das ist eine Verschwörung.” Vroni versuchte noch, den Mann draußen zu halten, aber es gelang ihr nicht. Chrobath brüllte ihr ins Gesicht, “Ihr steckt alle unter einer Decke.”

Vroni war so müde, daß sie einen Augenblick überlegte, was für eine Decke gemeint sein könnte. Der Mann konnte doch nicht die Decke mit dem braunen Fleck gemeint haben. Aber da war Chrobath schon zur Toilette gestürzt und kroch in dem kleinen Raum auf dem Boden herum. Er legte seine Hand auf den Boden und roch dann an der Hand. Er fühlte hinter der Toilette. “Hier ist nichts.” sagte Vroni. Sie schaute dem Mann vom Gang aus zu wie der in den Ecken schnüffelte. “Hier ist alles in Ordnung.” “Es muß hier sein.” murmelte der Mann. “Hier irgendwo muß die Stelle sein. Von hier kommt dieser Dreck.” “Aber der Installateur hat nichts gefunden.” Vroni war empört. Dieser Chrobath sagte das alles mit so einer Gewißheit. “Installateur. Installateur. Den haben Sie wahrscheinlich bezirzt. So macht Ihr das doch. Ihr jungen Frauen. Ihr laßt die Euren Busen anschauen und dafür bekommt Ihr alles.” Da ging Vroni und riß die Wohnungstür auf. “Gehen Sie bitte.” rief sie. “Gehen Sie doch.” Aber der Mann kroch weiter auf dem Boden von der Toilette in alle Ecken. Vroni ging zu ihm zurück und sagte wieder, er solle die Wohnung verlassen. “Verlassen Sie diese Wohnung.” “Sie haben hier gar nichts zu sagen. Warten Sie nur, bis Ihr feines Onkelchen wieder zurück ist. Jetzt habe ich ihn nämlich.”

Dr. Chrobath kam auf allen Vieren auf den Gang heraus. Er richtete sich mühsam auf und wankte zur offenen Wohnungstür. Vroni schloß gerade die Toilettentür, da hörte sie die Geräusche. Es war ein Klatschen und Knacken. Der alte Mann seufzte laut auf. Vroni rannte zur Tür. Chrobath lehnte gegen den Türrahmen. Der eine Mann war schon fast auf der Stiege. Der andere stand noch vor Chrobath. Er schaute auf. Vroni griff nach Chrobath, damit er nicht umfallen sollte. Der Mann holte mit dem Baseballschläger aus. Er schlug auf Chrobath ein und traf Vronis rechte Hand, mit der sie Chrobaths Schulter festhalten hatte wollen. Chrobath sank zu Boden. “Ihr Deppen. Das war doch für den Kaindlinger gedacht. Das bin doch ich. Ich bin es doch. Der Maximus.”

Vroni stand da. Der Mann mit dem Baseballschläger lief zur Stiege und drehte sich noch einmal um. Er schaute Chrobath erschrocken an. Dabei zog er sich die Zorromaske vom Gesicht. Vroni starrte diesen Mann an. Dann mußte sie sich auf die Fußmatte setzen und sich gegen die andere Seite des Türstocks lehnen. Sie hörte die Männer die Stiegen hinunterlaufen.

Chrobath saß auf dem Boden. Er lachte. “Das hätte doch für den alten Schwuli sein sollen.” Er lachte wieder. Er bekam Schluckauf. Dann rang er nach Atem. Er gab schnappende Laute von sich. ” Der Kaindlinger. Diese Drecksau.” flüsterte er und dann lachte er wieder.

Vroni hielt ihren rechten Arm am Ellbogen. Wie ein Baby, dachte sie. “Ich halte meinen eigenen Arm wie ein Baby.” Sie fühlte gar nichts. “Ist das Ihr Werk.” fragte sie Chrobath. Der kicherte. “Haben Sie diese Schläger bestellt.” Chrobath wollte sich aufsetzen. Es gelang ihm aber nicht. Er lag auf dem Boden und schaute zu Vroni hinauf. “Doch.” sagte er dann. “Es wird doch langsam Zeit, daß wieder eine Ordnung wird.” Vroni schaute von ihm weg. “Wir haben keine Zeugen.” sagte der alte Mann. “Sie können mir nichts nachweisen.” Vroni saß still. “Es wird mir ein Vergnügen sein, daß Sie das jetzt wissen.” flüsterte der alte Mann. Er lag mit geschlossenen Augen auf den Gangfliesen.

Sie wurden von Frau Fischer gefunden. Frau Fischer kam aus dem Lift und schaute gar nicht in ihre Richtung. Vroni konnte erst nichts sagen oder rufen. Es war ein lauter Seufzer, auf den Frau Fischer sich umdrehte.

Frau Fischer holte die Rettung. Die Polizei kam. Vroni wollte nicht weg. Die Wohnung. Wer würde auf die Wohnung achtgeben. Frau Fischer versperrte die Wohnungstür vom Onkel Franz und kam mit Vroni in der zweiten Rettung mit. Die erste Rettungsmannschaft war mit Chrobath sofort weggefahren. Die Polizisten wollten von Vroni wissen, ob sie die Angreifer erkannt habe. Da mußte Vroni plötzlich weinen. Frau Fischer sagte dem älteren Polizisten, daß sie mit Vroni auf die Wache kommen würde. Jetzt sollte Vroni einmal medizinisch versorgt werden.

“Wieso haßt der meinen Onkel so.” fragte Vroni auf der Fahrt ins AKH. “Sie meinen den Chrobath und ihr Onkel Kaindlinger. Der Chrobath will doch nur die Wohnung von ihrem Onkel. Der Chrobath braucht Platz für seine Uhrensammlung und da hat er sich vorgestellt, er baut nach oben aus. Aber Ihr Onkel will nicht verkaufen, und warum soll er auch. Nein. Nein. Das ist wie immer. Da geht es um den Platz. Und sonst nichts. Das sind doch immer Vorwände. Solche Haßtiraden. Es würde mich nicht wundern, wenn er den braunen Fleck selber fabriziert hätte.” Frau Fischer versuchte immer wieder Vronis gesunde Hand zu halten. Aber Vroni konnte gar nicht zuhören. Die Schmerzen in der Hand übertönten mit einem Mal alles. Dann waren die Schmerzen überall und sie bekam keine Luft mehr.

Diese Folge ist der jungen Frau aus Marokko gewidmet, die sich am 29. Juli 2016 selbst verbrannte, nachdem ihre 8 Vergewaltiger gedroht hatten, handyvideos von ihrer Vergewaltigung zu veröffentlichen. Die angezeigten Männer waren bis zur Gerichtsverhandlung aus der Haft entlassen worden. Seit 2011 gibt es in Marokko eine neue Verfassung, die gender equality verspricht.

***

Das Hämmern gegen die Wohnungstür und das Schreien draußen hörten nicht auf. Vroni setzte sich im Bett auf. Sie wußte nicht gleich, wo sie war. Dann stand sie auf und taumelte zur Wohnungstür. Auf dem Gang konnte sie das Geschrei verstehen. “Gsindel!” schrie da jemand. “Rausschmeißn! Rausschmeißn und durchgreifen!”

Vroni brauchte lange, die 3 Sicherheitsschlösser aufzusperren, die der Onkel Franz an seiner Wohnungstür angebracht hatte. Der Mann vor der Tür schlug mit der Faust gegen die Tür. Jede Silbe seines Geschreis wurde mit einem Schlag betont. “Raus- schmei-ssen. Durch-grei-fen.” Vroni hörte eine Frauenstimme. Das Gehämmer und Geschrei ging weiter. “Raus-schmei-ssen. Durch-grei-fen.” Die Frau war gar nicht zu verstehen, so laut wurden die Parolen von dem Mann gerufen.

Dann hatte Vroni alle Schlösser aufgebracht. Sie riß die Tür auf. Draußen stand ein kleiner Mann in einem dunkellila Morgenmantel mit kirschrotem Passe-poil. Er hielt noch die Faust in die Höhe, um gegen die Tür zu schlagen. Er starrte sie überrascht an. Hinter ihm sah Vroni eine Frau im Nachthemd. Die Frau lächelte Vroni gähnend an. “A!” sagte sie. “Sie müssen die Großnichte sein.” Vroni nickte. Der Mann schaute von ihr zu der Frau im Nachthemd. Dann wandte er sich wieder Vroni zu. “Der alte Schwuli?” Er brach ab. Er ließ den Arm sinken und begann mit den kirschroten Quasten am Gürtel seines Morgenmantels zu spielen. ”Es gibt wieder einen Wasserschaden.” sagte er. Er sagte das böse und schaute zwischen Vroni und die Frau im Nachthemd hin und her. “Das ist aber kein Grund sich so aufzuführen.” sagte die Frau. “Liebe Frau Dr. Fischer.” Der Mann verzog angeekelt sein Gesicht. “Liebe Frau Dr. Fischer. Wenn bei Ihnen die Scheiße von der Decke tropfen würde, dann ist es auch bei Ihnen mit der Höflichkeit vorbei.”

Die Frau trat einen Schritt zurück. “Herr Chrobath. “Schwuli” hat mit höflich oder unhöflich nichts zu tun.” “Paperlapapp.” Der Mann wandte sich wieder Vroni zu. “Schwul. So wollen die doch selbst genannt werden. Die nennen sich doch selber “schwul”. Sie sehen, ich bin total korrekt.” Die Frau lächelte Vroni zu. “Es tut mir leid, daß ihr Aufenthalt hier gleich so anfängt.” “Schluß mit dem Geschmuse.” Der Mann kam auf Vroni zu. Vroni trat unwillkürlich zurück. Der Mann drängelte sich an ihr vorbei in die Wohnung. “In meinem Badezimmer ist ein Fleck an der Decke und das muß von hier kommen.” Er lief ins Badezimmer. Die Frau war in die Wohnung nachgekommen und schaute dem Mann zu. “Ich gehe nur schnell und hole mir etwas zum Anziehen.” sagte sie und verschwand in ihre Wohnung auf der anderen Seite des Stiegenabsatzs.

Vroni überlegte. Was war passiert. Hatte sie etwas falsch gemacht. Sie hatte nur geduscht. Hatte der Toni? Sie hatte ihn nicht nach Hause kommen gehört. Aber das war doch unmöglich. Warum sollte einer von ihnen das Badewasser nicht abgedreht haben. Ein Rohrbruch? Sie mußte den Onkel Franz anrufen.

Vroni ging in die Küche und rief nach Toni. Sie bekam keine Antwort. Sie riß die Tür zum Kabinett hinter der Küche auf. Das Bett war unberührt. Toni war noch gar nicht zu Hause. Sie lief zur Wohnungstür. Sie hatte richtig gehört. Sie hatte die Lifttür gehört. Toni stand schon in der Wohnung.

Vroni mußte tief Luft holen. Sie wollte Toni alles erzählen, aber da kam der Mann aus dem Badezimmer heraus. Er schaute sehr wütend drein. Dann sah er Toni und blieb stehen. “Aha.” sagte er. Toni drehte sich zu Vroni. “Was ist denn los.” fragte er. Er hängte seine Tasche an einen Garderobehaken. Vroni konnte nur mit den Achseln zucken. “Der Herr Chrobath behauptet, einen Wasserschaden zu haben.” Die Frau aus der Wohnung gegenüber stand in der Wohnungstür. “Am besten wird es sein, wir schauen uns den Schaden einmal an.”

“Doktor Chrobath. Wenn ich bitten darf.” Der Mann lächelte Toni an. “Wir sind nämlich noch stolz auf unsere akademischen Errungenschaften.” sagte er. “Wir nehmen unseren Stand ernst.” “Na wir brauchen das nicht.” sagte die Frau. “Übrigens. Mein Name ist Helene Fischer.” Vroni schaute erstaunt. “Ja.” sagte die Frau. “Ich kann nichts machen. Ich habe schon immer so geheißen.” “Ja. Weil sie nicht den Namen ihres Manns angenommen haben.” Dr. Chrobath war schon auf der Stiege. “Ihr Onkel hat mir gesagt, daß sie auf seine Wohnung aufpassen.” sagte Frau Fischer. “Schönes Aufpassen.” rief Dr. Chrobath von unten herauf. “Nehmen Sie das alles nicht ernst.” sagte Frau Fischer. “Sie werden sich auch an den Herrn Chrobath gewöhnen. Wir haben uns alle an den Herrn Dr. Chrobath gewöhnt. Und Sie müssen der Toni sein.”

Dann gingen sie alle die Stiegen hinunter. Die Wohnungstür stand offen. Dr. Chrobath stand im Badezimmer. “Da!” rief er. “Da!” Frau Fischer ging an die Badewanne heran. “Ja. Da ist ein feuchter Fleck.” sagte sie. “Aber ein Fleck. Der schaut mir alt aus.” “Ein riesiger brauner Fleck ist das. Die Scheiße von dem Richter kommt durch.” “Aber die Toiletten sind doch viel weiter links. Das ist etwas anderes.” “Ich schaue noch einmal.” rief Toni und lief aus der Wohnung.

Vroni war zum Weinen. Sie hatte seit sie in Wien war nichts mehr von Meran gehört. Er war vor drei Wochen in die Türkei zurückgefahren. Sein Großvater war krank geworden. Seit dem Putsch hatte sie ihn nicht mehr erreichen können. Sein Telefon war tot und er antwortete auf die mails nicht. Sie hatte sich das alles so schön vorgestellt. Sie wären endlich längere Zeit in Wien zusammengewesen, weil Meran da bei der Unido gearbeitet hatte. Aber dort wußten sie auch nichts. Bisher hatte der Meran nach Graz kommen müssen, wenn sie einander sehen hatten wollen. Der Toni hatte sein WG Zimmer für den Sommer vermietet, weil sie auf die Wohnung vom Onkel Franz während seiner Kur im Bad Tatzmannsdorf aufpassen sollten. Sie hätten diese schöne Wohnung gehabt. Sie hatten es nur gut haben wollen. Alle zusammen sollten eine gute Zeit haben. Dieser Sommer hätte die schönste Zeit überhaupt werden sollen.

Frau Fischer war Toni in die Wohnung hinauf nachgegangen. Dr. Chrobath ging auf dem Gang in seiner Wohnung auf und ab. Er murmelte sein Gstanzl vor sich hin. “Raus-schmei-ssen. Durch-grei-fen.” Toni kam von oben zurück. Er könne nichts finden. Das müsse ein Fachmann ansehen. Dr. Chrobath schüttelte den Kopf. “Das kann nicht sein.” sagte er. Er lächelte Toni an. Toni schüttelte den Kopf und seufzte hilflos. “Was soll man da machen als wieder schlafen gehen.” sagte Frau Fischer.

Dr. Chrobath ging in sein Badezimmer zurück und starrte auf den Fleck hinauf. Frau Fischer stellte sich zu ihm neben die Badewanne. Toni und Vroni schauten durch die Tür zur Decke hinauf. Der Fleck war so groß wie ein Handtuch und an den Rändern dünkler braun. Alle starrte hinauf. Plötzlich hob Chrobath seine Hände und ballt sie zu Fäusten. Er drehte sich zu Frau Fischer herum und schrie: “Ihr werdet schon sehen. Der Höflein wird gewinnen. Und dann schmeissen wir den Kanzler und das Parlament hinaus. Dann wird durchgegriffen. Und den Schilling führen wir auch wieder ein. Und Sie. Frauen wie Sie. Frau Dr. Fischer. Die. Die schicken wir in die Verbannung.” Frau Fischer ging rückwärts aus dem Bad. Sie hielt Chrobath die Hände abwehrend entgegen. Sie drängte sich zwischen Toni und Vroni durch und auf den Gang. Chrobath hielt die Fäuste hoch. Er zitterte am ganzen Körper. Sein Kopf war rot geworden. Vroni dachte, daß das Rumpelstilzchen so ausgesehen haben mußte. Die Wut schüttelte den Mann so, daß es ihn in der Mitte durchreißen hätte können. Er stand einen Augenblick so. Dann ließ er die Arme fallen und nickte bedeutungsvoll. “So stellen Sie sich das alles vor.” sagte er und schaute sich erschöpft um. “Immer den Problemen aus dem Weg gehen. Es ist höchste Zeit, daß das alles anders wird.” Frau Fischer drehte sich weg und ging davon. Sie rief noch “Gute Nacht” und “Wir reden morgen.”

Vroni mußte wieder seufzen. Dr. Chrobath wandte sich an Toni. “Sie müssen mir die Wohnung oben zugänglich machen.” sagte er wieder freundlicher. Toni nickte. “Dann muß ich morgen halt hier lernen. Was machst du?” Vroni zuckte mit den Achseln. Sie trug ihr handy bei sich. Sie wartete auf ein Lebenszeichen von Meran. Sie las die Zahlen der Verhaftungen in der Türkei und zählte die Angriffe auf kurdische Gebiete. Lernen konnte sie dabei nicht, wie sie das vorgehabt hatte. Sie ging in die Hauptbibliothek und las alle Zeitungen, die man da haben konnte, in der Hoffnung, etwas über die Türkei herauszufinden. Sie fürchtete sich aber auch davor, Meran auf einem der Bilder von den Massenverhaftungen zu entdecken.

Vroni ging dann in die Wohnung vom Onkel Franz zurück. Sie hörte noch, wie der Dr. Chrobath den Toni zum Frühstück einlud. Damit man einen Schlachtplan machen könne, wie man diesem dreckigen Fleck zu Leibe rücken solle. Da müsse nämlich eine radikale Lösung gefunden werden. Es ginge nicht, daß es so durch die Wände hereinsickere. Er wolle Ordnung, sagte der Dr. Chrobath. Und die würde ja auch kommen. Eine neue Ordnung. Was er damit meine. Aber Vroni war schon bei der Wohnungstür und hörte nichts mehr.

Toni kam die Stufen heraufgelaufen. “Ist dieser Mann zuckerkrank?” fragte er. “Solche Wutausbrüche und Stimmungsschwankungen sind Symptome.” Vroni konnte nur den Kopf schütteln. Der Alterschwachsinn dieses Manns interessiere sie in keiner Weise, murmelte sie. “Keine Nachricht.” fragte Toni und schob seine Schwester in die Wohnung. “Scheiße!” sagte er. Vroni nickte.

Diese Folge ist Sohair al-Bata’a gewidmet. 2013 starb sie mit 13 Jahren in Ägypten an den Folgen einer vom Vater erzwungenen Genitalverstümmelung. Der Arzt, der die Genitalamputation vornahm, wurde erst freigesprochen und nur nach heftigen Protesten wegen Todschlags zu drei Monaten Haft verurteilt. Raslan Fadl hatte sich durch Zahlungen an die Familie freigekauft. Er praktiziert weiter als Chirurg.

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Beinahe Rechtsruck - knapp verfehlt

© Heribert Corn
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Am 22. Mai 2016 wurde bei der Wahl zum Bundespräsidenten eigentlich über die Demokratie abgestimmt. Es wurde darüber abgestimmt, ob Österreich beim vertragstheoretischen Modell der Demokratie bleibt oder ein Vaterland der Autochthonen wird.

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Denn. Die Freiheitliche Partei meint es ernst. Schon im Namen ist nicht das Wort Freiheit angeführt. Freiheitlich. Das ist dann nur mehr eine Ableitung. Das muss so sein. Die Freiheitliche Partei hat sich das Opfersein zum Programm gemacht und Opfer sind nicht frei. Damit konnte die FPÖ ein Identifikationsangebot für alle anbieten, die sich persönlich als Opfer fühlen.

Die FPÖ hat sich das Opfersein zum Programm gemacht

Und. Der Opfermythos Österreichs nach dem 2. Weltkrieg kann hier offen staatstragend verständnisvoll angewendet werden. Österreicher waren immer Opfer, heißt das. Die anderen haben Österreich zum Opfer gemacht. Das politische Establishment hat die Österreicher nicht verteidigt. Jetzt kommt der Retter. Erlöserphantasien.

Dass die Einweisung Österreichs in die neoliberale Globalisierung von der FPÖ gemeinsam mit der ÖVP 2000 begonnen wurde, das interessiert die, nun die Folgen dieser Maßnahmen spürenden Männer nicht. Imgrund wurde an diesem Wahltag über die Haltung zur französischen Revolution abgestimmt und die Reaktion hat sich offen gezeigt.

Das hat wohl auch mit dem endgültigen Ende der Nachkriegszeit zu tun, dass niemand sich mehr geniert, rassistische Vorschläge offen zu unterstützen. Die FPÖ will ja über die Dokumentation der Herkunft und der Muttersprache eine Kaste der Eingeborenen schaffen, die am Sozialsystem beteiligt werden. Ausländer. Gastarbeiter. Die sollen eine getrennte Sozialversicherung bekommen, aus der sie nur bekommen können, was sie eingezahlt haben.

Die Ausländerin soll kein Kindergeld für ihre Kinder bekommen. Damit verliert sie aber auch Pensionsansprüche. Im Kosmos der FPÖ arbeiten Frauen aber ohnehin nicht, sondern sind mit dem Kind verschmolzen. Frau Sein heißt Kindhaben. Der Mann wird wieder zum Hausvater des bürgerlichen Gesetzbuchs von 1811.

Die Bruchlinie verläuft wieder zwischen Stadt und Land

In einem TV-Bericht sagte ein älterer Mann, wenn Hofer zum Bundespräsidenten gewählt werde, der würde alles richten. Von den Arbeitsplätzen bis zum Geld. "Alles richten". Es geht um Ordnung. Das Leben wird nicht als Prozess steter Veränderung ausgehalten. Es soll alles seine Ordnung bekommen. Und. Der Rassismus, der im Konzept der Autochthonie enthalten ist. Dieser Rassismus soll an den Staat delegiert werden. Damit wird der Rechtsstaat aufgehoben und die totalitäre Machtausübung vorbereitet.

Die Bruchlinie verläuft wieder zwischen Stadt und Land. Zum Jahr 1929 ist nun noch der Bruch zwischen Männern und Frauen dazugekommen. Es geht also Männer am Land gegen Frauen in der Stadt. Ein Ausweg wäre natürlich, die "Freie Republik Wien" zu gründen. Warum nicht wieder Stadtstaaten, in denen die Frauen ihre Leben frei gestalten können und nicht die reaktionäre heteronormative Familie der FPÖ leben müssen.

In allem und vor allem im Geschlecht. Es geht um die Ordnung des Totalitären. Die "anderen" werden in Zurichtung genommen, damit den "einen" der Genuss des Staatssadismus zur Abgeltung der Komplizenschaft geboten werden kann. Besser wird es dadurch nicht. Die Schweizer und Schweizerinnen haben es schon gelernt und wollen nicht mehr so viel ausschließen. Der Ausschluss der Migranten hat zu wirtschaftlichen Nachteilen geführt. 

Marlene Streeruwitz

 

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