Afghanistan: Dramatischer Rückschritt

Maria von Welser im Gespräch mit Afghanistannen.
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Ihren schwarzen Schal mit den weißen Punkten hat sie lässig über ihr rötlich-gewelltes Haar geschlungen. Lailoma Ahmad sieht mich freundlich an. Wir stehen vor der Schranke der Polizeihauptwache in Kabul. Die 42-Jährige ist Kriminalkommissarin, eine von drei Frauen unter 230 männlichen Kollegen. Sie hat mir ein Interview zugesagt. Aber dazu wird es nicht kommen.

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Nervös geht sie zweimal rein und raus aus dem riesigen Gebäudekomplex. Für das Foto, um das wir inständig bitten, steht sie fast wie eine Diebin an der mit Stacheldraht bewehrten Mauer der Hauptwache. Es muss schnell gehen, sagt sie. Meine Fragen will sie später im Büro beantworten. Sie ist spürbar unter Druck. Jetzt dürfen wir hinein in die Polizeistation. Vorher noch: sechs Taschen- und Körperkontrollen. Zu oft sind in den letzten Monaten Bomben von Selbstmordattentätern vor und in den Behördenbauten explodiert. Innen drin laufen hunderte von Männern wie Wiesel durch die Gänge. Wir müssen zu Lailomas Boss. Aber – der ist nicht da. Dann zum Vize. Wir, drei Frauen: Lailoma die Kommissarin, ich die Reporterin und die afghanische Übersetzerin.

Ich erlebe, wie afghanische Männer Frauen behandeln:
Gar nicht.

Jetzt erlebe ich mal wieder ein Lehrstück, wie afghanische Männer Frauen behandeln. Nämlich gar nicht. Er, der Vize-Boss, sieht kaum auf. Geschweige denn, dass auch nur einer der vier Polizisten in seinem Büro sich erhebt. Wir sitzen wie vor einem Richter. Warten höflich. Die anwesenden Herren bekommen Tschai angeboten, Bonbons auf Tellern gereicht. Uns beachtet keiner.

Ich will Lailoma eine Frage stellen. „Später“, winkt die Übersetzerin leise ab. Aber ein später gibt es nicht. Der Vize schüttelt nach einer Stunde auf unsere erneute Bitte um ein Gespräch mit Lailoma ungnädig seinen Kopf und scheucht uns mit einer arroganten Handbewegung aus seinem Zimmer. Das war’s. Die Polizistin lächelt tapfer. Ich bin fassungslos ob einer solchen Behandlung. Im Gang ruft sie noch: „Ich rufe Sie an, dann beantworte ich alles!“ Der Anruf kommt nie.

Dabei ist Lailoma in einer privilegierten Position. Sie hat einen Job, sie lebt in Kabul. Sie kommt zurecht in der Männerwelt. Für die meisten anderen der elf Millionen Afghaninnen aber hat sich seit der Bombardierung ihres Landes durch die ­Alliierten im Jahre 2001 wenig verbessert. Millionen Frauen werden weiterhin geschlagen; Tausende wegen so genannter „Vergehen gegen die Sittlichkeit“ jahrelang eingesperrt; Hunderte von Fremden oder dem eigenen Mann ermordet. Der Westen scheint die Frauen längst aufgegeben zu haben. Dabei wollte die NATO 2001 angeblich vor allem den Frauen ihre Rechte „zurückbomben“, nach der frauenfeindlichen Herrschaft der Taliban. Die „Achse des Bösen“ vernichten, wie es der damalige US-Präsident George W. Bush formuliert hat. Aber das ist Geschichte.

Tatsache ist heute: Jeden Tag kommen Nato-Soldaten um, immer öfter werden sie in so genannten „Insider-Angriffen“ von Afghanen in Uniform getötet, die sie selber ausgebildet haben. Tatsache ist auch, dass jeden Tag irgendwo in dem 650000 Quadratkilometer großen Land eine Bombe explodiert, sich ein Selbstmordattentäter in die Luft jagt und Menschen sterben. Männer, Frauen, Kinder.

Präsident Karsai hat die Gewalt gegen Frauen legitimiert.

Zum Beispiel in diesem Herbst in Parwan, einer Provinz nahe Kabul. Eine 22-jährige Afghanin wird von einem Taliban erschossen, weil sie angeblich Ehebruch begangen haben soll. In einem Video auf YouTube ist zu sehen, wie ein Mann in weißer Kleidung der Frau neunmal in den Kopf feuert. Auch dann noch, als sie längst hingefallen ist und regungslos daliegt. Nach der Exekution schwenkt die Kamera auf die Hänge über dem Dorf: dort jubeln Dutzende von Männern und rufen „Lang leben die Mudschahidin“.

Das geschah fast zeitgleich mit der Konferenz über eine milliardenschwere Hilfeleistung für Afghanistan durch die internationale Gemeinschaft in Tokio. 56 Staaten wollen das Land auch nach dem Truppenabzug Ende 2013 mit 8,4 Milliarden Dollar weiter unterstützen. Auch Deutschland wird mit 430 Millionen Euro dabei sein. Allerdings gegen Bedingungen: Unter ande­rem sollen die Frauenrechte gewahrt werden, heißt es. Wieder einmal.

Dass der afghanische Präsident das wirklich umsetzen wird, das bezweifeln die meisten Frauen in dem Land am Hindukusch. Denn Karsai persönlich trägt Mitschuld an den Leiden der Frauen. Hat er doch noch in diesem Jahr Gewalt gegen Frauen offiziell legitimiert. So heißt es in der von ihm im Internet veröffentlichten Richtlinie wortwörtlich: „Der Mann ist ein fundamentales Wesen, die Frau ist ihm untergeordnet“. Und weiter: „Die Frau hat sich den Geboten der Scharia komplett zu unterwerfen.“

Fakt ist: Drei von vier Frauen werden zwangsverheiratet, meist sind sie noch keine 16 Jahre alt. Frauen sind eine Ware. Sie gehören Vätern, Brüdern, Ehemännern. Nur nicht sich selbst.

Männliche Ärzte dürfen Frauen nicht behandeln.

In keinem Land der Welt sterben mehr Kinder und Frauen bei der Geburt. Das liegt unter anderem daran, dass männliche Ärzte afghanische Frauen nicht behandeln dürfen; dass 80 Prozent aller Mütter ihre Kinder zuhause unter abenteuerlichen ­hygie­nischen Bedingungen bekommen. Oft im hintersten Stall, weit ab von der Familie, wie mir Adiba in einem Dorf erzählt. Jetzt endlich gibt es ein von UNICEF eingerichtetes medizinisches Frauenzentrum und Adiba motiviert mit ihren Freundinnen alle anderen Frauen im Dorf, dort Hilfe zu suchen.

Wie sie kämpfen inzwischen viele engagierte Frauen in Afghanistan gegen die hohe Sterblichkeitsrate von Müttern und Babys. Dafür hat im Herbst 2012 die afghanische Ärztin und Politikerin Sima Samar den Alternativen Nobelpreis erhalten: für ihren „Mut und ihre Entschlossenheit in einer der instabilsten Regionen der Welt“. Die 55-Jährige startete 1989 die Hilfsorganisation Shuhada, die in Afghanistan Arztpraxen, Krankenhäuser sowie Schulen betreibt. Sie war nach ihrer Rückkehr aus dem pakistanischen Exil von 2001 bis 2002 die erste Frauenministerin ihres Landes. Seither ­leitet sie die von ihr gegründete unabhängige Menschenrechtskommission in Kabul (AIHRC).

Die 28-jährige Maryam Durani ist ebenfalls solch eine starke Frau. Sie sieht mich mit großen dunklen Augen hinter der schwarzumrandeten Brille direkt an, drückt mir fest die Hand zur Begrüßung. Das ist in Afghanistan ungewöhnlich. Da blicken Frauen eher zu Boden und Männer über Frauen hinweg. Durani kämpft an zwei Fronten für die Rechte der afghanischen Frauen. Einmal mit dem von ihr gegründeten Radiosender und dann als Mitglied des Provinzrates in Kandahar. Ausgerechnet in Kandahar, wo täglich Tausende von Nato-Soldaten mit den Taliban kämpfen.

Empörung klingt in Maryams Stimme durch, wenn sie vom jüngsten Attentat in diesem Sommer auf Hanifa Safi, die beliebte Politikerin und Ex-Frauenministerin, zu sprechen kommt. Unter ihrem Auto war eine Bombe explodiert. Sie war sofort tot, Mann und Tochter überlebten schwer verletzt.

Maryam Durani kommt mit einem schwarzen Tuch auf dem Kopf und über ihren Schultern zu unserem Gespräch. Begleitet von ihrem Vater. „Das ist sicherer“. Denn sie ist im Visier der Taliban. Jeder kann sich im Internet das Video ansehen, in dem die junge Frau zwischen Michelle Obama und Hillary Clinton steht. Sie erhielt den internationalen Preis für „Frauen mit Mut“, die New York Times listete sie unter den „100 mächtigsten Frauen der Welt.“

Zum ersten mal gehen Frauen für ihre Rechte auf die Straße.

Jetzt, während meines Besuches in Afghanistan, gehen Frauen erstmals auf die Straße. In der Burka, da fühlen sie sich sicherer. Sie demonstrieren mit Transparenten, fordern von der Regierung Karsai eine strenge Bestrafung der Attentäter von ­Hanifa Sani und der Mörder der 22-jährigen hingerichteten jungen Frau in Parwan. 86 Prozent dieser protestierenden Frauen haben nach einer jüngsten Umfrage der Afghanistan Times Angst, dass diese Regierung die Taliban nach dem Truppenabzug an den Kabinettstisch holt – und dann sieht es schwarz aus für ihre Rechte.

Sicher: Es hat sich manches verbessert. Jetzt geht fast jedes dritte Mädchen zur Schule. Es gibt Frauenkliniken und Frauenzentren. Frauen dürfen ihr Haus verlassen. Allerdings wagen es die meisten nur in der Burka, dem hellblauen Ganzkörpergewand.

Auf dem Land probiere ich eine solche Burka und bekomme Platzangst. Sie sitzt so eng auf meinem Kopf, dass ich jetzt verstehe, warum so viele Afghaninnen über Kopfschmerzen klagen. Durch das kleine Gitter ist der Sichtradius auf unter 180 Grad eingeschränkt und außerdem ist dieses Gewand erdrückend heiß, die Temperaturen in Kabul liegen im Sommer zwischen 37 und 39 Grad.

Dennoch: Immer mehr junge Frauen setzen sich gegen das Diktat zur Wehr. Wie die 23-jährige Physiotherapeutin Farchunda Nesjatu. Ihre Eltern haben sie ­ermutigt einen Beruf zu erlernen. Nie würde sie gegen ihren Willen verheiratet werden, beteuert sie. „Aber es ist schwer in Afghanistan einen Mann zu finden, der eine berufstätig Frau akzeptiert“. Ob sie im Land bleibt? „Das weiß ich noch nicht“, sagt sie, und ihr Kopfschütteln spricht eine deutlichere Sprache als ihr Mund.

Das Wort vom „brain drain“ geht um in Afghanistan. Zu viele junge Menschen mit guter Ausbildung wollen raus. Masima Fayez und Shaima Gasim von „medica ­Afghanistan“ stellen resigniert fest, dass die häusliche Gewalt wieder zunimmt: „Die Regierung unterstützt die Frauen zu wenig. Frauenrechte spielen einfach keine Rolle“.

Die Mädchen boxen gegen die Schatten der Vergangenheit.

Am letzten Tag meiner Begegnungen mit Frauen in Afghanistan fahren wir noch in das Olympic. Dahin, wo die ­Taliban vor elf Jahren ihre Schauprozesse abgehalten haben. 20 boxende junge Mädchen warten auf uns. Zum Beispiel Shafika und Faima. Sie sind 14 und 22 Jahre alt. Ihrem Trainer Mohammad Saber Sharifi ist der Stolz auf seine Mädchen im Gesicht abzulesen: „Wir haben es diesmal zwar nicht nach London zu den Olympischen Spielen geschafft, aber das nächste Mal sind die Mädchen dabei!“

Dreimal die Woche trainieren sie im Zentrum. Landesüblich in T-Shirts, mit langen Ärmeln und in langen Hosen. Damit auch alles ordentlich bedeckt ist. Die meisten binden sich auch ein Tuch fest um den Kopf. Wenn sie boxen, dann kämpfen sie gegen die Schatten der Vergangenheit und gegen den Horror der Gegenwart. Alle Eltern mussten schriftlich zustimmen, dass die Mädchen nach der Schule zum Box­training gehen und an Wettkämpfen teilnehmen dürfen. Zu Zeiten der reinen Taliban-Herrschaft wäre Boxen für Frauen undenkbar gewesen. „Seit ich boxe, fühle ich mich glücklich und frei“, sagt Shafika.

Was geschieht mit den Frauen in Afghanistan nach dem Abzug der Truppen im Januar 2014? Präsident Hamid Karsai will dann nicht mehr antreten. Werden die Taliban die schwache demokratische Ordnung stürzen – oder sich einbinden lassen in eine neue Regierung? Schon jetzt haben die amtierenden Minister verkündet, dass nur sechs Prozent der Milliarden-Dollar-Hilfen in Frauen- und Kinderprojekte fließen sollen.

Die meisten Frauen haben Angst vor dem Abzug der internationalen Truppen. Sie fürchten, dass ihr Leben dann noch gefährlicher wird, die Korruption zunimmt und auch die häusliche Gewalt. Ganz zu schweigen davon, dass die meisten Menschen in diesem kargen Land am Hindukusch immer noch keinen Zugang haben zu sauberem Wasser, menschenwürdigen Latrinen oder ärztlicher Versorgung.

Die Autorin ist Gründerin und langjährige Leiterin der TV-Sendung „Mona Lisa“. ­Gerade veröffentlichte sie „Heiter weiter. Vom glücklichen dritten Leben“ (Südwest).

 

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