Alice Schwarzer schreibt

Alexijewitsch: Verdienter Nobelpreis!

© Bettina Flitner
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"Ich glaube, dass die Menschheit nur durch Mitgefühl überleben kann." Diesen Satz sagte Swetlana Alexijewitsch 2012. Sie selbst hat dieses so erhoffte und existenzielle Mitgefühl im Übermaß. Seit Jahrzehnten hört sie den Menschen zu, entlockt ihnen Erinnerungen und Geständnisse aus den Untiefen der Verdrängung. Der heroischen Geschichtsschreibung setzt sie die einzelnen Schicksale entgegen. Das Gesagte verdichtet sie zu beklemmenden, poetischen Monologen.

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Swetlana Alexijewitsch wird seit mehreren Jahren für den Literaturnobelpreis gehandelt. Wenn die 67-Jährige jetzt am 10. Dezember in Stockholm den Nobelpreis entgegennehmen wird, ist sie die 14. Frau in der Kategorie. 

Auf der Bühne und im Zentrum der Weltöffentlichkeit wird dann eine eher kleine, eher unscheinbare, ungewöhnlich bescheidene Frau stehen. Das gewaltige Herz, in dem sie all das Grauen, das sie Frauen, Männern und Kindern entlockt, birgt, spiegelt sich in ihren Augen: das Grauen von Opfern wie Tätern.

"Ich glaube, dass die Menschheit nur durch Mitgefühl überleben kann"

Die in der Ukraine geborene Weißrussin ist zur Chronistin eines ganzen Volkes geworden. Die Geschichten, die die gelernte Journalistin erzählt, reichen von der Zeit des "Vaterländischen Krieges" bis in die heutige postsowjetische Ära und deren "Kult des Konsums". Die "Secondhand-Zeit" nennt die einst überzeugte Kommunistin das; eine Zeit ohne eigene Ideen und Ideale, alles nur geliehen. Vom Westen. In den letzten Monaten ist Alexijewitsch im Westen häufig zitiert worden mit ihrer scharfen Kritik an Putin.

Angefangen hat die Tochter einer Ukrainerin und eines Weißrussen, beide Lehrer, in den späten 1970er Jahren mit der Befragung überlebender Sowjet-Soldatinnen und Partisaninnen, die im Zweiten Weltkrieg gegen Deutschland gekämpft hatten. Sie waren über eine Million. Doch nach dem Krieg galten sie nicht etwa als Helden, wie ihre Kameraden, sondern als Mannweiber oder Huren. Niemand wollte ihnen zuhören.

"Der Krieg hat kein weibliches Gesicht", nannte Alexijewitsch das Buch, das 1983 abgeschlossen war, aber erst zwei Jahre später unter Gorbatschow erscheinen konnte. Prompt wurde die Autorin beschuldigt, "die Ehre des Großen Vaterländischen Krieges" beschmutzt zu haben. Sie verlor ihre Stelle bei der Zeitung. Heute hat das Buch eine Auflage von über zwei Millionen Exemplaren und ist, zusammen mit anderen ihrer Bücher, in 30 Sprachen übersetzt.

"Ich sehe die Welt mit den Augen der Men-
schenforscherin"

Nicht zufällig folgten "Die letzten Zeugen"; Menschen, die als Kinder sowohl den Krieg wie die Stalinzeit überlebt hatten. Allein aus Swetlanas Familie waren elf Mitglieder den Schergen von Hitler und Stalin zum Opfer gefallen. Dennoch ließ der geliebte Vater sich mit seinem Parteibuch beerdigen. "Wir haben gelernt, für die Freiheit zu sterben - aber nicht, in Freiheit zu leben", sagt die Tochter.

Dann, 1989 "Die Zinkjungen". Gespräche mit an Leib und Seele verstümmelten Sowjetsoldaten aus dem verlorenen Afghanistan-Krieg sowie Müttern, die um ihre toten Söhne trauerten, die im Zinksarg zurückkamen. Dieser Afghanistan-Krieg war so sinnlos wie alle Kriege. Die Sowjetunion musste sich, geschlagen von den Taliban, 1989 ebenso zurückziehen wie einst Amerika in Vietnam. 

"Historiker interessieren sich nur für Fakten, die Gefühle bleiben draußen. Sie werden von der Geschichtsschreibung nicht erfasst", sagt Swetlana Alexijewitsch. "Ich aber sehe die Welt mit den Augen der Menschenforscherin."

Auch hierzulande bekannt wurde die in Minsk lebende Weißrussin erst mit ihrem 1997 auf Deutsch erschienenen Buch über den Tschernobyl-GAU, das sie "Eine Chronik der Zukunft" nannte. Was sich hinter den drei Großbuchstaben GAU für jede einzelne Kreatur und die Natur verbirgt, die Alexijewitsch Jahre danach durchstreifte, erfahren wir in diesem Buch, bis hin zu den Tieren - sie mussten in dem verseuchten Gebiet zurückgelassen werden und wurden von den Soldaten erschossen.

"Die sowjetische Zivilisation...
Ich beeile mich, ihre Spuren festzuhalten"

Im Jahr 2000 geht Swetlana Alexijewitsch ins Exil, wo sie von Buchhonoraren und Stipendien mehr schlecht als recht existieren kann. Zehn Jahre lang lebt sie in westeuropäischen Metropolen - und lernt keine einzige ihrer Sprachen. Die Russin bleibt fremd. Sie sehnt sich nach ihrer Heimat, denn: "Egal, wie es war - es war unser Leben." Bei ihrer Rückkehr 2010 beklagt sie die "Gefühllosigkeit" im Westen. 

In ihrem letzten Buch, der "Secondhand-Zeit", spürt Alexijewitsch dem "Sowok" nach, dem Sowjetmenschen, wie sie selber einer ist: "Die sowjetische Zivilisation... Ich beeile mich, ihre Spuren festzuhalten. Die vertrauten Gesichter. Ich frage nicht nach dem Sozialismus, ich frage nach Liebe, Eifersucht, Kindheit und Alter. Nach Musik, Tanz und Frisuren. Nach tausenden Einzelheiten des verschwundenen Lebens."

Zurzeit schreibt die Chronistin des Krieges ein ganzes Buch über die Liebe. "Hundert Erzählungen über die Liebe" sind in Arbeit. "Ich will das spezifisch Russische an der Liebe herausarbeiten", sagt sie. "Die elementare Emotion, die Zügellosigkeit, die Hoffnung auf Glück - das dann nicht eintritt." 

Alice Schwarzer

Swetlana Alexijewitsch: alle Bücher im Hanser-Verlag. Neu erschienen: "Secondhand-Zeit". Aktualisiert: "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht".

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Friedensnobelpreis gegen Islamismus!

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Der diesjährige Friedensnobelpreis ist eine echte Überraschung. Er ging nicht, wie erwartet, in Richtung Flüchtlingshilfe (an Kanzlerin Merkel, wäre auch nett gewesen), sondern an die KämpferInnen gegen den islamistischen Terrorismus. 

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Geehrt wurden die Verantwortlichen der vier zivilgesellschaftlichen Gruppierungen, die entscheidend zur Rettung Tunesiens vor der Machtübernahme durch die Islamisten beigetragen hatten. Und das in einer Zeit, in der islamische Terroristen versuchen, die Touristen und die Demokratie in Tunesien plattzubomben.

Tunesien vor
den Islamisten gerettet - dank des "Quartetts"

Adressat für die Verneigung vor der mutigen Zivilgesellschaft in dem nordafrikanischen Land ist das so genannte „Quartett“. Darin haben sich vier Organisationen zusammengeschlossen: der Gewerkschaftsbund, der Arbeitgeberverband, die Nationale Anwaltskammer und die Menschenrechtsliga (links auf dem Foto Wided Bouchamaoui, seit 2011 Direktorin des Arbeitgeberverbandes Utica). 

Tunesien war 2011 das erste Land, das in dem so genannten „Arabischen Frühling“ seinen autokratischen, aber immerhin weltlichen Herrscher, Zine el-Abidine Ben Ali, verjagt hatte. Und es war das erste Land, das rasch zu spüren bekam, wie der anfängliche Frühling zum eisigen Winter wurde: Im Chaos des Umbruchs griffen die Islamisten nach der Macht, gewählt von einer verunsicherten und vernachlässigten Bevölkerung, die den Versprechungen der Islamisten zunächst nur allzu willig Glauben schenken wollte.

Einmal an der Macht machten die Gottesstaatler das, was sie überall machen: Sie raubten den Frauen die elementarsten Menschenrechte, zwangen die Männer in die Knie, verboten Musik, Filme, Tanzen und überhaupt alles, was Spaß macht.

Doch das Elf-Millionen-Volk war zwar zu recht unzufrieden gewesen mit Ben Ali, hatte unter ihm jedoch immerhin jahrzehntelang in dem relativ freiesten Staat von Nordafrika gelebt, mit den weitgehendsten Frauenrechten. Dass sie nun den Teufel mit einer Horde von Beelzebuben vertauscht hatten, merkte die Mehrheit der Bevölkerung schnell.

2013 eskalierte die Konfrontation zwischen Islamisten und der erneut rebellierenden Bevölkerung. Streiks, Frauenmärsche, politische Morde. Das Land geriet an den Rand des Bürgerkriegs. 

Grundlegende Rechte für alle garantiert - auch für Frauen

Es war nicht zuletzt dem „Quartett“ zu verdanken, dass das verhindert werden konnte und Neuwahlen veranstaltet wurden. 

Das Quartett trug durch geschickte Verhandlungen dazu bei, dass „ein verfassungsmäßiges Regierungssystem errichtet werden konnte, das der gesamten Bevölkerung grundlegende Rechte garantiert, ungeachtet des Geschlechts, der politischen Überzeugung oder des religiösen Glaubens“, erklärte das Nobelpreiskomitee. 

An die Macht kam der 88-jährige, säkulare Beji Caid Essebsi. Tunesien schöpfte Hoffnung. Diese Hoffnung wurde jüngst durch zwei brutale Terroranschläge der Islamisten schwer erschüttert: der eine in Tunis in der Nähe des Bardo-Museums, der zweite in Sousse an einem Hotelstrand. Beide Male waren die Touristen im Visier, die Haupteinnahmequelle Tunesiens.

Der islamistische Terror ist heute in Nordafrka, Schwarzafrika und dem Nahen Osten direkt oder indirekt der Grund dafür, dass die Menschen aus ihrer Heimat flüchten müssen. Sie tun das, weil sie direkt vom IS und seinen Muslimbrüdern bedroht werden. Oder weil diese die Ursache bzw. eine der Ursachen dafür sind, warum in ihren Ländern das Chaos herrscht oder gar ein Bürgerkrieg ausgebrochen ist. Oslo geht mit dieser Ehrung also an die Wurzel der aktuellen Flüchtlingskatastrophe.

Die Nobelpreisjury möchte mit dem Preis „das tunesische Volk auf seinem Weg in die Demokratie ermutigen“ und hofft, ein Zeichen zu setzen „für alle, die Frieden und Demokratie im Nahen Osten, in Nordafrika und im Rest der Welt voranbringen wollen“.

Well done, liebes Friedensnobelpreiskomitee in Oslo.

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