Der Sieg der Emily Davison

Artikel teilen

Der König ist Augenzeuge. Und genau das war ihr Plan. Emily Davison hatte für das, was sie an diesem 4. Juni 1913 vorhatte, nicht zufällig die Tattenham Corner ausgewählt - jene Kurve der Galopprennbahn, auf die King George V. und Queen Mary von ihrem Balkon aus blicken. Die kampferprobte Suffragette will maximale Aufmerksamkeit bei ihrem riskanten Protest für das Frauenwahlrecht. Womöglich hat Emily Davison sogar gewusst, dass an diesem Tag eine der seltenen Filmaufnahmen dieser Zeit erstellt wird: Eine Dokumentation über das berühmte Epsom Derby, die ihre heroische Verzweiflungstat für alle Ewigkeit auf Zelluloid bannen würde.

Anzeige

Was dann passiert, dauert nur ein paar Sekunden. Der Startschuss fällt. Die Bahn bebt von den stampfenden Pferdehufen. „Und plötzlich schlüpfte sie unter der Absperrung durch und rannte mitten auf die Rennbahn“, berichtet Kampfgefährtin Mary Richardson, die neben Emily gestanden hatte. „Es ging so schnell. Emily war plötzlich unter den Hufen eines der Pferde und wurde über das Gras geschleudert. Das Pferd stolperte und sein Jockey wurde abgeworfen. Sie lag ganz still da.“

Maximale
Aufmerksamkeit 
für ihr Ziel: das
Frauenwahlrecht

Es ist nicht irgendein Pferd, vor das Emily Davison sich geworfen hat. Es ist Anmer, das Pferd des Königs. Ein Tumult bricht aus. Auf den unscharfen Schwarz-Weiß-Aufnahmen ist zu sehen, wie Herren in Anzügen und Damen mit Federhüten ihre Contenance vergessen und über die Bahn zu den beiden Menschen am Boden rennen, die bald von der Menschentraube verdeckt werden.

Der abgeworfene Jockey ist nur leicht verletzt. Die unter die Hufe geratene Suffragette aber hat einen Schädelbruch und schwere innere Verletzungen. Sie wird ins Epsom Cottage Hospital gebracht. Vier Tage später, am 8. Juni 1913, stirbt sie, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben. Die britischen Suffragetten haben eine Märtyrerin.

Heute, 100 Jahre nach Emilys Tod, scheiden sich die Geister darüber, ob die 41-jährige Kämpferin für das Frauenwahlrecht tatsächlich auf spektakuläre Weise Selbstmord begehen wollte. Sie habe lediglich die Bahn Richtung König überqueren wollen und nicht gesehen, dass noch drei Pferde im Rennen waren, heißt es. Oder: Sie habe dem Pferd des Königs nur eine Fahne anheften wollen, mit der Anmer dann durchs Ziel gelaufen wäre. Schließlich hatte sie eine Rückfahrkarte besessen und wäre niemals aus dem Leben geschieden, ohne einen Abschiedsbrief an ihre Mutter zu hinterlassen.

"Es ging nicht um Selbstmord, sie riskierte ihr Leben."

„Emily wollte nicht Selbstmord begehen“, meint Davisons noch lebende Cousine Philippa Bilton. Aber sie ist sich auch sicher: „Sie war bereit, für das Frauenwahlrecht zu sterben.“ Es war nicht das erste Mal, dass Emily Wilding Davison ihr Leben für dieses Recht riskiert hatte.

Ein gewisser Widerstandgeist wohnt dem Mädchen, das am 11. Oktober 1872 im Londoner Vorort Blackheath geboren wird, von Anfang an inne. „Wenn die ­Autorität in Form ihres Kindermädchens rief: ‚Miss Emily, seien Sie ein gutes Mädchen und kommen Sie rein‘, dann rief sie zurück: ‚Ich will nicht gut sein!‘“, schrieb ihre erste Biografin Gertrude Colmore kurz nach Davisons Tod. Emilys Vater, der Kaufmann Charles Edward Davison, ist bei der Geburt seines zweiten Kindes 50 Jahre alt und bereits pensioniert. Es lässt das begabte Mädchen, das auch eine passionierte Radfahrerin und Schwimmerin ist, gewähren. Mit 13 besucht Emily die High School, mit 19 beginnt sie ein Literaturstudium. Nach dem Tod des Vaters muss sie das Studium aus Geldmangel abbrechen, aber sie arbeitet nun als Gouvernante und Lehrerin und verdient sich so das Geld für die Fortsetzung. Emily geht nach Oxford, nimmt neben der Literatur noch Biologie und Chemie dazu und schließt mit Auszeichnung ab – theoretisch. Denn praktisch ist der Hochbegabten, wie all ihren weiblichen Kommilitonen, ein akademischer Grad verwehrt. Also nimmt Davison wieder eine Stelle als Lehrerin an, zunächst an einer Privatschule, dann in einer Familie.

1906 tritt sie der „Women’s Social and Political Union“ bei, kurz: WSPO, die sich drei Jahre zuvor gegründet hatte. Motto: „Deeds, not words“ – Taten statt Worte! Die britischen Suffragetten haben die Nase voll. Seit Jahrzehnten kämpfen sie für „Votes for Women“, unzählige ­Petitionen und Gesetzentwürfe hat die 1867 gegründete „National Union for Women’s Suffrage“ schon eingereicht. Sie wurden alle abgelehnt. Immer noch stehen Frauen vor dem Gesetz auf einer Stufe mit „Minderjährigen, geistig Behinderten und Kriminellen“, die ebenfalls kein Wahlrecht haben. Es reicht.

Insgesamt achtmal wird Emily Davison verhaftet

Die Britinnen werfen ihre guten Manieren über Bord und setzen auf „militant tactics“. Sie zertrümmern Schaufenster, legen Brände, bewerfen Premierminister Herbert Asquith mit Pfeffer. „Das Sturmzentrum des Kampfes, der vom Occident zum Orient, von Lappland bis Italien, von Kanada bis Südafrika ging, war England – die revolutionäre Bewegung der Suffragetten“, berichtet der „Weltbund für Frauenstimmrecht“. Im Auge des ­Orkans: Emily Davison.

Zum ersten Mal verhaftet wird die Aktivistin im März 1909, als sie Premierminister Asquith eine Petition für das Frauenwahlrecht überreichen will. Wegen „Störung der öffentlichen Ordnung“ wird sie zu einem Monat Gefängnis verurteilt. Zwei Monate bekommt sie, weil sie die Kutsche von Kanzler David Lloyd George mit Steinen bewirft. In der Nacht zum 2. April 1911 versteckt sich Davison in einem Schrank des Palace of Westminster, um einen PR-Coup der besonderen Art zu landen. Es ist der Tag der Volkszählung, und da die Bürgerin Davison an diesem Stichtag, wenn auch versteckt, im Britischen Unterhaus weilt, gibt sie ihren Wohnsitz kurzerhand mit „House of Commons“ an.

Insgesamt achtmal wird Emily Davison verhaftet, jedes Mal radikalisiert sie sich stärker. Die Haftbedingungen sind grauenvoll, zumal man sich weigert, die Suffragetten als politische Gefangene anzuerkennen. Davison tritt, wie Hunderte andere, in Hungerstreik und wird zwangsernährt. Als sie ihre Gefängniszelle verbarrikadiert, um dieser Folter zu entgehen, steckt ein Wärter einen Wasserschlauch durch die Türklappe und lässt die Zelle vollaufen. Die Eingesperrte wird in letzter Minute gerettet.

"Deeds, not words" steht
auf ihrem
Grabstein

„Nach dieser Erfahrung erzählte Miss Davison mehreren Freundinnen, dass sie überzeugt sei, dass das Bewusstsein der Menschen nur durch ein Menschenopfer geweckt werden könne“, berichtete Emmeline Pankhurst. Um gegen die unmenschlichen Haftbedingungen für die Suffragetten zu protestieren, stürzt sich Emily Davison von einer Gefängnis-Galerie. Sie überlebt mit schweren Rückenverletzungen.

Am 8. Juni 1913 wird die bedingungslose Kämpferin für das Frauenwahlrecht ihren Verletzungen erliegen. Tausende Frauen – und Männer – folgen ihrem Sarg, der zum Bahnhof und von dort in die Heimatstadt der Familie gebracht wird: Morpeth in Northumberland.

100 Jahre nach ihrem Tod wird nun allerorten der Märtyrerin gedacht: Am 4. Juni 2013 hat das Epsom Derby an der Tattenham Corner eine Tafel angebracht, die an Davisons „lebenslange Hingabe an den Kampf um das Frauenwahlrecht“ erinnert und „den Beitrag, den sie für das Leben der britischen Frauen in Vergangenheit und Gegenwart geleistet hat“. Und in Morpeth hat die Initiative „Emily Inspires!“ ein ganzes Erinnerungs-Programm für die berühmte Tochter auf die Beine gestellt. Denn, so „Emily Inspires!“-Sprecher David Lodge: „Emily hat ein Vermächtnis hinterlassen, das heute noch genauso relevant ist wie zur Zeit ihres Todes.“ Es ist das Vermächtnis, das in den Grabstein der berühmten Suffragette gemeißelt ist: „Deeds, not words“ – Taten statt Worte.

P.S. 1928 erhielten die Britinnen das Wahlrecht. 51 Jahre später trat der erste weibliche Premierminister in der Downing Street 10 an: Margaret Thatcher.
 

Jetzt im Kino
"Suffragette - Taten statt Worte" mehr

Weiterlesen
Ann Morley/Liz Stanley: Life and Death of Emily Wilding Davison (The Women’s Press Ltd.), Film auf www.youtube.com

Artikel teilen
 
Zur Startseite