Als Rennradlerin blickt auch sie es!

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Wenn sie mit ihrem Fahrrad durch Rudow flitzt, dann darf kein Stein im Weg liegen. Michaela Fuchs kam mit Albinismus zur Welt und sieht nur Schatten. Jetzt trainiert sie für die Paralympics 2004 in Athen.
Für Michaela Fuchs läuft der Countdown. Athen 2004 steht an. Bei den Paralympics, den Sommerspielen der Behinderten, will die 33-jährige Radrennfahrerin starten. In Sydney trug sie als erfolgreichste Deutsche bei der Siegesfeier die Fahne. Jetzt will sie es wieder wissen.
Sie macht die Wohnungstür auf, munter, mit flippigem Kurzhaarschnitt, in Cargo-Hose und T-Shirt. Sie guckt mich an, und ich denke: die ist doch nicht blind. Die ist völlig normal. Und, schwups, hat Michaela Fuchs erreicht, was sie will: Nämlich, dass man erst auf den zweiten Blick kapiert, dass etwas bei ihr nicht stimmt. Das ist einer ihrer Tricks, sich ein eigenständiges Leben zu erkämpfen.
Sie kam mit Albinismus zur Welt: einer Stoffwechselkrankheit. Ihr Haar ist fast weiß, ihre Haut kann kaum Licht und Hitze vertragen. Außerdem ist sie so gut wie blind. Ein Sehrest von knapp drei Prozent reicht gerade, um auf Kontraste und Farben zu reagieren. Damit schafft sie es, den Blick auf ihr Gegenüber zu richten. Das erweckt den Eindruck, dass sie dich sieht.
Die Wohnung – zwei Zimmer in Berlin-Rudow mit Gärtchen und Grün drumherum – ist ihr Zuhause und ihr Trainingszentrum zugleich. Ein Rennrad steht hochkant in einem Stativ vor dem Bücherregal. Wenn es ernst wird, klappt sie es herunter, stellt es auf Rollen und steigt auf den Sattel. Schon drehen sich die Pedale, surren die Ritzel, laufen die Räder in dem gebremsten Gestell. Aufwärmen. Sprints fahren. Strecke. Dabei ständig den Puls kontrollieren. Mal soll das Herz ganz ruhig schlagen, dann wieder wie wild, so wie im Wettkampf. Frequenz runter, Frequenz hoch, der Trainer diktiert die Intervalle. Eine Stunde, zwei, drei schrubbt sie Kilometer – wie andere Radsportlerinnen auch, nur auf der Rolle und nicht auf der Straße.
Behindertensport auf Paralympics-Niveau ist Spitzensport. Sichtbares Zeichen dafür ist, dass der Olympiastützpunkt in Berlin-Hohenschönhausen seit Sydney 2000 auch für die Sportlerinnen und Sportler aus der Behinderten-Nationalmannschaft da ist: Michaela Fuchs zum Beispiel nutzt die Ergometer dort, um ihre Trainingserfolge zu kontrollieren. Diese hochsensiblen Tretmaschinen messen Kraft und Leistung und Puls in der Bewegung.
Blinde und sehbehinderte Radrennfahrer treten bei Wettkämpfen auf dem Tandem an. Vorn sitzt die Pilotin. Sie sieht, wenn es bergauf geht oder in die Kurve, ob die Konkurrentinnen attackieren oder ausgerutscht sind. Michaela nimmt von all dem nur Farbklekse war. Sie muss sich auf die Pilotin verlassen. Muss spüren, was die tut, ahnen, was als nächstes ansteht, reagieren. „Du brauchst nicht zu sagen, was kommt“, gab sie ihrer Pilotin vor dem ersten Start zu verstehen. „Ich krieg das mit.“ Weil der eine Sinn ausfällt, erfasst sie die Lage mit den anderen. „Über die Pedale kommunizieren“, nennt sie das. Je synchroner die Bewegung ist, desto schneller wird das Tandem.
Michaela war lange die einzige Frau im deutschen Team. Sie fuhr mixed: mit Jan Ratzke als männlichem Piloten. Dezember 2002 wurden die gemischten Rennen abgeschafft. Und Michaela hatte ein Problem: Wo eine Pilotin finden? Tandem-Piloten sind meist Leute, die den Sprung in die Profiliga nicht geschafft haben, aber trotzdem gerne weitermachen wollen – aus Spaß am Sport. Aber: „Eine solche Frau zu finden, war wie eine Stecknadel im Heuhaufen zu suchen“, erzählt Michaela. Radsport ist eine Männerdomäne. Nur wenige Mädchen trainieren, die Felder bei Wettkämpfen sind klein, und wer versucht, gegen die Jungen anzutreten, erlebt ständig Frust, weil die geschlechtsspezifischen Leistungsunterschiede so groß sind. Wenn Frauen aus dem Kampf um die Spitzenpositionen aussteigen, hängen sie meist den Radsport insgesamt an den Nagel. Schließlich fand ihr Trainer aber doch eine Pilotin, Fabienne Bernauer aus Freiburg. Seit den Deutschen Meisterschaften im Juni sitzt sie vor Michaela Fuchs im Sattel. „Da ist viel Potenzial im Team“, heißt es in den einschlägigen Kreisen.
Zwei Vitrinen mit Medaillen hat Michaela Fuchs in ihrem Zimmer, ein Karton mit Pokalen steht im Schwarzwald. Aber der Sport bringt ihr mehr als Ruhm und Erfolge. Viel mehr. „Durch ihn“, sagt Michaela, „habe ich eine unheimlich hohe Mobilität erlangt.“ Jede Reise mache sie stärker, brächte neue Fähigkeiten zum Vorschein, gebe ihr die Chance, sich zu entwickeln.
Sie ist im Schwarzwald aufgewachsen. Von Geburt an war sie stark sehbehindert. Ihre Eltern kamen damit nicht klar. Der Vater trank, das prägte das Familienleben. „Die meisten Behinderten“, erzählt Michaela, „wachsen überbehütet auf. Aber meinen Eltern war das alles scheißegal. Ich musste für mich selber sorgen.“ Vielleicht, sagt sie, war das ihr Glück. „Ich habe früh gelernt zu kämpfen.“
Schon als Jugendliche entdeckte sie den Sport als Chance, der häuslichen Enge zu entkommen. Sie begann ihre Karriere als Skilangläuferin. Auch dabei haben Blinde und Sehbehinderte „Piloten“, sogenannte Begleitläufer, die ihnen zurufen, wo es langgeht. Mit 18 trat Michaela bei ihrem ersten internationalen Wettkampf an. Das war 1988 bei den Weltwinterspielen, den Vorläufern der Paralympics, in Innsbruck. Seit 1991 fährt sie zudem erfolgreich Rad – zuletzt in diesem Sommer bei der Weltmeisterschaft in Kanada und im September bei der Europameisterschaft in Prag.
Fast scheint es, als gebe es neben dem offiziellen ein heimliches Trainingsziel: Bei jeder Fahrt zu einem Wettkampf auch persönlich ein Stück zu wachsen. „Wir Behinderten werden sehr gerne unselbstständig gehalten“, sagt sie, „damit wir einen brauchen, der uns betreut.“ Sie spannt die Finger wie eine Raubkatze ihre Krallen. Und grinst, als sie das sieht. „Da bin ich im Kampf“, sagt sie, „denn das nützt nur jenen, die das Gefühl brauchen, gebraucht zu werden. Und nicht uns.“ Klar, selbstständig zu leben ist für Menschen wie sie mit Risiken verbunden.
Wenn sie mit „Affenzacken“ durch Rudow flitzt, um noch vor Feierabend im Reisebüro ein Ticket nach Stuttgart zu buchen – alles Strecken, die sie kennt und die normalerweise für sie unproblematisch sind – dann darf einfach kein Hindernis im Weg sein. Keine Stufe. Kein Stolperstein. „Sonst flieg ich.“ Aber was wäre die Alternative? Immer zu Hause zu sitzen? Zu warten, dass jemand Zeit hat? Immer abhängig zu bleiben?
Es geht auch anders. Auch das hat sie über den Sport gelernt. Die internationalen Turniere weiten den Horizont und eröffnen Blicke auf den Alltag von behinderten Menschen in anderen Ländern. „Wenn ich sehe, was in Skandinavien zum Beispiel möglich ist, wie Behinderte dort in ihrer Selbstständigkeit gefördert werden und in der Öffentlichkeit präsent sind, ist klar: Deutschland ist ein Entwicklungsland. Es gibt unglaublich viel zu tun.“
Ein Beispiel: Als am Olympiastützpunkt in Hohenschönhausen die Sieger geehrt wurden, kamen die Behinderten, die dort trainieren und erfolgreich gekämpft haben, einfach nicht vor. Das Wort Paralympics wurde nicht mal erwähnt. Da sei ihr die Hutkrempe hochgegangen, erzählt Michaela. „Das hat was mit nicht-wahrnehmen zu tun. Mit: jemanden nicht ernst nehmen. Da habe ich einen Mordsaufstand gemacht.“ Mit Erfolg: Wer die Homepage des Olympiastützpunkts besucht, kann sich dort auch über die Erfolge der Behindertensportler informieren.
Wenn Michaela Fuchs so argumentiert – scharf, präzise, kraftvoll – dann sagen die Freunde: „Eines Tages gehst du in die Politik.“ „Eigentlich hatte ich das nie vor“, meint sie dann. Aber je länger sie sich umsieht in der Welt, je mehr sie sieht, was möglich ist und nicht getan wird, desto mehr Lust hat sie, sich zu engagieren. Zusammen mit der Kugelstoßerin Marianne Bugenhagen macht sie sich stark für den Sport. Und allgemein für die Akzeptanz und Integration von behinderten Menschen.

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Beide Porträts erschienen zuerst im FrauenRat 5/2003

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