Andersons Märchen

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Avantgardistin und Star zugleich. Da steht sie auf halbdunkler Bühne, die Solistin eines kreativen Zaubers, der keine Minute lang das Publikum losläßt. Laurie Anderson ist Performance-Künstlerin und kommt aus der New Yorker Kunstszene der 70er Jahre. Sie ist Sängerin, Musikerin, Komponistin und Technikerin in einer Person. Aber auch Filmemacherin und Schriftstellerin. Niemand kann alles gleichzeitig sein, aber Laurie Anderson kann's. Fast.

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„Bitte beschreibt mich nicht als ,Elfen- oder Koboldgestalt'", sagt sie immer wieder den Journalisten, die dem hypnotischen Effekt, der von Andersons Aufführungen ausgeht, nur mit Vokabeln aus der Märchenwelt beikommen können. Aber - Elfe hin, Kobold her - ihre Lieder und Erzählungen haben etwas Magisches, Beschwörendes. Da werden Sätze mal um mal wiederholt, kaum merklich verändert. Da werden einfache und wohlklingende Melodiereihen ein wenig verschoben und variiert. Das Ganze wirkt wie ein Beschwörungsritual. Wenn Anderson auf der Bühne dann noch wie eine Schamanin tanzt, in den Schatten wegtaucht, sich durch eine ausgeklügelte Beleuchtungsdramaturgie in Nichts auflöst, um wenig später — harmlos grinsend - wieder leibhaftig aufzuerstehen, dann weiß das Publikum, daß es hier in einer Wundertüte der Fantasie steckt und gibt sich gern einer glücklichen Trance hin.

Auf die Wirkung ihrer Visionen hin befragt, gibt sich Anderson schlicht und charmant: „Wenn mir Leute nach einer Performance sagen, daß sie ganz viele Anregungen mit nach Hause  nehmen, so ist so eine Aussage das Beste, das mir passieren kann. Sie erzählen mir von diesen Anregungen, und meist haben sie nichts mit meinen eigenen Ideen zu tun, und das ist wunderbar. Denn das bedeutet, daß ich den Leuten genug Raum, aber auch genug Suggestionen ließ. Das ist viel besser, als didaktisch vorzugehen. Davor graut es mir am meisten - vor Didaktik."

Laurie Anderson benutzt bei ihren Aufführungen so merkwüridige Instrumente wie Spielzeugsaxofon, Telefon, Dudelsack, Sitar und Mikrofonständer. Vor allem aber spielt sie Geige. Und was für welche! Virtuos beherrscht sie nicht nur die klassische Violine, sondern erfindet auch diverse Saiten- instrumente. Zum Beispiel die Neonröhrengeige, die Kassettenrecordergeige oder die Tonbandbogengeige. Bei der letzteren Variante ersetzt sie die Saiten durch einen aufmontierten Tonkopf, und statt ordentlichem Roßhaar verwendet sie bespielte Tonbandstreifen für den Bogen. Wimmernd ertönen dann höchst geheimnisvolle Botschaften: Wortfetzen, die - mal rückwärts, mal vorwärts gespielt — ihren Sinn verändern. Manchmal befestigt Laurie Anderson ein winziges Mikrofon an ihrer Brille und verwandelt den eigenen Schädel in einen Resonanzkörper. Oder sie holt das Mikro dicht an die Lippen und führt vor, wie faszinierend die Entstehung eines Wortes sein kann. Dann intoniert sie überdeutlich, spielt mit Konsonanten und Vokalen. Der Wortklang wird noch interessanter als der Wortsinn.

Ironisch zugespitzt oder grauslig verfremdet erzählt sie am liebsten vom amerikanischen Alltag. Es sind die Slogans aus der Werbesprache, die Begrüßungsrituale und Nachrichtensprecher- floskeln, die so lange von ihr seziert werden, bis sie vollends surrealistisch wirken. „United States I - IV" heißt ihre berühmte Multi-Media- Performance, an der sie 1979 zu arbeiten beginnt. Im Februar 1983 wird der sechsstündige Zyklus mit den Themenschwer- punkten „Transport", „Politik", „Geld", „Liebe" in einem ehrwürdigen Opernhaus in Brooklyn uraufgeführt. 15.000 Menschen kommen, eine Zahl, die normalerweise Rockkonzerten oder Fußballspielen vorbehalten ist. Aus ihrer Stimme, elektronischen Musik-Collagen, Dias, Schattenspielen und Gesten braut Laurie Anderson ein kommunikatives Gesamtkunstwerk zusammen. Das überzeugende an dieser Perfektionistin aus dem Computer-Land: Sie ist bei aller Modernität nicht elitär. „Ich betrachte mich eigentlich als eine wirkliche Traditionalistin, als Geschichtenerzählerin. Das ist der älteste Gebrauch von Wörtern: andere Menschen direkt anzusprechen."

Ihre Zielgruppe ist ein interessiertes, durchaus breites Publikum und nicht nur eine Handvoll Snobisten  aus dem  Avantgarde-Getto. Mit ausverkauften Konzerten und großen Plattenerfolgen zeigt sie, daß die Unterscheidung zwischen kunstsinniger, oft freudloser E-Musik hie und populärer U-Musik da reichlich künstlich geworden ist. Diese Haltung hat ihr freilich nicht nur Aufführungen beschert, wo Musikexperten, Intellektuelle, Punker und Rocker einträchtig ihr Werk genießen. Sondern ihr wurde auch Verrat am hehren Elitegedanken vorgeworfen. Macht nichts, sagt Laurie Superstar heute. Anfangs jedoch ging ihr die Kritik alter Freunde doch sehr nah: „Sie sagten mir: Was, ein Plattenvertrag?
Wie konntest Du so etwas machen? Das ist so schmutzig, der totale  Ausverkauf." Mir tat diese Reaktion weh. Aber so war eben die Attitüde. Eine kleine Gruppe von Menschen weiß, was gut ist. Und alle anderen da draußen wissen es nicht."

Der Weg zum gefeierten und beneideten Liebling der Kulturszene ist von Andersons Willen zur Disziplin und Professionalität geprägt. Daß Talent geschliffen und poliert werden muß, das wußte die Künstlerin schon sehr, sehr früh. 1947 wird sie in eine mittelständische Familie hineingeboren, eins von acht Kindern. Der Vater hat ein Malergeschäft. „Wir waren gewohnheitsmäßige Geschichtenerzähler, und wir waren alle von Sprache fasziniert. Meine Brüder haben sogar eine ganz eigene Sprache erfunden und Liedtexte daraus gemacht. Ich selbst war eine Superbrave, ich wollte Bibliothekarin werden. Dann erkannte ich, daß Bibliothekare auch eine ganz dunkle Seite haben: Sie sind wie Gefängniswärter, die ihren Sträflingen nur Hafturlaub geben..." Das brave Kind bekommt mit fünf Jahren Unterricht in klassischer Violine. Elf Jahre lang musiziert sie nach eigenen Worten „wie eine Süchtige, Besessene". Sie hört auf, als sie merkt, daß sich ihre Kreativität zu einseitig entwickelt. Die Notenblätter fliegen auf den Müll.

1966 zieht sie in die Metropole, nach New York. Sie studiert Kunstgeschichte und Bildhauerei, jobbt als Lehrerin, lernt Fotografieren und Filmen. Die ersten Projekte entstehen.
„Ich habe damals", so erinnert sie sich, „zum Beispiel aus Tageszeitungen Briketts geformt oder das Titelblatt der „New York Times" genommen und in hauchdünne horizontale Streifen geschnitten. Dann habe ich die Titelseite der China Times genommen und sie in vertikale Streifen geschnitten und das Ganze miteinander verwoben. Beide Zeitungen hatten ja die gleichen Agenturen und die gleichen Fotos. Die Bilder, die Worte - alles sah brüchig aus. Später wollte ich Wörter lieber direkt verwenden. Dazu mußte ich sie sprechen."

Ab 1972 beginnt sie, öffentlich aufzutreten und verknüpft Fotoausstellungen und Textvorträge zu aufregenden Einpersonen-Happenings. Sie gehört jetzt zu den feinen, oft genug brotlosen Avantgardisten von New York und gilt als Geheimtip. Eins der Werke aus dieser Zeit heißt „Handphone Table": Ein unauffälliger, funktioneller Tisch, in dem ein Tonband- gerät - nicht sichtbar — eingebaut ist. Auch wenn das Band läuft, kann man nichts hören. Erst wenn man die Ellbogen aufstützt und die Hände an die Ohren legt, sind die Klänge aus dem Tisch hörbar. Der eigene Körper wird zum Verstärker und Empfänger. (1979 wird „Handphone Table" im New Yorker Museum of Modern Art ausgestellt.)
1973 geht Anderson auf Abenteuerreise: Zunächst nach Mexico, wo sie die Tzotil-Indianer besucht. „Sie nannten mich Loscha. In ihrer Sprache heißt das: die Häßliche mit den Juwelen. Ich war ihnen zu weiß, zu groß, und ich trug Kontaktlinsen. Sie dachten, die Kontaktlinsen seien Juwelen, die ich zur Sicherheit in meinen Augen aufbewahrte..." Dann fliegt die Ewigneugierige per Anhalter in die Arktis. Sie will zum Nordpol. Bei sich hat sie nur Lebensmittel, eine Angelrute und ein Beil. Sie läßt sich von „Buschpiloten" irgendwo in der Nähe des magnetischen Pols absetzen. Aber die Freude an der Herausforderung währt nicht allzu lang: „Das Beil war schuld. Ich hackte eines Tages Holz irgendwo mitten in der Einsamkeit. Als ich ausholte, rutschte das Beil mir aus der Hand, fiel runter und verpaßte dabei meinen Kopf nur um ein paar Zentimeter. Noch Stunden später habe ich gezittert und daran gedacht, wie ich mit einem Beil im Kopf herumlaufe, ohne daß irgendein Mensch weiß, wo ich gerade bin. Aber es war trotzdem eine der besten Reisen, die ich je gemacht habe..."

Mut - das ist in ihren Augen sehr wichtig. Couragierte Menschen bewundert sie. Davonlaufen gilt nicht. So ist auch die Selbstverständlichkeit zu verstehen, mit der diese Künstlerin in ihrer Fabriketage am Hudson River ein hochkompliziertes technologisches Reich aufgebaut hat. Mit den neuen Instrumenten in der elektronischen Musik setzt sich Laurie Anderson auseinander (und sei's, daß sie sie auseinanderbaut und neu zusammenbastelt). Sie entmystifiziert jene blinkenden Kästchen namens Synthesizer, Vocoder und Konsorten, indem sie sie beherrschen lernt. Lächerlich dagegen findet sie den Machismo von Rockgitarren, das selbstgefällige Herumhämmern: „Ich bekomme innerhalb von vier Sekunden Kopfschmerzen und bin angeödet." Kunst ist für sie ein Gebrauchswert, und sie verkündet ungeniert ihre Freude darüber, daß ihre Produkte erschwinglich sind: „Jeder, der daran Interesse hat, kann sie kaufen und bekommt das Beste, was er kriegen kann. Man kann zu einer Performance gehen, das ist billiger, als essen zu gehen."

Leider ist das Flugticket über den Atlantik trotz Kursverfall des Dollars mir immer noch zu teuer. Und so bleibt mir nur der Live-Mitschnitt jener sagenumwobenen (sogar vom altväterlichen „Spiegel" gefeierten) Welturaufführung von „United States I — IV". Fünf Langspielplatten dienen mir als Ersatzdroge für die Leibhaftige Laurie. (Gut gestaltet, aber ohne Texte, was ziemlich verwerflich ist!) Gewiß, wenn ich vor meiner Stereoanlage liege, fehlt mir das Bühnenbild, der Anblick der aus dem Vollen schöpfenden Anderson. Aber, wie gesagt, auch das Hörbare ist hypnotisch. Sie variiert ihren harmonischen Sprechgesang zu klingender Minimalmusik. Mal wandelt sie einen Akkord sparsam ab, mal spielt sie mit Endlosschleifen. Sie imitiert Männerstimmen, Frauenstimmen, Computerstimmen. Sie imitiert mit ihrer Geige ihre eigene Stimme, und mit der eigenen Stimme imitiert sie ihre Geige. Sie produziert harmonische . Klangteppiche, zu denen sie ihre Träumereien erzählt: wie sie sich einmal verfahren hat, wie sie eine Prüfung machen muß, wie sie...

Meine Lieblingskurzgeschichte ist „Beginning French". Anderson berichtet von einem Auftritt in Frankreich. Weil sie sich vom Sprachklang faszinieren läßt, bewegt sie den Mund, produziert diese fremden Laute und „spricht französisch", ohne die Sprache gelernt zu haben. „Es ist", rezitiert sie, „als ob du frühmorgens im Halbschlaf deine Frühstücksflocken ißt und dabei die Inhalts- angabe der Packung anstarrst. Plötzlich erkennst du, daß du ißt, was du liest. Aber dann ist es zu spät... Ich hatte jedenfalls die Illusion, Französisch zu verstehen. Aber dann ging ich spazieren und mich fragte jemand etwas ganz Einfaches. Da erkannte ich, daß ich kein einziges Wort verstand; Diese Unzulänglichkeit hatte zur Folge, daß ich am besten mit Babies zurechtkam. Was mir an diesen Babies unter anderem auffiel: Sie werden offensichtlich als eine Art Verkehrs-Tester benutzt. Die Mutter schiebt den Kinderwagen die Straße entlang. Sie kommt an eine große Kreuzung, wo ihr die Sicht von den vielen parkenden Autos versperrt wird. Also schiebt sie den Kinderwagen stückchenweise vorwärts und reckt dann den Hals. Danach. Und das Auffallendste an dieser Situation ist der Ausdruck auf den Gesichtern der Babies, die da mitten im Verkehr gestrandet sind und nach ihren Spielkugeln am Kinderwagen schlagen. Und sie sprechen noch nicht einmal Englisch, wenn Ihr wißt, was ich meine..."

Andersons Märchen. Sie erzählt wunderbar verwirrend, intelligent und absurd zugleich. Ihre Platten sind so etwas wie vertonte Soziologie, eingebettet in bestem amerikanischen Entertainment. Sie beherrscht es, das Unterhalten. Und dieses Können unterscheidet sie von vielen anderen Avantgardisten, die den eigenen Dilettantismus zum Programm aufblähen. Selbstironie, Fleiß, technisches Know-how und Mut zur fantasievollen Grenzüberschreitung. Das sind - neben vielen verdienten Superlativen — die Attribute, die Laurie Anderson sogar in der Avantgarde-Welt der Besonderheiten noch ganz besonders auffallen machen.

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