Athletinnen auf dem Olymp

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Nicht nur in der Antike, auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Olympiade noch komplett frauenfrei. In Athen 2004 ist fast jeder zweite Athlet eine Athletin.

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In der Antike hätte man sie umgebracht: Frauen bei den Olympischen Spielen. Nicht einmal als Zuschauerinnen wurden sie während des Großereignisses

im Norden der Peloponnes, etwa 300 Kilometer von Athen entfernt, geduldet. Zumindest die Verheirateten nicht. Denn nicht nur die Athleten, auch die Trainer mußten unbekleidet zu den Wettkämpfen erscheinen, seit sich eine stolze Mutter in Männerkleidung ins Heiligtum eingeschmuggelt hatte, um ihrem Sohn beim Kämpfen zuzusehen. Heimliche Zuschauerinnen, die mann ertappte, wurden den Typaion, einen schroffen Felsen, hinuntergeworfen. Von Athletinnen gar nicht zu reden. Die waren in der ganzen tausendjährigen Geschichte dieser Spiele, die dem Kult des Gottes Zeus dienten, ausgeschlossen.
Auch die Olympischen Spiele der Neuzeit, vom französischen Baron Pierre de Coubertin mit allen Schikanen wiederbelebt – Götterkitsch und falsche Heiligkeit, salbungsvolle Rituale, Fanfarenstöße und hymnische Anrufungen – schlossen Frauen zunächst aus. Der adlige Männerfreund setzte sich mit seiner Idee vom exklusiven Herrensportclub allerdings nur ein einziges Mal durch: beim ersten Olympia-Revival 1896 in Athen. Schon vier Jahre später in Paris lockerten 19 Athletinnen das Teilnehmerfeld auf. Das waren noch nicht mal zwei Prozent, dem Baron aber viel zuviel. Er schäumte.
Vorstellbar der hysterische Schreikrampf, in den Monsieur Coubertin verfallen wäre, hätte er die Neuigkeiten des Jahres 2004 noch erfahren können. Erstmals seit den ersten Spielen 776 vor Christus, erstmals seit 2.780 Jahren also, werden in diesem Sommer weibliche Athleten ihren Wettkampf im antiken Stadion austragen. Mon Dieu!
Mehr als 10.000 AthletInnen werden bei den Olympischen Spielen 2004 antreten – fast jeder Zweite eine Athletin. Auch wird keine Zuschauerin mehr vom Felsen gestoßen, und verheiratete Frauen dürfen nicht nur auf den Rängen sitzen, sondern sich auch auf dem Spielfeld tummeln. Sogar der ranghöchste Gastgeber in Athen ist eine Frau: Gianna Angelopoulos-Daskalaki, die Präsidentin des Organisationskomitees der Olympischen Spiele 2004, laut Presse „so ziemlich der härteste Knochen, seit Griechenland erstmalig urkundlich erwähnt wurde“. Nimmt man noch Dora Bakoyannis hinzu, die mit Rekordergebnis gewählte erste Bürgermeisterin der Hauptstadt, ist die hellenisch-weibliche Doppelspitze perfekt.
In diesem Jahr werden also 16 Kugelstoßerinnen als Erbinnen der olympischen Idee in das knapp 200 Meter lange Stadion einlaufen. Zurück zu den Wurzeln also? Nein. Denn inzwischen ist aus dem Götterkult ein milliardenschweres Fernsehereignis geworden. Und die Diskussion um die Teilnahme von Frauen an den Spielen hat eine neue Qualität erreicht. Mittlerweile ertönt immer lauter die Frage, wann endlich 50 Prozent der TeilnehmerInnen weiblich sein werden!
Im Jahr 2000 in Sydney waren es in der Endabrechnung genau 38,5 Prozent olympische Sportlerinnen gewesen. 2004 wird der Anteil weiter steigen – schließlich sind Frauen-Ringen und Frauen-Säbelfechten neu ins Programm aufgenommen worden. Boxen ist die letzte reine Männerdisziplin bei Olympia.
Auch das Programm der Paralympics, die an die Olympischen Spiele anschließenden Wettkämpfe für SportlerInnen mit Behinderung, verändert sich zugunsten weiblicher Teilnehmer. Die hohen Einschaltquoten der Paralympics 2000 in Sydney haben zu einer deutlichen Professionalisierung des Behindertensports in Deutschland geführt. Für die Frauen kommen 2004 die Disziplinen Judo und Sitzvolleyball neu hinzu. Immerhin ein Viertel der paralympischen AthletInnen waren beim letzten Mal weiblich, Deutschland lag mit fast 30 Prozent Frauen über dem Durchschnitt: 69 von 252 SportlerInnen mit Behinderung, die in Sydney antraten, waren Sportlerinnen. In diesem Jahr werden es sogar 75 von 213 sein.
Eine von ihnen ist Claudia Biene. „Große Anstrengung, Supererfolg“ sucht die Psychologiestudentin aus Berlin. Im Alter von 15 Jahren musste dem an Knochenkrebs erkrankten Mädchen der Oberschenkel amputiert werden. In Athen wird die heute 21-Jährige mit einer Beinprothese zum Diskuswerfen, Speerwerfen und Weitsprung antreten und, so ihr fester Vorsatz, eine Medaille erringen.
Dass die Athletinnen bei Olympia 2004 mindestens die 40-Prozent-Hürde überspringen, steht außer Frage. Allerdings tragen in mehreren Sportarten Frauen weniger Wettbewerbe aus. Und immer noch werden auch Nationen toleriert, die ihren Frauen aus angeblich „religiösen Gründen“ den Sport verbieten – ganz wie einst die alten Griechen. Vor vier Jahren wagten es noch 15 von 199 bei Olympia startenden Nationen, ohne Athletinnen anzutreten – 1988 waren es noch 42 von 160 (siehe Seite 31).
Doch der internationale Protest der Frauen zeigt Wirkung. Spiele wie die 1972 in München, als nur 15 Prozent der Teilnehmer Frauen waren, wären heute unvorstellbar. Dafür gibt es bei den nationalen und internationalen Sportverbänden noch erheblichen Nachholbedarf. Die mittlerweile acht Jahre alte, vom ehemaligen IOC-Präsidenten Juan Antonio Samaranch unterstützte Forderung, bis 2005 wenigstens 20 Prozent Frauen in die Entscheidungsgremien zu wählen, ist bisher nirgendwo auch nur annähernd erfüllt worden, schon gar nicht im Internationalen Olympischen Komitee selbst. In seiner fünfzehnköpfigen Exekutive sitzt nur eine Frau.
Die Suche nach Authentizität bei Olympia wird immer schwieriger: Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist das massive Problem des IOC – ob es nun um die Frauen, seine hohepriesterliche Attitüde, die nur mühsam verborgenen wirtschaftlichen Interessen oder um die wirkungslosen Anti-Doping-Appelle geht.
Was der Beliebtheit der Olympischen Spiele keinen Abbruch tut. Sie sind nicht nur das Lieblingsereignis der Leistungsfetischisten. Hier spielen sich Dramen und Seifenopern ab, hier kann mensch Sympathie und Antipathie verteilen, mitweinen und mitlachen, mitzittern und mithoffen.
Zum Beispiel bei der Weitspringerin Heike Drechsler, Olympiazweite von 1988, Olympiasiegerin von 1992 und 2000. Obwohl mittlerweile von vielen Verletzungen geplagt, will sie in Athen mit fast 40 Jahren noch einmal dabeisein. Noch einmal war sie bereit, sich das harte Training einer Weltklasseathletin zuzumuten, um ein letztes Mal zur Elite zu gehören, im Olympischen Dorf zu wohnen und den Kitzel der Medaillenchance zu spüren. Einst galt Drechsler als spießiges Kind des eindimensionalen DDR-Sportsystems und konnte mit dem Glamour vieler Konkurrentinnen nicht mithalten. Heute, als erwachsene und gereifte Frau, begleiten sie auf ihrem Qualifikationsweg die Sympathien der deutschen Sportfans, weiblich wie männlich, östlich wie westlich.
Ähnlich dürfte es der Rennkanutin Birgit Fischer ergehen. Schon im Mai qualifizierte sich die 42 Jahre alte Paddlerin aus Kleinmachnow bei Berlin für ihre sechsten Olympischen Spiele. Sieben Goldmedaillen hat sie bereits, drei Silbermedaillen, 27 Weltmeistertitel. Zweimal hatte sie ihre Karriere beendet, nach den Spielen von Seoul 1988 als Majorin der Nationalen Volksarmee, 2000 nach den Spielen von Sydney als zweifache Mutter und Vermarkterin ihres eigenen Labels. Doch dann stieg sie bei einem Werbetermin wieder ins Paddelboot und es war um sie geschehen: „Ich möchte herausfinden, wo meine Grenzen liegen“, sagt sie.
Dass Fischer bei der entscheidenden Regatta in Duisburg gleich zwei Rennen gewann, zeigt nicht nur, was für eine herausragende Sportlerin sie ist. Es wirft auch ein bezeichnendes Licht auf die Szene der „Mädchen, die meine Kinder sein könnten“. Sport, das weiß Birgit Fischer, ist ein Verdrängungswettbewerb, und kein Kaffeekränzchen. Was die wild Entschlossene eindrucksvoll beweist. Sie paddelte bereits im Februar in den frühen Morgenstunden auf teilweise noch zugefrorenen Wasserflächen.
Andere wollen sich erst noch bekannt machen. Wie Anita Schätzle aus Haslach im Kinzigtal. Sie war im vergangenen Jahr bei der Leichathletik-WM in New York mit Platz fünf die erste Deutsche, die sich für das Ringerturnier von Athen qualifizierte. Alles spricht also dafür, dass sie dabei sein wird bei der olympischen Premiere der Frauen in dieser hochklassischen olympischen Sportart. Die 22-Jährige ist von Beruf Zimmerin, hat sich aber nach der Gesellenprüfung als Sportsoldatin bei der Bundeswehr-Fördergruppe Bruchsal verpflichtet. Schätzle ist jetzt Hauptgefreite, hat schon eine lange internationale Erfolgsliste vorzuweisen, und ist entschlossen, eine olympische Medaille zu holen.
Oder Lenka Wech, die Schlagfrau des deutschen Frauen-Achters. Sie hat es geschafft, nicht nur Ruderweltmeisterin zu werden, sondern gleichzeitig auch noch ihre Ausbildung als Ärztin abzuschließen. Die 28-jährige arbeitet mit feiner Hand in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie der Uniklinik Freiburg, wenn sie nicht gerade mit beiden Fäusten kraftvoll den Riemen durchs Wasser zieht. Sie und ihre Mitruderinnen können sich allerdings ins Zeug legen, wie sie wollen: Mit dem „Deutschland-Achter“ ist immer das traditionsreiche Großboot der Männer gemeint – auch wenn die Frauen Weltmeisterinnen sind, während das nationale Männer-Flaggschiff im Endlauf der WM 2003 in Mailand Letzter wurde. „Wir wollen in Athen die Goldmedaille“, sagt Lenka Wech selbstbewusst, während die männlichen Kollegen von einem Psychologen gepäppelt werden müssen und nur noch vorsichtig eine Medaillenchance „nicht ganz ausschließen“.
Ähnliche Horrorvisionen werden gerade auch für die deutschen Fußball-Traditionalisten wahr. Die Weltmeisterinnen aus Deutschland fahren mit der „Mission Gold“ nach Athen. Europa haben sie im Griff – man denke nur an den 6:0-Erfolg im Europameisterschafts-Qualifikationsspiel gegen die Ukraine just an dem Tag, als die deutschen Herren im Freundschaftsspiel gegen Rumänien mit 1:5 untergingen. Siegen wollen sie alle, die TeilnehmerInnen der Olympischen Spiele. Die einen wollen nicht zurücktreten in die Namenlosigkeit, die anderen träumen noch vom Rampenlicht. Die meisten aber unterschätzen den öffentlichen Druck, dem ein Sportstar ausgesetzt wird. Der psychische Zusammenbruch des Skisprung-Stars Sven Hannawald zeigt, wie zerstörerisch die vernetzten, gnadenlosen Sportmedien von Privatfernsehen bis Boulevardpresse sich auf labile Menschen auswirken können.
Eine allerdings hat bisher alle Attacken pariert und ist auch aus dem schmerzvollen Tal der Verspotteten und Verhöhnten gestärkt ins sportliche Rampenlicht zurückgekehrt: Die Schwimmerin Franziska van Almsick, die seit 1992 als Kindfrau vermarktet wurde und nun, im Herbst ihrer Karriere, immer noch erst 26 ist. Vor vier Jahren in Sydney wurde sie von der Bild-Zeitung für „zu dick“ befunden. Doch sie ließ rasch wieder die Muskeln spielen.
Zwei Jahre später wurde sie in ihrer Heimatstadt Berlin fünffache Europameisterin und verbesserte ihren eigenen, acht Jahre alten Weltrekord über 200 Meter Freistil. Ob sie den Weg nach Athen schaffen wird? Ob Körper und Seele noch einmal die Strapazen einer Olympia-Expedition aushalten können? „Gold ist mein letztes großes sportliches Ziel“, sagt sie.
Für eine ganz andere Olympionikin werden sich mit der Eröffnungsfeier am 13. August die strapaziösesten Jahre ihres Lebens dem Ende zuneigen: Gianna Angelopoulos-Daskalaki, 49, die Präsidentin des Organisationskomitees. Als die Juristin im Mai 2000 dieses Amt übernahm, waren die Vorbereitungen der griechischen Metropole so gut wie eingeschlafen – sogar die riesige Olympia-Uhr vor dem Fernsehsender ERT, die eigentlich rückwärts die Stunden bis zu den Spielen hatte zählen sollen, war stehengeblieben. Der Druck muss immens und ihre Referenzen exzellent gewesen sein, sonst hätte die griechische Regierung wohl kaum eine Frau bekniet, diesen repräsentablen Job zu übernehmen – in einem Land, wo nach einem Report der Vereinten Nationen vom Juni 2003 die Chancen für Frauen, ein wichtiges Amt in Politik und Wirtschaft zu erreichen, noch schlechter stehen als beispielsweise in Botswana, Namibia oder Costa Rica. Doch siehe da: Die elegante, weltgewandte Gattin eines der einflussreichsten Unternehmer Griechenlands gewann ein Rennen, das viele schon verloren glaubten. Ohne sie hätte das Internationale Olympische Komitee die Vergabe der Spiele an Athen wieder zurückgezogen. Gianna Angelopoulos-Daskalaki ist also die wichtigste Persönlichkeit dieser Spiele – das Gesicht von Athen 2004. Kein Wunder, dass die männlichen Kommentatoren der internationalen Sportpolitik sich am liebsten über ihren „Geltungsdrang“ und ihr reichlich aufgetragenes Make-up mokieren.
Diese Powerfrau, die sich mit 31 Jahren einen Sitz im Athener Stadtparlament erobert hatte und wenig später bereits im Landesparlament saß, arbeitet für ihre Spiele rund um die Uhr. Ganz wie die AthletInnen.
Anzunehmen, dass die zunehmende Athletik weiblicher Körper in den wohlhabenden und aufgeklärten Nationen auf das intensivere Training und bessere Ernährung zurückzuführen sind – und auf die Freiheit der Frauen, die Zahl ihrer Schwangerschaften selbst zu bestimmen. In den Extrembereichen des Spitzensports allerdings wird Kraftzuwachs auch für Frauen oft auch mit zusätzlichen Hormonen erschwindelt. Und natürlicherweise wirkt die Gabe männlicher Hormone bei Frauen noch gewaltiger als bei Männern.
„Da war auch ein kleiner, dicker Junge dabei.“ Diese spöttische Äußerung der deutschen Kugelstoßerin Nadine Kleinert bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2003 in Paris über den Körper der WM-Zweiten Nadeschda Ostaptschuk aus Weißrußland, die sich in ein bauchfreies Trikot gezwängt hatte, war da eine deutliche Anspielung. Die Männer sorgen ihrerseits mit ihrem eigenen Muskelmast-Programm dafür, dass der kolossale Abstand zwischen Männer- und Frauenkörpern nur mäßig schrumpft.
Die Sportlerinnen, die es bis ins Olympische Dorf geschafft haben, werden wohl kaum Zeit und Muße haben, über den imposanten Fortschritt nachzudenken, den der Frauensport seit den Spielen der Antike gemacht hat, mit einer rasanten Beschleunigung in den vergangenen Jahrzehnten. Auch mit dem gängigen Verlierertrost „Dabeisein ist alles!“ geben sich die Frauen heute nicht mehr zufrieden. In vielen Bereichen haben sie die Männer im Kampf um Werbeverträge und Fernsehzeiten, um Sportförderung und Preisgelder bereits eingeholt. Die schöne Helena, im alten Griechenland nicht mehr als eine Männer-Trophäe, trägt heute Spikes. Die Boxhandschuhe werden noch folgen.
Emily Bühler, EMMA Juli/August 2004
In EMMA: Mai/Juni 2003: Der Sprung über die letzte Hürde, September/Oktober 2000: Frauen am Start

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