Alice Schwarzer schreibt

Auf Wolke Neun: Alterslose Sehnsucht

Inge (Ursula Werner) im Konflikt zwischen Karl (Horst Westphal) und Werner (Horst Rehberg).
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Spätestens nach einer halben Stunde spielt es keine Rolle mehr, wie alt das Liebespaar ist. Nämlich ganz schön alt, zumindest für Film & Fashion. Inge ist 69 und Karl, in den sie sich so plötzlich und heftig verliebt, 76. Und dann ist da noch Werner, seit 30 Jahren Inges Mann und ebenfalls im Rentenalter.

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Regisseur Andreas Dresen, der uns schon mit "Halbe Treppe" und "Sommer vorm Balkon" ans Herz gerührt und zum Lachen gebracht hat, nimmt sich Zeit. Zeit für seine Figuren. Er zwingt uns, sehr genau hinzusehen. Ja, da sind Altersflecken und Falten; nein, dies sind keine drahtigen Senioten, sondern Menschen ihres Alters mit Spuren ihres Lebens.

Dreißig Jahre eine mehr oder weniger glückliche Ehe, eher mehr, Kinder, Enkel, Schrebergarten, liebe Erinnerungen. Und dann das. Völlig unerwartet, oder? Sie verliebt sich in einen anderen und verliert keine Zeit. Die beiden lächeln sich an, sind von sich selbst und ihrem Begehren überrascht.

Es geht um Lust und Sexualität - und ziemlich bald auch um Liebe. Das ist es, was letztendlich dann alles so kompliziert macht: Inge muss sich entscheiden, wenn sie nicht in Halbherzigkeit und Lüge leben will. Und Werner hat sich festgefügt eingerichtet in Ehe und Alter und mit sowas nun wirklich nicht mehr gerechnet. Das so ewige und so alterslose Drama nimmt seinen Lauf.

Mitreißend, wie Ursula Werner und Horst Westphal Begehren und Erfüllung spielen: sinnlich, ernst und komisch zugleich. Da wird sich umständlich aus der Bluse gewürgt oder über die mal ausbleibende Erektion miteinander gelacht.

Ist es ein Zufall, dass es ein ostdeutscher Regisseur ist mit ostdeutschen Schauspielerinnen, die diesen Film gemacht haben? Nein. Das sind dann eben doch vier Jahrzehnte weniger kapitalistische Propaganda für den Körper und die Sexualität als Ware. Bei dem Berliner Dresen stehen Menschen im Mittelpunkt.

Schön zu sehen, wie Inge aus der Routine erwacht, ihr Gesicht immer lebendiger und jünger wird - und ihr Liebhaber immer verführerischer. Auch in den Augen der Betrachterinnen. Jenseits des coolen Video-Clip-Kinos erleben wir in diesem Film Existenzielles: Sehnsucht, Leidenschaft - und Schmerz.

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