Alice Schwarzer schreibt

Brief an meine Schwestern

Artikel teilen

Liebe Irene,

Anzeige

als wir gestern Abend in unserem Stammlokal saßen, eigentlich für eine gemütliche Stunde, gerieten wir uns plötzlich politisch in die Haare. Zu unser beider Überraschung. Denn eigentlich sind wir uns in grundsätzlichen politischen Fragen fast immer einig. Wir kennen uns ja auch seit vielen Jahren, wir wissen, was wir voneinander zu halten haben.

Unser Gespräch wurde rasch heftig, und wir mussten uns abrupt trennen, konnten nicht weiterreden. Darum heute mein Brief. Es geht mir immer noch um Transsexuelle.

Anlass unserer Differenz: Ich erzählte dir, dass EMMA die Kontaktanzeige einer Transsexuellen bringt, „Carmen (ehemals männlich)", sucht Freundin. Du fandest das reichlich daneben. „Sowas hat doch in EMMA nichts zu suchen. Das sind doch gar keine richtigen Frauen!". Ich war nicht deiner Meinung und versuchte Dir zu erklären, warum. Das will ich jetzt hoch einmal tun. Weil mir deine Meinung wichtig ist. Und weil ich weiß, dass du damit in der Frauenbewegung nicht allein stehst.

Wir werden nicht als Frauen geboren, wir werden dazu gemacht. Beauvoirs Credo bleibt Kern jeder feministischen Analyse. Wollen wir sozial oder erotisch oder intellektuell oder psychisch ausbrechen aus der Frauenrolle, stoßen wir auf Widerstand, Spott und Gewalt. Wer weiß das besser als du und ich, als wir Feministinnen? Unser Ziel ist, in aller Schlichtheit und Vermessenheit, die Menschwerdung von Frauen und Männern. Endlich männlich und weiblich sein können und dürfen! Dafür kämpfe ich.

Nicht immer geht unsere Auflehnung gegen die Halbierung von Menschen in Männer und Frauen (und gegen die Herrschaft der einen über die anderen) nur über den Kopf. Oft haben wir ausbrechenden Frauen selbst Biographien, die es uns erleichtern, das Aufgesetzte der Rollenzuweisung zu erkennen, an den Stangen des Käfigs der Weiblichkeit zu rütteln.

Nun gibt es aber darüber hinaus Lebensläufe und -bedingungen, die einen sehr frühen, sehr tiefen Zweifel in bezug auf die geforderte Geschlechtsidentität pflanzen. Irgendeine Weiche ist „falsch" gestellt worden. Resultat: ein biologisch „männliches" Wesen mit einer „weiblichen" Seele. Oder ein biologisch „weibliches" Wesen mit einer „männlichen" Seele. Menschen also, die in ihrem Körper eine „falsche" Seele haben, die zwischen den Geschlechtern sind, Transsexuelle.

Diese Transsexuellen, von denen heute in der Bundesrepublik etwa 3.000 leben, haben nichts mit Transvestiten gemein. Transvestiten - Bezeichnung, die man gemeinhin auf Männer anwendet, die Frauenkleider tragen - lieben den Reiz der Kleider des anderen Geschlechts auf ihrem Körper, mit ihrem Körper selbst sind sie durchaus in Frieden. Transsexuelle aber wollen sich nicht „verkleiden". Transsexuelle wollen nur eines: endlich ihren Körper in Einklang bringen mit ihrer Seele.

In dieser Gesellschaft gibt es eine Schublade „Frau" und eine Schublade „Mann", dazwischen nichts. Darunter leiden nicht nur die Transsexuellen. Darunter leiden die meisten Frauen (und einige Männer). Für Transsexuelle aber eskaliert der Konflikt bis zur Neurose: sie wenden sich selbstzerstörerisch gegen den eigenen Körper.

Die Existenz des Transsexualismus beweist: Die Seele ist stärker als der Körper - sie bestimmt die Geschlechtsidentität. Der Körper ist nur Vorwand für diese Zuweisung. Lebensläufe von Transsexuellen sind Schicksale. Heimlichkeit, Demütigung, Verzweiflung. Erst seit 1981 ist es in der Bundesrepublik für eineM Transsexuelle/n rechtlich möglich, die Identität zu ändern: aus Karl wird nun auch im Ausweis Carmen, aus Michaela Michael.

Dass den meisten Transsexuellen der neue Ausweis nicht genügt,   sondern dass sie auch einen „neuen" Körper wollen, ja ihnen das   Voraussetzung zum Weiterlebenkönnen scheint - das ist schlimm. In einer vom Terror der Geschlechtsrollen befreiten Gesellschaft wäre Transsexualismus schlicht nicht denkbar. Transsexualismus scheint mir der dramatischste Konflikt überhaupt, in den ein Mensch auf dem Weg zum „Mannsein" oder „Frausein" in einer sexistischen Welt geraten kann.

In diesem Konflikt haben die Transsexuellen selbst keine Wahlmöglichkeit mehr: ihr Hass auf den „falschen" Körper ist   weder durch Argumente noch durch Therapien zu lösen. Transsexuelle sind zwischen die Räder des Rollenzwangs geraten. Einziger Ausweg scheint ihnen die Angleichung von Seele und Körper. Preis: die Verstümmlung des Körpers. Und: die Zerschlagung aller sozialen Zusammenhänge.

Seit Ende der 70er Jahre nun sind Transsexuelle in Frauenzentren aufgetaucht, genauer: Frauen, die einst einen Männer-Körper und eine Männer-Realität hatten. Oft sind sie engagierte Feministinnen. Was mich nicht überrascht. Wer schließlich   hätte schmerzlicher am eigenen Leibe erfahren, was es heißt, „keine richtige Frau" zu sein?

In den Frauenzentren, vor allem in den Lesbengruppen, reagierten viele abwehrend auf die Transsexuellen. Nein, „solche" hätten in der Frauenbewegung nichts zu suchen, das wären ja gar keine richtigen Frauen, die hätten schließlich Jahrzehnte männlicher Sozialisation hinter sich... Das war der Tenor heftiger, interner Debatten Anfang der 80er Jahre. Inzwischen haben sich die einst Transsexuellen und jetzt Frauen zum Teil selbst organisiert. Ich war nie einverstanden mit der abweisenden Reaktion mancher Feministinnen. Mehr noch: Ich war und bin darüber empört! So wie über dich gestern abend, Irene. Die hätten nichts „bei uns" zu suchen, sagst du, und wendest dich ab.

Siehst du denn nicht, dass Carmen nicht nur eine Schwester ist wie alle anderen, sondern sogar eine, die zu uns herabgestiegen ist? Denn ein Mann, der Frau wird, hat einiges zu verlieren in einer Männergesellschaft, das weißt du doch nur zu genau. Und eine biologisch männliche Transsexuelle ist dann auch objektiv Frau, wenn sie Körper und/oder Pass geändert hat. Sie kann ihr Frausein von nun an ebenso wenig aufkündigen wie du und ich. Und wenn du sie nun zurückstößt, machst du genau dasselbe wie der Rest der Gesellschaft: du denkst in den unerbittlichen Kategorien „Mann" und „Frau".

Und darum sind Carmen, Michaela, Maria, Karin, sind sie alle meine Schwestern. Und ich würde mir wünschen, dass sie in Zukunft auch deine Schwestern sind. Und, dass du weiter mit mir kämpfst gegen Verhältnisse, die aus Körpern Gefängnisse machen, in denen nur maßgeschlagene Seelen Platz haben.

Artikel teilen
 
Zur Startseite