Christine Lagarde: Das Finanzgenie

© photogloria
Artikel teilen

Als Christine Lagarde vor vier Jahren in ihr Büro im sechsten Stock des Finanzministeriums einzog, ließ sie dort einen, vorsichtig ausgedrückt, ungewöhnlichen Teppich verlegen: 50 Quadratmeter Zebramuster. Das war keine Geschmacksverirrung, sondern Strategie.

Anzeige

Man hatte die Herrin über 6000 Beamte vor den „vielen kleinen grauen Männern“ gewarnt, die beim Sprechen unablässig auf ihre Schuhe starren würden. Die psychedelischen Bodenwellen aber lösen beim Betrachter automatisch Schwindel aus, und so müssen die als „etwas introvertiert geltenden Finanzbeamten jetzt statt ihrer Füße mich anschauen.“

Christine Lagarde ist 1,80 Meter groß und gilt auch in ihrem Fachgebiet als überragend. Es sieht darum so aus, als ob die französische Finanzministerin Ende Juni an die Spitze des Internationalen Währungsfonds gewählt wird – als erste Frau, versteht sich.

Die potenzielle IWF-Chefin hasst jene Engstirnigkeit und Fachidiotie, die man Finanzleuten gemeinhin nachsagt. Daher der Zebra­teppich, daher ihre monatlichen „out-of-the-box-dinners“, bei denen sie in Gesellschaft von KünstlerInnen, Computerfreaks oder StreetworkerInnen über den ministeriellen Tellerrand schaut. Daher ihre Abneigung gegen homogene und deshalb uninspirierte Gruppen – wie die Männerrunden, in denen sie oft sitzt.

Bei Wirtschaftsgipfeln, heißt es, habe Lagarde immer eine Liste mit den Namen kompetenter Frauen dabei, die sie an passender Stelle ins Spiel bringt. „Ich habe lange geglaubt, dass Arbeit und Kompetenz genügen, damit sich Frauen in der Gesellschaft und in Unternehmen durchsetzen“, sagt sie. Von diesem Glauben ist die Juristin und Amerikanistin längst abgefallen. Außerdem, so hat die potenzielle Nachfolgerin von Dominique Strauss-Kahn beobachtet, „stecken Frauen weniger Libido und weniger Testosteron in den Arbeitsplatz“.

Christine Lagarde aus der Hafenstadt Le Havre in der Normandie hat viele ihrer 55 Lebensjahre im Ausland verbracht, die meisten davon in den USA. Das Faible für die Vereinigten Staaten übernahm die Tochter einer Lehrerin und eines Literaturprofessors von Vater Robert. Er starb, als Christine 16 war. Von nun an jobbt die Tochter neben der Schule als Jeansverkäuferin und auf dem Fischmarkt. Mit 18 geht sie mit einem Stipendium zum ersten Mal in die USA, beim zweiten Mal erlebt sie während des Studiums den Watergate-Skandal aus nächster Nähe.

Mit 25 tritt Lagarde in die international agierende Wirtschaftskanzlei Baker & McKenzie ein, 18 Jahre später sitzt sie als deren Chefin in der Firmenzentrale in Chicago und leitet 3400 MitarbeiterInnen in 70 Staaten und macht über eine Milliarde Umsatz. Ihre beiden Söhne, damals elf und 13 Jahre alt, leben in dieser Zeit beim Vater, von dem Lagarde inzwischen geschieden ist. Heute ist Lagarde mit ihrem ­Jugendfreund Xavier Giocanti, einem Marseiller Unternehmer, liiert.

Im Jahr 2005 ruft Frankreich nach seiner tüchtigen Tochter. Lagarde soll in der Regierung des neuen Premierministers de Villepin Staatssekretärin für Außenhandel werden. Ein repräsentativer Händeschüttel-Job, den die dafür überqualifizierte Top-Managerin dennoch annimmt. Sie steht „unter Schock“, weil der Rechtspopulist und Algerien-Folterer Jean-Marie Le Pen es bis in die Präsidenten-Stichwahl ­geschafft hatte. Auch das Nein der Franzosen zum EU-Vertrag ist für die Weltbürgerin ein Grund, sich in die Politik einzumischen. 2007 übernimmt sie das Finanzministerium – als erste Frau, versteht sich.

Das eine oder andere haben die Franzosen ihr zunächst übelgenommen. Erstens: Lagarde spricht perfekt und akzentfrei Englisch. Diese Qualifikation, dem Rest der Bevölkerung eher fremd, bewährte sich allerdings in der Finanzkrise, als die Ministerin tage- und nächtelang mit Finanzexperten in aller Welt telefonierte, dermaßen, dass selbst die anglophoben Franzosen Madame Bewunderung zollten. Inklusive Präsident Sarkozy, der seine eigensinnige Ministerin gern wieder losgeworden wäre, nun aber feststellen musste, dass sie unentbehrlich war.

Noch unbeliebter machte sich die für ihre Disziplin bekannte Vegetarierin und Alkohol-Abstinenzlerin mit ihrer Antrittsrede vor der Nationalversammlung. Sie geißelte die 35-Stunden-Woche und bezeichnete das Arbeitsrecht des dauerstreikenden Landes als „erdrückend“. Auch die Verwendung der Vokabel „Sparplan“ stieß auf wenig Begeisterung.

Doch als ehemalige Vize-Meisterin im Synchronschwimmen hat Christine Lagarde gelernt, auch in anstrengenden Situationen Haltung zu bewahren. Ihren Spitznamen „Madame La gaffe“ – Madame Ausrutscher – ist sie inzwischen wieder los. Das mag daran liegen, dass die „Liberale mit einem Herzen für Regulierung“ die Steuern auf Überstunden senkte. Oder an ihrem souveränen Finanzkrisen-­Management, für das die Financial Times die Französin 2009 zur „Besten Finanzministerin Europas“ wählte.

Und jetzt also der Internationale Währungsfonds, der nach 65 Jahren offenbar reif ist für eine Chefin. Wie so oft bedarf es dazu offenbar einer schweren Krise. Nachdem der IWF seit seiner Gründung im Jahr 1946 als westliche Finanz-Kolonialmacht galt, die unter diktatorischen Bedingungen Geld an arme Entwicklungsländer verteilt, fließen nun zum ersten Mal 60 Prozent der IWF-Kredite an die krisengeschüttelten europäischen Länder, über denen der Pleitegeier kreist. Der Euro wankt, die Kreditwürdigkeit der USA wurde gerade herabgestuft. „Wenn ich gewählt werde, dann bringe ich all meine Erfahrung als Anwältin, Unternehmenschefin, Ministerin und Frau ein“, verspricht die potenzielle Weltwährungshüterin.

Wie auch immer Christine Lagarde den IWF führen wird, eins darf als sicher gelten: In den Hotels, in denen auch dieser IWF-Chef weltweit absteigen wird, werden die Zimmermädchen unbehelligt putzen können.

Artikel teilen
 
Zur Startseite