Claudia Berges: Vernachlässigung

Artikel teilen

Ich arbeite an einer Grundschule in einem sozial schwachen Stadtteil einer ostdeutschen Großstadt. Plattenbauten, AfD-Wähler, hohe Arbeitslosigkeit, aber natürlich auch Lichtblicke – engagierte Familien, tolle Kinder. In den letzten Jahren haben sich die Arbeitsbedingungen sehr verändert. Sachsen steht in nationalen Bildungsvergleichen meist weit oben: Es konkurriert mit Bayern und Thüringen.

Aber das Land verbeamtet die LehrerInnen nicht und zahlt im Bundesvergleich das geringste Gehalt. Viele ReferendarInnen lassen sich in Sachsen gut ausbilden, wandern dann aber in die besser zahlenden Nachbarländer ab. In meiner Stadt wurden die Zeichen der Zeit außerdem zu spät erkannt. Die Stadt wächst explosionsartig, die Folge ist ein extremer Lehrermangel, dazu aber noch immer der Sparkurs auf allen Linien.

Unsere Schule hatte bis vor einem Jahr noch Schultoiletten aus DDR-Zeiten. Viele Kinder wussten nicht, dass die Kette zum Spülen da ist. Die Toiletten waren in derart desolatem Zustand, dass die Putzfirma Beschwerde bei der Stadt einreichte, weil die Hygiene nicht gewährleistet werden konnte. Beschwerden darüber wurden mit der Begründung abgewiegelt, dass andere Schulen noch schlimmer aussehen.

Die Fenster sind ebenfalls DDR-Relikt und undicht. Bei Sturm und Regen stehen in einigen Zimmern Pfützen, im Winter läuft die Heizung auf Hochtouren, im Sommer ist es zu warm. In einigen Zimmern wurden nur Teile des ockerfarbenen Linoleums ausgetauscht, ocker gab es nicht mehr, deshalb nun ein Zebramuster aus orange und ocker.

Diese baulichen Mängel sind nur kleine Beispiele für die gesamte Investitionsmoral an Schulen. Die Kinder verbringen täglich viele Stunden in der Schule, der Hort ist im Schulgebäude integriert. Doch jedes Bürogebäude ist besser saniert und isoliert als die Schulen.

Das aber nur am Rande. Die eigentliche Belastung geht von der Situation im Klassenzimmer aus. Die Klassen sind in der Regel voll. Bei uns liegt der Schlüssel sowohl in bürgerlichen, gut situierten Stadtteilen wie in sozial schwachen Stadtteilen bei 28 Kindern pro Klasse. Denn es gibt in Sachsen keinen Faktor wie beispielsweise in Hamburg, nach dem der Klassenteiler mit Blick auf die sozialen Umstände eines Schulviertels berechnet wird.

Die Klassen sind in der Regel voll. In einer Brennpunktschule steht man also alleine vor einer Klasse, die ein bunter Querschnitt der Gesellschaft ist. In meiner Klasse sind zwei Kinder mit ADHS, ein Kind mit Autismus, ein Kind, das momentan mit seinen Eltern ein Anti-Aggressionsprogramm durchläuft, ein lernbehindertes Kind, ein deutlich emotional vernachlässigtes Kind, zwei Kinder mit einem sehr hohen IQ und großem Ehrgeiz und sechs Flüchtlingskinder. Es ist wahnsinnig anstrengend, allen gerecht zu werden. Wir haben im Kollegium oft das Gefühl, alles zu machen, aber nichts richtig. Die Kinder sind teilweise sehr fordernd, die Eltern machen Druck oder sind vollkommen uninteressiert.

An unserer Schule gibt es mehrere Fälle von emotionaler Vernachlässigung. Wenn Gespräche mit den Eltern ins Leere laufen, wenn auch die Schulsozialarbeiterin nicht mehr weiter weiß und wir uns ernsthafte Sorgen um das Kind machen, wenden wir uns an das Jugendamt. Weil der Allgemeine Sozialdienst aber so überlastet ist, heben die Mitarbeiter zurzeit nur die Hände. Sie geben an, dass sie nur noch bei Gewalt gegen Kinder tätig werden können oder, wenn Eltern die Kinder alleine in der Wohnung zurücklassen. Gesundheitliche und emotionale Vernachlässigung sind bei dem derzeitigen Personalnotstand keine ausreichenden Gründe zu intervenieren.

Das nagt natürlich an uns LehrerInnen. Wir sehen, was schiefläuft, haben aber keine Handhabe, das Kind aus dem Brunnen zu ziehen. Wir sind machtlos.

Auf der anderen Seite haben wir die engagierteren Eltern, die so klagewütig sind, dass wir die Maßgabe haben, Ordnungsmaßnahmen nur noch absolut wasserdicht zu verhängen. So haben wir in diesem Schuljahr drei Kinder an der Schule, die gegen LehrerInnen handgreiflich wurden. Wir machen uns mit Einträgen ins Hausaufgaben-Heft und Gesprächen mit uneinsichtigen Eltern eher lächerlich, als dass wir wirklich etwas bewegen könnten. Zu groß scheint die Angst der Bildungsagentur, also der Schulaufsichtsbehörde, zu sein, Eltern gegen sich aufzubringen.

Die Verrohung der Gesellschaft ist deutlich zu spüren. Viele Kinder haben ein extrem hohes Aggressionspotenzial, fühlen sich schnell zurückgesetzt und abgehängt und sind wandelnde Dampfkessel. Es ist mitunter erschreckend, wie hemmungslos gewaltbereit manche Kinder schon im Grundschulalter sind. Wenn ein Kind ausrastet und eine Gefahr für sich und andere darstellt, wird der Krankenwagen gerufen. Das Kind wird – wenn die Eltern zustimmen – dann in die Psychiatrische Klinik gefahren und im besten Falle mit einem Therapieplatz wieder nach Hause entlassen. Wenn die Eltern mitmachen … Wenn die Eltern aber signalisieren, dass sie an einer Therapie nicht interessiert sind, wird das Kind sofort von der Liste gestrichen. Zu begehrt sind die raren Plätze. Das Kind sitzt dann am Folgetag wieder bei uns in der Schule – eine tickende Zeitbombe …

In letzter Konsequenz können wir ein Verfahren zur Aufnahme in eine Förderschule anstrengen, aber das zieht sich sehr lange hin. So ist ein Schüler, der in der 2. Klasse an der Schule für Erziehungshilfe zur Überprüfung gemeldet wurde, mittlerweile in der 4. Klasse und verlässt im Sommer die Schule. Die Schule für Erziehungshilfe ist vollkommen überlastet, es dauert oft Jahre, bis ein Kind dort einen Platz bekommt. So lange sind wir also Einzelkämpfer und versuchen, das Kind im Zaum zu halten.

In meiner 1. Klasse wurde mit wahnsinnigem Kraftaufwand ein Ruhen der Schulpflicht bei einem Schüler erwirkt. Er war extrem gewalttätig Kindern wie Lehrerinnen gegenüber. Die Schulsozialarbeiterin hatte Biss- und Kratzwunden von ihm, ich selber blaue Schienbeine. Die Schulpsychologin schlug Alarm, sagte, dass eine Gefahr von ihm ausgehe, die Schule für Erziehungshilfe hatte aber keinen Platz. Die Psychiatrische Klinik hatte auch keinen Platz und setzte ihn auf die Warteliste. Der Allgemeine Soziale Dienst erklärte, dass er für den Jungen keine Schulbegleitung bewilligen kann. So ist das Kind seit einem Jahr zu Hause mit seinem gewaltbereiten Vater – und wird im Sommer wieder in einer Regelschule eingeschult. Es ist nichts passiert, um dem Kind zu helfen.

Das hohe Aggressionspotenzial geht stärker von den Jungen aus. Die herausfordernden Mädchen bei uns fallen eher durch Klauen und verbales Mobbing auf. Wir haben eine extrem herausfordernde 2. Klasse, die von mehreren Jungen dominiert wird. Es fällt den Jungen schon schwer, morgens einfach nur durch die Tür zu kommen und ihre Sachen an den Platz zu legen. Sie stürzen lieber herein, brüllen herum, fegen Dinge anderer Kinder vom Tisch und müssen zwanghaft mit jeder Geste zeigen: Ich bin was, ich kann was, ich hab hier das Sagen.

Mit einem Jungen dieses Kalibers lässt sich gut in einer Klasse leben, leider hat die besagte 2. Klasse aber fünf von der Sorte. Die Jungen gieren nach Aufmerksamkeit, haben ein völlig übersteigertes Ego, fühlen sich ständig benachteiligt und suchen bei anderen Schwächen, um sich größer und mächtiger fühlen zu können. Dieses hohe Erregungspotenzial ist schwer nachzuvollziehen. Sie sind ständig auf dem Sprung. Weist man die Jungs konsequent in ihre Schranken, fällt oft die Fassade und sie weinen wie 8-Jährige. Diese Jungen kommen aus allen sozialen Schichten.

Die Integration von Flüchtlingskindern ist eine weitere große Herausforderung. An unserer recht kleinen Schule (zwei- bis dreizügig) gibt es zwei voll belegte Vorbereitungsklassen. Ziel ist es, die Kinder in den Vorbereitungsklassen ankommen zu lassen und sie so schnell wie möglich in die Zielklassen zu integrieren. Das klappt bei vielen Kindern prima, die Sprachfortschritte sind enorm.

Dennoch ist es in einer Klasse mit 28 Kindern nicht zu schaffen, diese Kinder vernünftig zu fördern: Sie brauchen besondere Unterstützung, das Aufgabenverständnis fällt schwer. Sie haben alle eine mehr oder weniger traumatische Flucht-geschichte hinter sich. Teilweise sind Fami-lien noch nicht zusammengeführt, manche Kinder sind alleine nach Deutschland gekommen. Und wir haben kaum Zeit hinzuhören. Wir sehen das Potenzial bei vielen Kindern, wir bemühen uns, aber kapitulieren häufig, weil es an Zeit fehlt.

Sehr frustrierend ist es dann zu hören, dass wir die Deutschen vorziehen sollen. Wenn zum Beispiel eine Klasse mit 28 Kindern voll ist und im Laufe des Schuljahres ein Kind ohne Migrationshintergrund aus dem Schulbezirk dazukommt, soll laut Bildungsagentur ein Flüchtlingskind zurück in die Vorbereitungsklasse geschickt werden, um dem deutschen Kind Platz zu machen. Der Fall ist noch nicht eingetreten – und wir würden uns auch mit Händen und Füßen dagegen wehren. Diese Kinder sind nicht mehr unsere Gäste, sondern Teil unserer Gemeinschaft.

Meiner Meinung nach sollten an jeder Schule Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter eingesetzt sein und in jeder Klasse eine pädagogische Unterrichtshilfe. Zu zweit kann man es schaffen. Wenn nun nach und nach aber auch noch die Inklusion durchgezogen werden soll, sehe ich überhaupt kein Land mehr. Wir werden den Kindern mit ihren zahlreichen Problemen in einem deprivierten Viertel nicht mehr gerecht.

Die Flüchtlingslage in den Klassen sehe ich langfristig entspannt. Momentan sind wir noch total überfordert, aber schon die kleinen Geschwisterkinder unserer zugezogenen Schüler werden in ein paar Jahren besser vorbereitet in die Schule kommen. Die Sprache ist dann geläufiger, die Strukturen bekannter, der Ehrgeiz ist hoffentlich bei allen geweckt.

Ich bin sehr gerne Lehrerin und hänge an meinen Schülerinnen und Schülern. Es muss aber Geld in die Hand genommen werden, wir brauchen Unterstützung, damit unser Bildungssystem nicht aus den Fugen gerät. Das sind wir unseren Schülerinnen und Schülern schuldig.

Doch genug der Jammerei. Morgen ist wieder ein neuer Schultag.

Ausgabe bestellen
Anzeige
'
 
Zur Startseite