Alice Schwarzer schreibt

Claudia Dinkel erhält Recht

Claudia D. bekam Recht. © Paul Schirnhofer/Bunte
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Als Jörg Kachelmann am 31. Mai 2011 freigesprochen wurde, machte der Richter es sich nicht einfach. Nach neun Monaten Verhandlung, einer endlosen Reihe von Zeuginnen und – sich teilweise widersprechenden - Gutachten sprach Richter Seidling den Angeklagten frei. Aber gleichzeitig betonte er, man habe nicht klären können, ob der Angeklagte schuldig sei oder nicht – und ob die Ex-Freundin gelogen oder die Wahrheit gesagt habe. Der Verdacht, dass Kachelmann seine Ex-Lebensgefährtin vergewaltigt und mit dem Tode bedroht habe, habe sich zwar „nicht verflüchtigt“, aber das Gericht habe gleichzeitig weiterhin „Zweifel an seiner Schuld“. 

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Dinkel mochte die Vorwürfe nicht auf sich sitzen lassen

Direkt nach diesem Freispruch dritter Klasse gingen Kachelmann und seine Anwälte an die Öffentlichkeit und bezeichneten Claudia Dinkel – wie vielfach schon Monate vor Beginn des Prozesses – als „Lügnerin“ und „Erfinderin des Vergewaltigungsvorwurfes“. Das mochte Claudia D. nicht auf sich sitzen lassen. Sie gab nun auch ihrerseits der Bunten ein Interview, in dem sie unter anderem erklärte: „Wer mich und ihn kennt, zweifelt keine Sekunde daran, dass ich mir diesen Wahnsinn nicht ausgedacht habe.“ Und sie fügte hinzu: „Es war aber so!“ Kachelmann habe in der besagten Nacht „die Machtverhältnisse wieder so hergestellt, wie sie seiner Meinung nach richtig sind“. 

Dagegen klagte Kachelmann. Und das Kölner Landgericht sowie das Oberlandesgericht gaben ihm recht. Jetzt aber hob das Bundesverfassungsgericht in einer wahrhaft spektakulären Entscheidung das Maulkorb-Urteil der Kölner auf. Die Karlsruher RichterInnen argumentieren, mit dem Sprechverbot für Claudia Dinkel sei „ihre Meinungsfreiheit in verfassungsrechtlich nicht mehr tragbarer Weise eingeschränkt“ worden. Die Kölner hätten nicht „in der gebotenen Weise berücksichtigt“, dass Kachelmann sich zuvor „diffamierend“ über Claudia Dinkel geäußert habe. Er müsse deshalb ihre „entsprechende Reaktion“ hinnehmen.

Bis heute weiß niemand, was wirklich geschah in dieser Nacht

Die VerfassungsrichterInnen erinnerten daran, dass in dem Strafverfahren 2011 in Mannheim nicht geklärt werden konnte, ob die Angaben des Angeklagten oder die der Nebenklägerin „der Wahrheit entsprechen“. Darum stellten sich auch nach dem Freispruch des Klägers „die verschiedenen Wahrnehmungen als subjektive Bewertung eines nicht aufklärbaren Geschehens dar, die nicht als Tatsachenbehauptung, sondern als Meinung zu behandeln sind“.

Will sagen: Bis heute weiß niemand, was wirklich geschah in dieser Nacht. Wenn hie Kachelmann behauptet, er habe die Frau nicht vergewaltigt, und da Claudia D. behauptet, Kachelmann habe sie vergewaltigt – dann sind das keine Tatsachen, sondern Meinungen. Und das mutmaßliche Opfer hat ebenso das Recht, seine Version öffentlich zu vertreten wie der freigesprochene Angeklagte.

Nach Jahren der hemmungslosen Beschuldigungen Kachelmanns, Claudia Dinkel sei eine „Falschbeschuldigerin“ und „rachsüchtige Lügnerin“ bekommt die Ex-Freundin von Kachelmann nun erstmals von höchster Instanz bestätigt, dass sie das Recht hat, sich zu wehren. Das Kölner Urteil wurde aufgehoben und geht jetzt zurück ans Oberlandesgericht. Da muss neu geurteilt werden - diesmal auf dem Boden der Verfassung. 

Ein tröstliches Urteil für alle mutmaßlichen Opfer

Da die Anwälte von Kachelmann nach dem Urteil Dutzende von Prozessen gegen berichterstattende Medien und auch gegen Claudia Dinkel angezettelt hatten - und manche gewonnen oder auch verloren -, sind die beiden letzten grundsätzlichen Urteile innerhalb weniger Wochen tröstlich. Tröstlich nicht nur für Claudia Dinkel, sondern für alle mutmaßlichen Opfer. Auch sie dürfen sich wehren! Das betonten die VerfassungsrichterInnen jetzt ausdrücklich, indem sie auch mit dem "öffentlichen Interesse" argumentierten in bezug auf die "Konsequenzen und auch Härten, die ein rechtsstaatlicher Strafprozess aus Sicht möglicher Opfer haben kann". Sie hatten also nicht nur den Fall Kachelmann im Blick, sondern auch zukünftige Prozesse, in denen es um Sexualgewalt geht.

A.S.

 

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Alice Schwarzer schreibt

Eine Gefahr für den Rechtsstaat

© Ronald Wittek/dpa
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Sie alle werden den Kachelmann-Prozess verfolgt haben. Sie alle werden eine Meinung zu dem Fall haben. Und Sie (fast) alle werden überzeugt sein, ich hätte geschrieben, der Angeklagte sei schuldig und seine Ex-Freundin sage nichts als die Wahrheit. Was falsch ist. Sie (fast) alle haben sich täuschen lassen. Auch Sie sind ein Opfer dessen, was wir hier Litigation-PR nennen.

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Der Versuch der direkten Beeinflussung der öffentlichen Meinung in Bezug auf einen Prozess und seine ProtagonistInnen – und damit die indirekte Beeinflussung des Gerichts – hat inzwischen Dimensionen erreicht, die den Rechtsstaat gefährden. Die Klassenjustiz ist wieder eingeführt. Denn Litigation-PR ist eine Frage des Geldes. Dafür ist der Kachelmann-Prozess ein exemplarisches Beispiel.

Recht wird nicht im emotions- bzw. interessenfreien Raum gesprochen. Und Richter sind a) auch nur Menschen und b) beeinflussbar. Von den zahllosen Prozessen gar nicht zu reden, in denen muslimische Frauen- und Töchtermörder in den 1980er und 1990er Jahren freigesprochen oder zu verständnisvollen Mindeststrafen verurteilt wurden – wegen der „anderen Sitten“ und weil auch ihre Opfer gegen die Ehre, in dem Fall gegen die „Familienehre“ verstoßen hatten. Das änderte sich erst nach 9/11 allmählich.

Recht wird nicht im emotions- bzw. interessen-
freien Raum gesprochen

Die heute übliche Psychologisierung des Täters geht leider immer auf Kosten der Opfer. Aufgekommen ist sie in den 1960er Jahren, genau gesagt 1967 ab dem Prozess gegen den Jungen-Mörder Jürgen Bartsch. Die Vorgehensweise, nach den Prägungen des Täters zu fragen, war damals durchaus ein Fortschritt. Denn sie löste die Kopf-Ab-Mentalität der Nach-Nazizeit ab und machte klar: Auch Mörder sind Menschen. Inzwischen aber ist das Verständnis für die Täter längst in eine Ignoranz der Opfer gekippt. Es ist zur Waffe gegen Opfer geworden und zum Freifahrtschein für Täter. Die Argumentation ist dabei eine fast immer gleiche: schwere Kindheit, kaltherzige Mutter etc. Von den oft auch gewalttätigen Vätern der Täter ist übrigens selten die Rede.

Schon lange scheinen viele Richter so verunsichert in unserer Mediengesellschaft, dass sie in heiklen Fällen die Verantwortung mehr und mehr an die Gutachter abschieben. Auf deren – keineswegs rein objektiven, sondern zwangsläufig ebenfalls subjektiven und manchmal sogar interessengeleiteten – Vorhaltungen basieren sie ihre Urteile. Der Bundesgerichtshof fördert diese Entmündigung der Richter auch noch. Die Nichthinzuziehung eines „Sachverständigen“ – der oft kaum sachverständiger ist als ein Richter – kann dem Gericht beim Berufungsverfahren als Fehler angelastet werden.

Kurzum: Massig Software und wenig Hardware. Genau da rein stößt die Litigation-PR. Doch was ist neu an ihr? Die Dimension! Waren es früher „nur“ Anwälte und gewisse Journalisten, die ein Interesse an der parteiischen Darstellung eines Prozesses hatten, so kommen heute die „Medienanwälte“ bzw. „Kommunikationsexperten“ hinzu, plus schwer greifbare AktivistInnen in der weiten Welt des Internet.

So diffamierte Kachelmanns „Medienanwalt“ das mutmaßliche Opfer schon Monate vor dem Urteil als „die Erfinderin des Vergewaltigungsvorwurfes“. Ungestraft. Gleichzeitig versuchte er, den Medien mit einer Flut von einstweiligen Verfügungen und Abmahnungen einen Maulkorb umzulegen. Dabei ging es keineswegs nur um den legitimen Persönlichkeitsrechtsschutz, sondern so manches Mal ganz einfach um das Verhindern der Berichterstattung durchaus relevanter Fakten – wie zum Beispiel die DNA-Spuren an dem fraglichen Messer.

Viele Richter schieben die Verantwortung mehr und mehr ab an die Gutachter

Die erste Instanz des Kölner Landgerichts gab, zur Fassungslosigkeit der BerichterstatterInnen, quasi allen Verbotsanträgen des Kölner „Medienanwaltes“ statt. Die zweite Instanz aber gab im November 2011 in der Messer-Frage bild.de recht. Bleibt abzuwarten, welche Folgen diese Entscheidung für zukünftige Berichterstattungen über Prozesse haben wird.

Verschärfend hinzu kommt die Rolle gewisser Journalisten und Journalistinnen in diesem Fall. Die führende Meinungsmacherin im Fall Kachelmann war Sabine Rückert von der Zeit. Die bekannte Gerichtsberichterstatterin veröffentlichte bereits Monate vor Beginn des Prozesses, nämlich im Juni 2010, gleich ein ganzes Dossier über den „Justizirrtum“ aus Verteidiger-Perspektive – sie beschied: Kachelmann sei unschuldig und ein Opfer seiner rachsüchtigen Ex-Freundin. Das alles gespickt, drei Monate vor Beginn des Prozesses, mit erstaunlichen Details. Von wem?

Dieselbe Journalistin mischte wenig später bei dem Wechsel des Verteidigers von Kachelmann mit. Sie empfahl dessen erstem Anwalt, Reinhard Birkenstock, dringlich die Hinzuziehung eines zweiten, Johann Schwenn. Mit ihm hatte Rückert bereits einmal einen „Justizirrtum“ aufgedeckt, in einem Missbrauchsfall, und gleich ein ganzes Buch darüber geschrieben.

Schwenn löste Birkenstock dann mitten im laufenden Verfahren überraschend ab und erwies sich als Meister der Stimmungsmache. Mit besserwisserischen, arroganten Auftritten und medial massiv unterstützt von seiner bewährten Gefährtin Rückert, schüchterte der Hamburger „Staranwalt“ nicht nur das Mannheimer Provinzgericht ein, sondern auch so manchen autoritätshörigen Journalisten. Etliche schwenkten, nach anfänglicher Kachelmann-Kritik, nun um auf den Kurs des machtbewusst auftretenden Verteidigers und der ihm gewogenen Hamburger Leitmedien.

Gerichte und Medien scheinen der Wucht der Litigation PR nicht gewachsen

Ein wahrhaft grotesker Höhepunkt der Schwenn-Strategie in Sachen Stimmungsmache war, dass er mich von der Pressebank in den Zeugenstand beordern ließ. Wohl wissend, dass ich a) nichts zu sagen hatte, b) als Journalistin die Aussage verweigern würde. Das ganze Manöver diente ausschließlich dem Ziel, mich als Kachelmann-kritische Berichterstatterin unglaubwürdig zu machen und in den Verdacht der Parteilichkeit pro mutmaßlichem Opfer zu rücken. Mit Erfolg.

War ich in der ersten Hälfte des Prozesses noch eine Journalistin unter vielen, die das Geschehen verfolgt und sich in den Pausen mit den KollegInnen darüber austauschte, so war ich in der zweiten Hälfte eine Gebrandmarkte. Kaum einer bzw. eine mochte noch mit mir reden bzw. in der Mittagspause mit mir gesehen werden. Es war nicht ohne Komik – und eine sehr, sehr aufschlussreiche Erfahrung.

Der Fall Kachelmann hat mich gelehrt, dass die Gerichte in Deutschland und auch die Medien weit davon entfernt sind, der konzertierten und hemmungslosen Wucht der Litigation-PR gewachsen zu sein – ja, manche Medien sind gar selber Teil der Litigation-PR. Im Ernstfall genügt es ja, erfolgreich Zweifel zu säen in Bezug auf die Schuld des Angeklagten – Freispruch.

Auch wenn es im Fall Kachelmann nur ein Freispruch dritter Klasse war. Denn noch in seiner Urteilsbegründung betonte der Richter, der Verdacht, dass Kachelmann seine damalige Lebensgefährtin vergewaltigt und mit dem Tode bedroht habe, habe sich „nicht verflüchtigt“, das Gericht habe weiterhin „Zweifel an seiner Schuld“.

86.800 mutmaßliche Opfer. Sie haben keine Litigation-PR-Berater

Genau das war meine Position in diesem ganzen Verfahren: der Zweifel. Als Gegengewicht zu der überwältigenden, selbstgerechten Pro-Kachelmann-Berichterstattung hatte ich die „Opferperspektive“ eingenommen. Was nicht etwa hieß, dass ich – so wie Rückert & Co. – nun auch meinerseits behauptet hätte, die Wahrheit zu kennen und im Gegenzug geschrieben hätte: Er ist schuldig. Nein, ich hatte mir lediglich erlaubt, darauf aufmerksam zu machen, dass es sein könnte, dass das mutmaßliche Opfer die Wahrheit sagt. Doch das war schon zu viel.

Denn es ging ja im Fall Kachelmann über die Interessen der direkt Betroffenen hinaus um etwas, was sehr viele Frauen und Männer betrifft: um die sexuelle Gewalt innerhalb einer Beziehung. Es ging um einen Mann, der im Verdacht stand, seine Freundin vergewaltigt zu haben. Und die Statistiken belegen: Bei jeder zweiten Vergewaltigung ist der eigene Freund oder Mann bzw. Ex-Mann der Täter. Entsprechend emotionalisiert und polarisiert war die öffentliche Stimmung. Von den geschätzten 90.000 Vergewaltigungen Jahr für Jahr allein in Deutschland sind laut internationaler Statistiken maximal drei Prozent Falschanschuldigungen. Doch nur ein Prozent wird letztendlich gesühnt. Und was ist mit den restlichen 86.800 mutmaßlichen Opfern? Die haben eben keine Litigation-PR-Berater.

Alice Schwarzer

Der - hier gekürzte - Text erschien in EMMA 4/2012.

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