Catcalling: Brauchen wir ein Gesetz?
Jüngst interviewte Der Spiegel einen Philosophen, der für mehr Meinungsfreiheit und Toleranz warb (Da könnte Der Spiegel selbst übrigens gleich mal mit anfangen). Der Philosoph, nach eigenem Bekenntnis früher Maoist – also Anhänger der in den 68ern dogmatischsten und terroristischsten Polit-Sekte –, nannte als Beispiel für Meinungsfreiheit die Demonstration von Anhängern eines Gottesstaates 2024 in Hamburg. Bis dahin war ich beim Lesen uneingeschränkt seiner Meinung. An der Stelle aber zuckte ich nun doch zusammen. Wie bitte, die sollen auch demonstrieren dürfen in Deutschland? Ja, solange sie nicht zur Gewalt aufrufen.
Ich dachte nach – und kam zu dem Schluss: Er hat recht. Natürlich passt mir, die ich die Islamisten für die Faschisten des 21. Jahrhunderts halte, das überhaupt nicht. Aber will ich, dass der Staat alles, was mir nicht passt, verbietet? Will ich – die ich mich als Teil einer Linken verstehe, die für soziale Gerechtigkeit sowie Gleichberechtigung der Geschlechter und gegen Gewalt ist – allen Konservativen und Rechten ihre Meinung verbieten? Nein, das wäre undemokratisch. Mich selbst stört ja schon lange, dass Linke gerne glauben, sie seien die Guten – und alle Rechten seien die Bösen.
Ich meine, die Brandmauer sollte nicht vor konservativ bzw. rechts stehen, sondern nur vor rechtsextrem. Und schon das ist nicht einfach zu definieren.
Dasselbe gilt für die ewigen Patriarchen, die über Jahrtausende ungebremst das Sagen hatten und nun seit 50 Jahren lernen müssen, dass das nicht mehr so läuft: das mit der Frauenverachtung und der verbalen Übergriffigkeit. Helfen dagegen gesetzliche Verbote? Nein. Wir sollten erst bei Taten bzw. Drohungen anfangen zu verbieten – aber nicht schon bei sexistischen Sprüchen. Denn damit würden wir schon wieder bei einer Einengung des Meinungskorridors landen (Wie im Fall Habeck der Rentner, der den Minister blöd fand und bei dem im Morgengrauen deswegen die Polizei vor der Tür stand). Überhaupt: Diese Anzeigen erstattenden PolitikerInnen. Haben die nichts Besseres zu tun als die eh schon überlastete Justiz mit sowas zu beschäftigen?
Ein konkretes Beispiel für die Grenze zur Strafbarkeit wäre für mich (in der Sprache der sexistischen Männer): „Ich fick dich gleich in den Arsch.“ Eine Drohung, also strafbar. „Du hast einen richtig geilen Arsch.“ Eine Meinung, wenn auch eine verächtliche, also nicht strafbar.
Hinzu kommt mein immer mehr schwindendes Vertrauen in die strukturell täterfreundliche deutsche Justiz. Von hundert mutmaßlichen Vergewaltigern wird letztendlich nur ein Täter verurteilt. Alle anderen bleiben auf dem Weg vor den Richter auf der Strecke. Die Opfer? Keine Chance.
Unter solchen Vorzeichen soll ich jetzt meine Hoffnung auf weniger Sexismus im Umgang mit uns Frauen auf ein Gesetz gegen dumme Sprüche setzen, das reine Symbolpolitik wäre?
Ich muss nicht daran erinnern, dass ich persönlich seit fünfzig Jahren und lange vor dem Internet Objekt der übelsten Beschimpfungen bin, bis hin zu Todesdrohungen. Vielleicht hätte ich mich öfter entschiedener wehren sollen – aber wie sollte ich das in einem Gesamtklima, das zumindest öffentlich nicht auf meiner Seite war? Auf eine Todesdrohung („Am Brandenburger Tor aufhängen!“) hat mich vor Jahresfrist die Polizei aufmerksam gemacht. Eine Kommissarin fragte, ob ich nicht Anzeige erstatten wolle? Okay, habe ich gemacht – und nie mehr was gehört.
Es bleibt darum für mich dabei: Ich schaue lieber nach vorne, statt in dieser Art Rückwärtsverteidigung meine Kräfte zu verlieren. Gleichzeitig finde ich, wir alle sollten Tag für Tag mit aller Entschiedenheit zu einem gesellschaftlichen Klima beitragen, das den Sexismus endlich auch so peinlich und unmöglich dastehen lässt wie den Rassismus. Dazu müsste jeder Einzelne beitragen, wir Frauen selbst und auch Männer.
Auf die Waffe einer Anzeige aber sollte nur zurückgegriffen werden, wenn die Attacke tätlich ist oder damit gedroht wird.
Aber diese ewigen Patriarchen schon nur für sexistische Sprüche verurteilen? Wer definiert dann die Strafbarkeit? Wollen wir damit unsere kostbare Zeit verlieren?
ALICE SCHWARZER
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