In der aktuellen EMMA

Das algerische Drama

Kamel Doud und Boualem Sansal 2018 in Paris. Foto: Francois Bouchon
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In seinem aktuellen Roman ist es Kamel Daoud gelungen, für das unvorstellbare Grauen, das in den 1990er Jahren über Algerien eingebrochen ist – sozusagen eine über Jahre währende Silvesternacht –, eine poetische Form und lyrische Sprache zu finden, die die Lektüre des nationalen Dramas nicht nur aushaltbar, sondern zu einem intensiven Erlebnis werden lässt.

Das Buch beginnt mit einem inneren Monolog der Bauerstochter Aube im Jahr 2018. Sie erzählt mit ihrer „inneren Stimme“ der in ihr wachsenden Tochter, was ihr widerfahren ist: Islamistische Terroristen, die nachts aus den Bergen herabgestiegen sind, haben ihr und ihrer Schwester – wie tausenden Kindern, Frauen und Männern – die Kehle durchgeschnitten.

Die Frauen starben ungeachtet von der internationalen Gemeinschaft

Die Schwester ist tot, Aube hat überlebt. Eine algerische Anwältin hat das schwer verletzte Kind adoptiert und mehrfach operieren lassen. Davon ist Aube am Hals zum Hohn eine Narbe zurückgeblieben, die aussieht wie ein grinsender Mund. Die Stimmbänder sind getrennt, ihre äußere Stimme ist verstummt. Aube wird eine moderne Scheherazade, die Nacht für Nacht um ihr Leben redet. Innerlich.

Zu ihrem Monolog gesellt sich irgendwann eine zweite Stimme: die des Sohnes des Buchhändlers. Auch seine Familie ist massakriert worden von den Mördern aus den Bergen.

Die dritte Stimme gehört wieder einer Frau. Sie ist eine von tausenden Mädchen und Frauen, die von den Terroristen gekidnappt und in die Berge verschleppt wurden. Dort hatten sie den Männern zu Diensten zu sein. Wurden sie schwanger, wurden meist auch sie geschächtet.

Mehr EMMA lesen! Die Januar/Februar-Ausgabe gibt es als Printheft oder eMagazin im www.emma.de/shop
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Die Rede ist von den „Schwarzen Jahren“, den 1990er Jahren. Die Islamisten, die im Dezember 1991 in Algerien die Wahl gewonnen hatten, waren vom postsozialistischen Militärregime gestoppt worden und in den Untergrund gegangen. Sie versuchten, ihren Sieg zu erzwingen. In diesem Bürgerkrieg starben über 200.000 Menschen – Frauen und JournalistInnen allen voran. Sie starben weitgehend unbeachtet von der internationalen Gemeinschaft.

2005 erließ die autokratische algerische Militärregierung ein „Dekret zur nationalen Versöhnung“, abgesegnet durch Volksabstimmung. Von einem Volk, dessen eine Hälfte Täter waren und die andere Hälfte Opfer. Oder auch beides zugleich. In dem Regierungs­dekret heißt es: „Jede Person, die in Wort, Schrift oder Handlung den guten Ruf der nationalen Streitkräfte oder anderer Organe der Republik wegen der Ereignisse der nationalen Tragödie beschädigt oder den Terrorismus rechtfertigt, wird mit einer Freiheitsstrafe von drei bis fünf Jahren und einer Geldstrafe von 250.000 bis 500.000 Dinar bestraft.“ 

Also: Deckel drauf! Niemand mehr darf in dem tief gespaltenen und tief traumatisierten Land über die „nationale Tragödie“ reden oder schreiben. Ein Volk bleibt stumm und traumatisiert zurück, ohne Chance auf Heilung. Heute sind die Algerier versunken in eine kollektive Depression und flüchten in die Religiosität. 

So wenig wie der nach einem Jahr Gefängnis gerade begnadigte Boualem Sansal hält Kamel Daoud sich an das Verbot. Beide leben heute in Paris im Exil. Über 398 Seiten erzählt Daoud den Schmerz und die Geschichte seines Landes. Durch das ganze Buch, durch die Jahrhunderte zieht sich die Blutspur der Massaker. Angefangen bei den Schafen, die alljährlich zum Opferfest geschächtet werden und deren dumpfe Schreie durch das doch eigentlich so schöne und mystische Land tönen. Es ist eine Kultur des Todes, nicht des Lebens; des Hasses, nicht der Liebe. Und ein Patriarchat mit tiefer Frauenverachtung. Solange sich das nicht ändert, wird Algerien wohl keine Chance haben.

Die Kolonialherren gingen, die Islamisten kamen. Früher, in der Zeit der Kolonialherrschaft Frankreichs, hieß es in Algerien: „Koffer oder Sarg“. Heute, eingekeilt zwischen Islamisten und autoritärem Militärregime, heißt es: „Koffer oder Moschee“. Die LeserInnen sollten sich jedoch nicht abschrecken lassen vom traurigen Thema. Der Trotzalledem-Widerstand und die Kraft der Sprache machen „Huris“ zu einem großen Leseerlebnis.   

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