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Luise F. Pusch: Irrweg Gendern

Linguistin Luise F. Pusch initiierte u.a. eine systematische Frauenbiografie-Forschung. - Foto: Franzis von Stechow
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In meinem Pass steht: „Der Inhaber dieses Passes ist Deutscher.“ Ich bin aber kein Deutscher. Hätte ich je in einem Deutschaufsatz geschrieben, ich sei „Deutscher“, so wäre mir das Maskulinum als Grammatikfehler angestrichen worden.

Ich bin Deutsche. Es müsste also heißen: „Der Inhaber dieses Passes ist Deutsche.“ Nein, das ist auch falsch. Zwar gilt es nicht als Fehler, wenn ich, obwohl weiblich, über mich sage: „Ich bin der Inhaber dieses Passes.“ Genauso korrekt ist aber „Inhaberin“. Und zusammen mit „Deutsche“ ist nur „Inhaberin“ richtig: „Die Inhaberin dieses Passes ist Deutsche.“

Im Pass meines Bruders steht derselbe Satz wie in meinem. Er hat sich nie daran gestört. Wieso sollte er auch? Der Satz ist ihm auf den Leib geschneidert. Aber wenn da stünde „Die Inhaberin dieses Passes ist Deutsche“, so wäre das nicht nur falsch, sondern eine Katastrophe. Die Passbehörden würden sich vor Männerbeschwerden kaum retten können, denn welcher Mann lässt sich schon gern „Inhaberin“ und „Deutsche“ schimpfen?

Weibliche Bezeichnungen sind für Männer genauso untragbar wie weibliche Kleidungsstücke. Und doppelter Papierkrieg ist für Behörden zu aufwendig, also werden uns Frauen die männlichen Bezeichnungen zugemutet. Es ist die einfachste Lösung. Frauen sind erstens geduldig, und zweitens sind männliche Bezeichnungen sowieso viel schöner und kürzer und praktischer und irgendwie edler und überhaupt allgemeiner.

Weibliche Bezeichnungen sind für Männer untragbar wie weibliche Kleidung

Ich bin Linguistin. Oder bin ich Linguist? Mal bin ich dies, mal jenes; ich habe mich längst daran gewöhnt. Eins aber steht fest: Meine Mutter war Sekretärin und nicht Sekretär. Sie hat den Sekretärinnenberuf ausgeübt und führt jetzt ein Rentnerdasein. Oder ist es ein Rentnerinnen­dasein? Schließlich führen Rentnerinnen ein ganz anderes Dasein als Rentner. – Meine Mutter ist vielleicht eine Ausnahme; sie ist Studentin der Philosophie – oder auch Student.

Mal dies, mal jenes. Ich stelle fest: Meine Muttersprache ist für Männer bequem, klar und eindeutig. Das Reden über Männer ist völlig pro­blemlos in dieser Männersprache. Schwierig, kompliziert und verwirrend ist nur das Reden über Frauen. Mutter Sprache ist auf meine Existenz etwa so gut vorbereitet wie Vater Staat auf die Existenz von Behinderten. Als „Problemgruppe“ dürfen wir uns mit offenkundigen Behelfslösungen herumschlagen, die als „Grammatik“ nicht weiter diskutiert werden. Denn schließlich: Wer wäre auch für Grammatik verantwortlich zu machen?

Als Frau und Linguistin interessieren mich nun folgende Fragen:

1. Wie kommt es, dass die deutsche Sprache so ist? War sie schon immer so? Welche Personen/Personenkreise/gesellschaftlichen Strömungen/geschicht­lichen Ereignisse/didaktischen Maßnahmen/sprachregelnden Verordnungen usw. sind möglicherweise für ihren heutigen Zustand verantwortlich?

2. Sind andere Sprachen auch so?

3. Wieso sind weibliche Bezeichnungen für Männer untragbar, männliche Bezeichnungen für Frauen jedoch nicht? 

4. Welche anderen Bereiche der Sprache – außer den Personenbezeichnungen – sind noch männlich geprägt?

5. Welche psychischen, kognitiven, gesellschaft­lichen und politischen Konsequenzen hat es für uns Frauen, dass unsere Muttersprache eine Fremdsprache ist?

6. Welche psychischen, kognitiven, gesellschaft­lichen und politischen Konsequenzen hat es für Männer, dass ihre Muttersprache eine Vatersprache ist?

7. Warum beschweren sich nicht mehr Frauen über die Frauenfeindlichkeit der deutschen Sprache? Warum gab es früher keine Diskussion über diesen Skandal?

8. Was können wir tun? Wie können wir aus Männer­sprachen humane Sprachen machen?

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Die herkömmliche Sprachwissenschaft kann solche und ähnliche Fragen nicht beantworten, weil sie sie nicht stellt. Das ist auch kein Wunder, denn sie wird, wie jede Wissenschaft, überwiegend von Männern verwaltet. Und warum sollten Männer ohne Not einen Tatbestand als Problem erkennen und behandeln, der ihnen nur Vorteile bringt?

Die männlich geprägte Linguistik hat es sogar vermocht, ihre Auffassung von Sprache auch in den Köpfen von Linguistinnen so fest zu verankern, dass nicht sie als Begründerinnen der Feministischen ­Linguistik anzusehen sind, sondern frauenbewegte „Laiinnen“, Nichtlinguistinnen, deren allgemeines Unbehagen in der Herrenkultur die Herrensprache von Anfang an selbstverständlich mit einbezog.

Die Feministische Linguistik, Anfang der siebziger Jahre von US-Amerikanerinnen begründet, inzwischen international verbreitet und seit 1978 auch in der Bundesrepublik beheimatet, hat zur Zeit zwei Themenschwerpunkte: Sprachsysteme und Sprechhandlungen, oder kürzer: Sprachen und Sprechen. Hinsichtlich des Sprechens untersuchen wir, welche typischen Redestrategien Frauen und Männer haben. Das Ergebnis der bisherigen Untersuchungen ist, dass Frauen in Gesprächen aller Art, ob es sich nun um Familiengespräche am Frühstückstisch oder um große Fernsehdiskussionen handelt, von Männern unterdrückt werden. Männer unterbrechen Frauen viel häufiger als umgekehrt, und sie reden viel länger als Frauen. Gelingt es Frauen doch einmal, zu Wort zu kommen, so verweigern Männer ihnen diejenigen Bekundungen aufmerksamen Zuhörens, ohne die ein Gespräch zum Monolog wird und stirbt.

1976 kam ich zur Frauenbewegung, las Simone de Beauvoir, Betty Friedan, Kate Millett und Alice Schwarzer, abonnierte EMMA und Courage – und immerzu fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

Nächtelang war ich wütend über vergewaltigende und prügelnde Ehemänner, über die systematische Benachteiligung der Frau im Beruf, über den alltäglichen Sexismus in Lehrbüchern und in den Medien. Aber Sexismus in der Sprache – nein, das war für mich kein Thema, obwohl ich von den „Laiinnen“, gerade als Sprach-Fachfrau, ständig darauf angesprochen wurde. 

Das neue Pronomen „frau“, das ich in feministischen Texten nun allenthalben las, fand ich lustig, schön frech und aufsässig, aber nicht eigentlich wichtig – weil ich die Supermaskulinität von „man“ auch nicht so wichtig fand. Denn die Linguistik, wie ich sie gelernt hatte, interessiert sich zwar dafür, was Ausdrücke bedeuten, aber nicht dafür, was es für Menschen subjektiv und objektiv bedeutet, dass Ausdrücke gerade das bedeuten, was sie bedeuten. Die herkömmliche Linguistik kritisiert Sprache nicht, sondern sie beschreibt sie. Und mit dem Beschreiben allein hat sie tatsächlich reichlich zu tun, denn Sprachen sind äußerst komplizierte Systeme, über die wir erst sehr wenig wissen. >Die Linguistik erlegt sich diese Selbstbeschränkung vermutlich auch deswegen auf, weil sie etwas vom Glanz der Naturwissenschaften erben möchte. Die Naturwissenschaften beschränken sich bekanntlich auf beschreibendes Erklären ihrer Gegenstände, da Kritik sinnlos ist. Sprache ist aber kein Natur-, sondern ein historisch-gesellschaft­liches Phänomen und als solches auch kritisier- und veränderbar. Nach Auffassung von Feministinnen nicht nur kritisier, sondern extrem kritikbedürftig – und reformbedürftig.

Es bedurfte wohl radikalfeministischer Verve, Unbekümmertheit, Subjektivität und entschlossener Parteilichkeit, um zu dieser Auffassung über Sprache zu kommen. Sonst hätte sie sich kritik­fähigen Frauen sicher schon eher aufgedrängt. Es ist aber nicht nur die herkömmliche Linguistik, die solche Gedanken nicht gerade fördert, sondern auch unser aller Alltagsbeziehung zu Sprache. (…)

Sprache wird uns im Kindesalter einverleibt, etwa nach dem Motto: „Was auf den Tisch kommt, wird gegessen.“ Mir wäre von allein niemals eingefallen, gegen ein Pronomen (man), eine Endung (-in) oder gegen ein Genus (Maskulinum) zu rebellieren. Dergleichen sprachliche Einheiten sind für die meisten so abstrakt und außerbewusst, dass sie dafür überhaupt keine Gefühle, weder positive noch negative, entwickeln können.

Jedenfalls galt das bis vor kurzem für die meisten Frauen. Männer dagegen waren schon immer emotionaler. Es gibt für sie einen allergischen Punkt in der Sprache: das Femininum. Wird ein Mann als Verkäuferin, Hausfrau, Fachfrau, Beamtin, Ärztin, Dame, Deutsche, Inhaberin o. ä. bezeichnet, so bringt ihn das völlig aus der Fassung. Es ist ihm etwa so grässlich, wie wenn er mit Vornamen Rosa hieße oder neckisch in den Po gekniffen würde.

Es geht um nichts Geringeres als die sprachliche Vernichtung der Frau

Die Folge der männlichen Allergie gegen das Femininum ist dessen nahezu vollständige Verdrängung aus der Sprache, mit anderen Worten: die sprachliche Vernichtung der Frau, denn ihre genuine sprachliche Existenzform ist das Femininum. 

Es fängt scheinbar harmlos an: Wenn Ute Schülerin ist und Uwe Schüler, dann sind Ute und Uwe Schüler, nicht Schülerinnen – denn Uwe verträgt das Femininum nicht. Es geht und geht nicht an, ihn mit der Bezeichnung „Schülerin“ zu kränken, selbst wenn zig Schülerinnen seinetwegen zu Schülern werden müssen. Da bereits ein Knabe mittels seiner Allergie beliebig viele Mädchen sprachlich ausschalten kann, kann frau sich leicht ausrechnen, was die männliche Hälfte der Bevölkerung gegen die weibliche ausrichten kann. Ein Wunder, dass wir überhaupt noch hin und wieder einem Femininum begegnen. (…)

Meine – wie ich jetzt finde, reichlich späte – Bekehrung von der Sympathisantin zur Aktiven gelang schließlich einem Kollegen namens Kalverkämper. Eigentlich hatte er den irregeleiteten Frauen den rechten Weg weisen wollen. Aber nicht jedermann ist zum Wegweiser berufen, zumal in Zeiten, da jedefrau sich ihren Weg lieber selbst sucht. Mich jedenfalls führten seine Belehrungen stracks in die entgegengesetzte Richtung. Ich schrieb eine Antwort auf seine Mahnschrift, und im Zuge dieser ersten intensiven gedanklichen Auseinandersetzung mit den feministisch-linguistischen Standpunkten erkannte ich, wie brisant und intellektuell faszinierend das neue Gebiet ist.  

Der Text ist ein Auszug aus „Das Deutsche als Männersprache“ (1984).

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