In der aktuellen EMMA

Tropisches Lesevergnügen

Die Philippinen sind Buchmessen-Gastland in Frankfurt. Hier der - immer noch aktive - Vulkan Mayon. - FOTO: IMAGO
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Dieses Jahr ist ein gutes Jahr, denn es lädt uns ein auf ein großes tropisches Leseabenteuer. Die Philippinen sind Gastland auf der Frankfurter Buchmesse und vielleicht selbst ein bisschen überrascht, mal keine Arbeitskraft zu exportieren, sondern Lesestoff. Wobei die für die philippinische Wirtschaft so bedeutenden „Oversea Filipino Workers“ auch in den neuen Büchern auftreten. Denn die Literatur des Archipels ist intelligent, kritisch und auch sehr politisch.

Oft erzählen die Autorinnen von einer stark hierarchischen und ungleichen Gesellschaft. Deshalb bevölkern außergewöhnlich viele Hausmädchen und Journalistinnen die Geschichten, schließlich gibt es immer jemanden zu bedienen oder eine politische Schandtat aufzuklären. Außerdem schwirren trotz der katholischen Tiefenprägung des Landes verblüffend viele Geister über die Seiten.

Besonders interessant ist die Erzählperspektive der Hausmädchen, denn sie bietet Einblicke in die Haushalte der Reichen und somit in soziale Gefüge. Manchmal entstehen in diesen Romanen auch Freundschaften zwischen Ma’am und Magd. Dann haben alle Beteiligten viele Kapitel lang damit zu tun, ihre durchaus emotionalen, aber eben auch sehr ungleichen Beziehungen auszutarieren.

In Caroline Haus Roman „Stille im August“ etwa verschwindet die Mutter der Ich-Erzählerin Racel nach einem Taifun. Racel wuchs als Angestelltenkind auf einer fiktiven Privatinsel zwischen Negros und Panay auf und arbeitet später selbst als Haushaltshilfe in Singapur. Zurück auf der Insel begegnet sie ihrer Kindheitsfreundin Lia wieder, deren Familie die weitläufige Hacienda gehört, in der es auch ein bisschen spukt. So weitet Caroline Hau die Suche nach der verschwundenen Mutter zu einer detail­reichen und spannungsgeladenen Milieustudie.

Auch in Daryll Delgados Roman „Überreste“ kehrt eine junge Frau zurück, diesmal nach Tacloban auf der Insel Leyte. Weggehen und Heimkehren ist in der Literatur des 7.641-Inseln-Archipels ein wichtiger Doppeltopos und reger Flug- und Fährverkehr zwischen den Inseln und in alle Welt tägliche Praxis. Auch von Erdbeben und Taifunen wird häufig erzählt. Besonders tiefe Spuren in der Literatur hat Megataifun Haiyan hinterlassen, der im November 2013 enorme Schäden auf den Visayas anrichtete. Die Stadt Tacloban traf er besonders hart. Deshalb will Delgados Erzählerin Ann zu den Verlusten in Tacloban recherchieren und zugleich den alten Mano Pater suchen, der Familienfreund und Angestellter war. Bei der Suche hilft ihr Dino, der Sohn ihres einstigen Kindermädchens. Auch in diesem Roman sind es soziale Ungleichheiten, aus denen sich viel Spannung entwickelt. Außerdem erzählt Delgado auf brillante Weise von einer Katastrophe, der die Erzählerin Ann mit all ihren Recherchemethoden nicht beikommt, auch wenn sie etliche Überlebende interviewt und die Transkripte in ihre Erzählung einbaut. Leid und Chaos sind einfach übergroß.

Mehr EMMA lesen! Die September/Oktober-Ausgabe gibt es als Printheft oder eMagazin im www.emma.de/shop
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Quasidokumentarische Erzähltechniken dieser Art sind üblich, arbeiten doch viele philippinische Autorinnen zugleich als Journalistinnen. Dazu gehört neben Daryll Delgado auch Jessica Zafra, die mit „Ein ziemlich böses Mädchen“ ebenfalls einen – nur mäßig geplotteten, aber ziemlich spitzzüngigen – Hausmädchen-Roman vorgelegt hat. Zweigleisigkeit bessert das Einkommen auf, rührt aber auch daher, dass viele Autorinnen ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein und ein Sensorium für soziale Ungerechtigkeiten besitzen. In ihren Büchern treten daher auch häufig Journalistinnen und Ermittlerinnen auf.

Zu den herausragenden Vollzeit-Journalistinnen der Philippinen gehören Maria Ressa und Patricia Evangelista (siehe Seite 78). Beide sind dem furchtlosen Nachrichtenportal Rappler verbunden: Ressa ist die Chefredakteurin, Evangelista war lange als Investigativjournalistin dabei. Mit „How to Stand Up to a Dictator“ legte Ressa kurz nach ihrer Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis 2021 eine scharfsichtige Analyse der gefährlichen Verquickung von Autoritarismus und Social Media vor. Ihr Buch kann zugleich als das Memoir einer außer­gewöhnlich mutigen Journalistin gelesen werden.

Evangelista wiederum baute ihre furchtlosen Rappler-Reportagen über den „war on drugs“ von Ex-Präsident Rodrigo Duterte zum Buch „Some People Need Killing“ aus. Darin berichtet sie, wie Tausende Dealer, Süchtige und solche, die kurzerhand dazu erklärt wurden, von Auftragskillern umgebracht wurden. Für Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde Duterte inzwischen dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag überstellt. Evangelistas Buch ist herausragend recherchiert, historisch aufschlussreich und auf glänzende Weise kompromisslos.

In ihren Büchern werden Journalistinnen häufig zu Ermittlerinnen

Doch philippinische Frauen können noch mehr! Sie können auch mit Geistern kommunizieren oder selbst welche werden. Die Gespensterwelt des Archipels ist trotz des durch die spanische Kolonialherrschaft verordneten Katholizismus reich bevölkert. Kriminalbeamtin Alexandra Trese aus den drei „Trese“-Comics von Budjette Tan und KaJo Baldisimo etwa macht die Untoten kurzerhand zu Informanten. Mit Hilfe von Geistern, die aus Gullis lugen oder aus Spiegeln sprechen, klärt sie Verbrechen auf, an denen wiederum andere Geister nicht ganz unschuldig sind. Filipinos lieben Horror. Davon zeugen viele Gruselcomics, die es jetzt auch auf Deutsch gibt. Die „Trese“-Bände wurden sogar schon von Netflix verfilmt.

Der zauberhafteste Geisterroman des Jahres aber ist sicherlich „Das Meer der Aswang“ von Allan N. Derain. Darin verwandelt sich das Mädchen Luklak in einen krokodilartigen Aswang, also in einen Geist im Tierleib. Auch wenn die Geschichte im kolonialen 18. Jahrhundert angesiedelt ist, erzählt sie doch eine sehr moderne Wandlung ins Wilde. Und das mit großem sprachlichem Witz. Anfangs ist Luklak übrigens noch Haarpflegerin bei einer lokalen Madame. Eine Art frühes Hausmädchen. Dass sie damit unter ihren Möglichkeiten bleibt, ist der schlauen Luklak schon damals klar. Darin ist sie ihren Schwestern des 21. Jahrhunderts verwandt und vielleicht sogar ein bisschen voraus. Sie alle ringen mit ihren Lebensumständen und wagen kleinere oder größere Aufbrüche.   

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