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Die schönste Version

Ruth-Maria Thomas verknüpft in ihrem Debutroman eigene Erfahrungen mit der allgemeinen Gewalt gegen Frauen. - © Urban Zintel
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Was wie „altes Hollywood mit Himbeerbrause“ unter „rauschenden Pappeln“ beginnt, endet zwei Seiten weiter schon auf dem Polizeirevier mit einer Anzeige der Protagonistin Jella Novak gegen ihren Lebensgefährten Yannick Brenner. Er hatte sie nach einem heftigen Streit beschimpft, bedroht und bis zur Bewusst­losigkeit geschlagen und gewürgt.  

Wie viel demütigen Sex muss ein Mädchen über sich ergehen lassen?

Der Debütroman der jungen Autorin, 1993 geboren und in Cottbus aufgewachsen, schlägt einen ganz neuen Ton an. Die Autorin verknüpft in rasantem Tempo eigene Erfahrungen aus Kindheit und Jugend mit der allgemeinen Gewalt gegen Frauen. Eingebettet in die Geschichte einer großen Liebe, bei der sich lange alles richtig anfühlt, erfahren wir, wie die Dinge langsam entgleiten, wie leidenschaftliches Begehren in sexualisierte Gewalt umschlägt. 

Jella, die sich zu ihrem Vater in ihr altes Kinderzimmer flüchtet, lässt ihr bisheriges Leben Revue passieren und fragt sich verzweifelt, wie es so weit kommen konnte. Sie schaut noch einmal genauer hin auf ihr Aufwachsen in der Lausitz, auf Mädchenfreundschaften und -ängste, sexuelles Erwachen, frustrierende Erfahrungen mit toxischer Männlichkeit. Wie viel demütigenden Sex mit Kleinstadt-Machos muss ein hübsches Mädchen über sich ergehen lassen, wie viele Blow-Jobs, die sie ekeln, um dazuzugehören? Vorbilder fehlen. 

Ihre ersten erotischen Erfahrungen beschreibt die Ich-Erzählerin drastisch. Unsicherheit, Verstellen und Ekel überwiegen, der Orgasmus wird geheuchelt. Erst jetzt im Rückblick kann sie eine Vergewaltigung durch einen gewissen Ansgar auch als solche beschreiben. Es war ja kein ekliger alter Mann im Park, sondern ihr Kumpel, der gutaus­sehende Ansgar. „Du machst doch jetzt aber kein Drama, oder?“ Ihr „Ich habe doch Nein gesagt“, hatte keine Bedeutung, für ihn gehörte das zum Vorspiel. 

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Wie konnte sich der sensible Traumprinz in ein gewalttätiges Monster verwandeln, die romantische Liebe in eine Beziehungshölle, die körper­liche Leidenschaft in trostloses Zusammen-Ficken? Sicher, sie sind zu schnell zusammengezogen, in eine viel zu teure Wohnung, Yannick ist als Künstler gescheitert, er will die zehn Jahre jüngere Jella bevormunden und beherrschen, ist krankhaft eifersüchtig, lässt ihr keinen Raum, bis er ihr auch die Luft zum Atmen nimmt. 

Wie alle Opfer zweifelt sie an sich selbst, ist sich bei ihrer polizeilichen Vernehmung selbst nicht mehr sicher, „ob es wirklich so schlimm war, ob Yannick wirklich so fest zugedrückt hatte, ob ihre Panik wirklich gerechtfertigt gewesen war“. Dazu kommt, dass die Polizei sich ihren Hals nicht einmal anschaut, keine Fotos macht, stattdessen gegen sie eine Anzeige aufsetzt, da sie sich mit einem Pfefferstreuer, einer „Waffe“, gegen das Erwürgtwerden gewehrt hatte.

Am schlimmsten ist das Schweigen: „Es meinen Freundinnen zu erzählen, würde bedeuten, es real zu machen“. Dem Selbstverlust begegnet sie durch Baderituale, dem Realitätsverlust durch To-do-Listen, den Panikattacken durch hartnäckiges Joggen. „Aber die Dinge, für die es keine Taktik, keine Lösung gibt. Wann geben sie jemals Ruhe? Wann hören sie auf?“ Und immer wieder die Frage, die in ihrem Innern hochkommt: „Ist das vielleicht doch alles ganz allein deine Schuld gewesen?“ Zwischen der Versuchung, die Anzeige gegen den Geliebten, der zum Peiniger geworden war, zurückzuziehen und dem Frauennotruf, in dessen Telefonhörer sie „wochenlang nächtlich Rotz und Wasser heult“, gibt es keinen festen Boden, keinen Halt. 

Die Stärke dieses Buches liegt in der Intensität der Sprache, die mal poetisch, mal drastisch ist, und in den genauen Beschreibungen, die die Situation der traumatisierten Frau, die kein Opfer mehr sein will, nachvollziehbar machen. „Wie oft ich denke, ich hätte das alles verdient“, ist die bittere Bilanz noch nach Monaten.   

Weiterlesen: Ruth-Maria Thomas: Die schönste Version (Rowohlt, 24 €)

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