Auf den Spuren der Mutter
Ich habe keine Ahnung, ob es mehr Mütter- als Väterbücher gibt. Jedenfalls schwingt in „Meine Mutter“, Bettina Flitners zweitem Roman, die Schicksalsglocke. Mütter sind Schicksal. Ich schreibe das ohne jede Wertung. Eine hübsche junge Frau umklammert auf dem Umschlagsfoto ein neugierig in die Kamera blickendes kleines Mädchen und schaut dabei zu Boden. Die Autorin und ihre Mutter.
Das Buch beginnt mit dem brutalen Satz: „Sie hat nie etwas getaugt.“ Sie, „das ist meine Mutter“, Bettina Flitner zitiert mit diesem Satz ihren Großvater. Sie erzählt mit Rückblicken und -blenden die verzweigte Familiengeschichte, vom luxuriösen Vorkriegsleben im niederschlesischen Luftkurort Wölfelsgrund, wo der Großvater der Autorin Chef eines Sanatoriums war und die Familie als die „Könige des Tals“ galten, über die Flucht in den Westen und den Neuanfang in Celle. Alles familienhierarchisch sortiert, mit reicher Auswahl an Großeltern, Tanten, Cousins und Cousinen.
Man kennt viele Erinnerungsbücher zum guten Zweck der Selbstversicherung. Auch hier beginnt es mit dem stolzen Blick in die Familiengeschichte. Doch etwas ist anders. In diesem, wie in Bettina Flitners erstem 2023 erschienenen Roman über ihre Schwester, folgt die Autorin einer vom alltäglichen Leben verdeckten Angst: die Angst vor dem Suizid. Die Familie wird davon seit 1931 wie von einer vererbten Krankheit heimgesucht. „Heimgesucht“ scheint mir dafür das beste Wort.
Bettina Flitner drückt die Messingklinke des Hauses ihrer Großeltern in Wölfelsgrund herunter, sieht sich im großen Haus um. Sie hat diese Reise im Widerstreit mit sich selbst geplant. In ihrem Leben als Fotografin zählt nicht die Vergangenheit, sondern der unbedingte Augenblick. Sie berichtet von ihrem Wunsch, die Vergangenheit auf Distanz zu halten. Doch manche Bücher müssen geschrieben werden.
Das Leben der eigenen Mutter ließ sich nicht länger ignorieren, wie damals am Tag der Beerdigung, zu der 1984 die 23-jährige Tochter Bettina in engen Jeans und Cowboystiefeln erscheint. Eine Rüstung, um die Emotionen zu besiegen, die auch den unbewussten Wunsch verrät, nicht vom gleichen Strudel erfasst zu werden.
Biedermeierstuhl und Bademantel sind die Requisiten des Selbstmords der Mutter, jener Frau, die als „Prinzessin“ aufwuchs, süß, niedlich, empfindsam und empfindlich ist und Liebling ihres Vaters. Im Erwachsenenleben, wo die Mechanismen der verwöhnten Zarten auf Versagen hinweisen und keinen Anklang unter den straffen Nachkriegsdeutschen finden, wird sie in die Defensive driften.
Starke Bilder sind das Markenzeichen der erfolgreichen Fotografin Bettina Flitner. In ihrer umwerfend guten „Boatpeople“-Serie zeigt sie in Fellini ebenbürtigen Inszenierungen Personen, die stehend oder sitzend in einem grob geschnitzten burmesischen Einbaum übers Wasser gleiten, ein Verlorener mit einem riesigen Teddy, eine Einsame mit Umzugsgut, Mitglieder einer Karnevalsgarde, Nonnen mit wehenden Schleiern, dekoratives, theatralisches Personal schwebt übers ruhige Wasser mit unbestimmtem Ziel, phantasieanregend und zum Teil von großer Komik.
Die Schwierigkeit, die eigene Mutter zu erkennen, ist immens, noch schwerer, ihre Handlungen in einen Zusammenhang (mit sich selbst) zu stellen, und dies möglichst nüchtern und möglichst objektiv. Es ist impliziter Anspruch der Autorin, das Nahe mit dem Fernblick zu sehen und objektiv der anderen Person und auch sich selbst gegenüber zu sein.
Die Erzählerin hat alle Möglichkeiten selbst in der Hand. Sie weiß es und sie fürchtet sich davor. Die Reise nach Wölfelsgrund, das Umkreisen des frühen Lebensumfelds der Mutter, ist ein gut getarnter Vorwand, um das Unsichtbare zu sehen und eine Antwort zu finden.
Das Thema Suizid ist in der Familie halb verdrängt, halb Stoff spöttischer Ratespiele: Wer könnte der Nächste sein? Die Mutter selbst „sah“ schon früh „den Tod“. Sie wusste, dass sie sich irgendwann selbst umbringen wird. Im Alter von 47 Jahren hat sie es getan.
Bettina Flitner umgeht das Gefühlige und dramatisch Ausgeleuchtete. Sie erzählt nüchtern, ihre Art der Abwehr. Bücher wie diese werden nicht geschrieben, um eine Story zu erzählen, sondern um das Leben durch das Aufschreiben selbst zu verstehen, nicht zu rechtfertigen. Um der Wahrhaftigkeit willen bestimmt eine erzählerische Kühle das Temperament des Romans. Wobei ich den Begriff „Roman“ nur zögernd benutze. Es ist eine Recherche, eine Familienbeschreibung, keine fiktive Geschichte, keine durchanalysierte Falldarstellung. Es geht um biografische Wahrheiten, selten um Interpretationen. Bettina Flitner begegnet diesem „Fluch“ durchs Erzählen und porträtiert die Frau, die ihre Mutter ist, mit dem Blick auf ihre Verlorenheit in der Welt. Der Ausruf der Geschwister: „Hätten wir doch nur!“, steht für Mitschuld. Das wird nicht kommentiert. „Hätten wir doch“, spricht für sich selbst. Die Autorin vermeidet als Chronistin des Unglücks, eigenen Gefühlen Raum zu geben, doch ist an eindrucksvollen Bildern in dem Buch kein Mangel.
Bettina Flitner kann authentisch über die Flucht der Familie und die Celler Nachkriegsjahre berichten, weil Familienmitglieder Tagebücher und Briefe hinterlassen haben. Die Berichte verdeutlichen den Absturz, den die einst verwöhnten Flüchtlinge hinnehmen mussten. Um sich ein Bild über die Moral Deutschlands am Kriegsende zu machen, berichtet Flitner vom grauenerregenden „Celler Massacre Trial“. Kurz vor dem Einmarsch der Alliierten am 8. April 1945 wurde in Celle ein Zug mit 3.400 KZ-Häftlingen bombardiert, die Häftlinge aus dem KZ Bergen-Belsen, entweder in die Luft gejagt oder während ihrer Flucht durch Celle und Umgebung erschossen oder erschlagen. In Gila Flitners Schule fand der Prozess statt. Alle Schuldigen kamen als „unschuldig“ davon.
Es ist das Porträt einer Frau, die nicht gelernt hat selbstständig zu leben
Bei der Suche nach den Ursachen für die Lebensverweigerung der Mutter findet die Autorin eklatante Stimmungsschwankungen, „zu viel Trauer, zu viel Fröhlichkeit“. Eine frühe Hochzeit mit Hugbert Flitner, sie „niedlich“, er „vital“, zeigt bald, dass die unterschiedlichen Kräfteverhältnisse Gift sind für das Selbstbewusstsein der jungen Frau. Der Bildungsforscher Hellmut Becker wird Hugbert Flitners Chef, in diesem Kreis fühlt sie sich beobachtet, verachtet und isoliert.
Es folgen Fluchtversuche, Liebschaften, Trennung, Einsamkeit. Gila Flitner klammert sich an Flauberts große Unglücksfigur Emma Bovary, in der Literatur weltberühmt, als Lebenshilfe ganz und gar untauglich. Ein erster Suizidversuch misslingt.
„Meine Mutter“ erzählt von einer zerbrechlichen Frau, ohne Selbstwertgefühl und gute Ausbildung. Sie verkörpert die unemanzipierte Randfigur in der Geschichte ihrer Generation, hübsch, schwach und irgendwann am Ende.
Bettina Flitners erzählerische Phantasie vermeidet Selbstmitleid, findet dichte, aussagestarke Beschreibungen. Ihre Rolle als „Vertraute“ der Mutter fordert sie. Ihr lakonischer Kommentar: „Ich hatte von Anbeginn mehr zu tun als meine Schwester.“
Das Buch „erschütternd“ zu nennen ist passend und gleichzeitig ungenügend. Bettina Flitners Roman „Meine Mutter“ ist im besten Sinne eine beeindruckende Recherche ohne moralische, ohne anklagende Überheblichkeit. „Meine Mutter“ ist das subtile Portrait einer Frau, die nicht gelernt hatte, selbstständig zu leben.
Weiterlesen Bettina Flitner: Meine Mutter. Roman (Kiepenheuer & Witsch, 24 €). Alle Bücher von Bettina Flitner auch im www.emma.de/shop
Termine: Erste Lesungen: Buchpremiere im Literaturhaus Köln am 7.10., 19.30 Uhr. Salonfestival Düsseldorf am 8.10., 19 Uhr. Stadtbibliothek Bielefeld am 27.10., 19 Uhr.