Abtreibung: Das tödliche Verbot

"Ruhe in Frieden, Savita. Schäm dich, Irland!" Frauen demonstrieren vor dem irischen Parlament. - Foto: Peter Muhly/AFP/Getty Images
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Die Zahnärztin Savita Halappanavar war 32 Jahre alt und in der 17. Woche gewollt schwanger, als sie das University Hospital Galway in Irland aufsuchte und über Rückenschmerzen klagte. Es war Sonntag, der 21. Oktober 2012. Eine Woche später ist Savita tot.

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Das Abtreibungs-
gesetz: "eine katholische
Angelegenheit"?

Im Krankenhaus sagte man ihr, sie werde das Kind verlieren. Nach einem Tag mit unerträglichen Schmerzen baten Savita und ihr Ehemann Praveen die Ärzte darum, die Schwangerschaft zu beenden. Man erklärte ihnen, das sei in Irland illegal, weil der ­Fötus noch einen Herzschlag habe. Am nächsten Tag, an dem die Schmerzen immer schlimmer wurden, verlangte Savita noch einmal die Beendigung der Schwangerschaft. Die Ärzte weigerten sich erneut. Eine Krankenschwester erklärte Savita, dass das Abtreibungsgesetz in Irland eine „katholische Angelegenheit“ sei. Die Inderin Savita, die erklärte, sie sei weder Irin noch Katholikin, protestiere vergeblich.

Am nächsten Tag ging es ihr noch schlechter. Sie hatte Fieber und, wie wir heute wissen, eine beginnende Sepsis. An diesem Nachmittag stellte ein Arzt fest, dass Savita sterben würde, wenn die Schwangerschaft nicht beendet würde. Sie wurde in den OP gebracht, wo der Fötus abging. Am Abend verlegte man sie in die High Dependance Unit. Dort verschlechterte sich ihr Zustand. Man brachte sie auf die Intensivstation, wo aus der Sepsis eine schwere Sepsis wurde.

Am Freitag begannen die Organe der Frau zu versagen, am Samstag hatte sie einen septischen Schock und multiples Organversagen. Gegen ein Uhr nachts kam eine Krankenschwester zu Praveen. Er erzählt: „Auf dem Weg zur Intensivstation fragte sie mich: ‚Sind Sie bereit, in Savitas letzten Minuten bei ihr zu sein? Wir verlieren sie.‘ Ich sagte: Ja.“ Savita Halappanavar starb am 28. Oktober 2012 um 1.09 Uhr.

Die Irish Times berichtete knapp zwei Wochen später als erste über den Tod der Inderin. Bald darauf ging die Nachricht um die Welt.

Die irischen Frauen:
nicht mehr "als ein Gefäß"?

An diesem Abend des 14. November versammelten sich Tausende Menschen mit Kerzen vor dem irischen Parlament. Weitere Tausende entluden ihre Wut und Trauer bei einer Demo in den Straßen von Dublin am nächsten Wochenende. „Nie wieder!“ riefen die DemonstrantInnen. Es war ein Wendepunkt in Sachen Abtreibung in der irischen Geschichte.

Der Grund für Savitas Tod liegt 29 Jahre vor 2012. Im September 1983 entschied ­Irland qua Referendum, Abtreibungen weiterhin zu verbieten. Die Abstimmung mündete im 8. Verfassungszusatz. Dort heißt es: „Der Staat erkennt das Recht des Ungeborenen auf Leben an und garantiert – mit angemessenem Blick auf das gleiche Recht der Mutter auf Leben – dieses Recht mit seinen Gesetzen zu verteidigen.“ Das bedeutet: Abtreibung ist nur legal, wenn die Gefahr für das Leben der Mutter so groß ist, dass nur eine Abtreibung ihren Tod verhindern kann.

Die Folge: Zehntausende Frauen und Mädchen, die seither für einen Schwangerschaftsabbruch das Land verlassen mussten, darunter viele tragische Fälle. Einer der entsetzlichsten, der so genannte „Fall X“, wurde 1992 bekannt: Ein 14-jähriges Mädchen, das durch eine Vergewaltigung schwanger geworden und selbstmordgefährdet war, wurde daran gehindert, nach Großbritannien zu reisen, um eine Abtreibung vornehmen zu lassen.

1997 folgte der „Fall C“: Eine 13-Jährige, ebenfalls schwanger nach einer Vergewaltigung, wurde gezwungen, das Kind auszutragen. Sie konnte gar nicht erst versuchen, über die Grenze zu kommen, weil sie in staatlicher Obhut lebte.

Es gab weitere Horror-Fälle wie „Fall D“, eine Frau, die ihre Schwangerschaft abbrechen wollte. Sie hatte erfahren, dass der Fötus so schwer behindert war, dass er sterben würde. Sie musste für die Abtreibung nach Großbritannien fahren. Oder eine schwangere Litauerin mit einer schweren Krebserkrankung, die Irland ebenfalls verlassen musste, weil die Bekämpfung ihres Krebses den Fötus töten würde.

Doch mit dem Fall Savita war es anders. Während man von den anderen Frauen und Mädchen nur einen Buchstaben gekannt hatte, waren Savitas Name und ihr Gesicht nun in den Medien zu sehen. Und es gab einen Ehemann, dessen Herz in ­aller Öffentlichkeit gebrochen war. Und dann war da noch das Timing.

Savitas Tod – wegen einer „katholischen Angelegenheit“ – kam zu einem Zeitpunkt, als es so aussah, als hätte sich Irland aus dem Klammergriff der katholischen Kirche befreit. Eine ganze Serie von Skandalen um sexuellen Missbrauch durch Priester ab den 1990er-Jahren hatte die moralische Autorität der Kirche schwer ­erschüttert. Irlands Wirtschaft war – bis zum Finanz-Crash 2008 – rasant gewachsen und zum Zen­trum einer boomenden Technologie-Industrie geworden, Tech-­Giganten wie Facebook und Google hatten in Irland ihre europäischen Zentralen aufgebaut.

Wird die Regierung
die Fristen-
lösung einführen?

Die jungen Leute waren gut ausgebildet und durch die Welt gereist, während gleichzeitig viele junge Menschen aus aller Welt nach Irland kamen. Wir ­waren, dachten wir, eine cosmopolitische, moderne und kultivierte Gesellschaft.

Der Tod von Savita, eine junge, schöne und gut ausgebildete Frau mit Migrationshintergrund, zeigte auf furchtbare Weise, wie stark verwurzelt die orthodoxen katholischen Vorstellungen noch waren – und sind – besonders, wenn es um Frauen geht.

Der 8. Verfassungszusatz war damals das Ergebnis einer Kampagne ultra-konservativer katholischer Gruppen gewesen, darunter das Opus Dei und die Ritter des Heiligen Columbanus. Das hatte gewaltige Auswirkungen auf das Leben der Frauen und Kinder in Irland. Und es bedeutete, dass jede ungewollt schwangere Frau und jedes Mädchen nach Großbritannien reisen musste oder in die Niederlande.

Obwohl Großbritannien als eine Art „Sicherheitsventil“ für das irische Abtreibungsproblem funktioniert, ist der Preis dafür hoch. Eine Irin muss die Abtreibung im Ausland bezahlen, etwa 600 Pfund (684 Euro), plus Reisekosten. Schwangerschaftsabbrüche nach der 12. Woche kosten etwa das Doppelte.

Eine weitere Auswirkung des 8. Verfassungszusatzes: Immer wieder weigern sich Ärzte und Krankenhäuser, den schwangeren Frauen zu sagen, wenn der Fötus eine schwere Behinderung hat – aus Sorge, die Frauen würden sich dann für einen Abbruch entscheiden. Und bei Frauen, die Krebs haben, passiert es immer wieder, dass sie erst behandelt werden, wenn der Krebs schon weit fortgeschritten ist.

Denn die Ärzte vermuten, dass sie gegen das Gesetz verstoßen, wenn sie mit den Medikamenten den Tod des Fötus verursachen, ohne dass die Mutter bereits in akuter Lebensgefahr schwebt. Peter Boylan, der Vorsitzende des „Verbands der GeburtshelferInnen und GynäkologInnen“, berichtete mir, dass er Schwangere erlebt hat, die dringend medikamentöse Behandlung gebraucht hatten, aber „die sehr krank werden mussten, bevor wir eingreifen durften.“

In einem vernichtenden Kommentar zum irischen Abtreibungsrecht erklärte Sir Nigel Rodley, Mitglied des UN-Menschenrechts-Komitees, im Jahr 2014, Irland behandle Frauen „nothing but a vessel“ – als ein Gefäß. Dieser Satz wurde bald zum Slogan auf Plakaten bei Protesten gegen das irische Abtreibungs-Verbot: „I am not a vessel“ (Ich bin kein Gefäß).

Savitas Tod war ein Schlüsselmoment und ausschlaggebend dafür, dass sich eine gewaltige Bewegung für das Recht auf Abtreibung formierte. Schon vorher hatte sich die Pro Choice-Bewegung anlässlich des 20. Jahres­tages von „Fall X“ wieder lauter zu Wort gemeldet.

Der Erfolg der
"Ja"-Kampagne
ist nicht sicher.

Aber nun schoss eine Gruppe nach der anderen aus dem Boden, um für das Recht auf Abtreibung zu kämpfen. Bald waren es Hunderte, da­runter Gewerkschaften, Parteien oder Initiativen gegen Häusliche ­Gewalt. Sie alle taten sich zusammen zur „Coa­lition to Repeal the Eighth Amendment“. Diese Koalition lancierte im März 2018, ­gemeinsam mit dem „National Women’s Council“ und der „Abortion Rights Cam­paign“, die Kampagne „Together for Yes“.Für Ende Mai steht in Irland also wieder ein Referendum an. Diesmal, 35 Jahre später, für das Gegenteil: für das Recht ­aller ungewollt oder gesundheitlich bedrohten Schwangeren auf Abtreibung.

Obwohl jede neue Umfrage immer wieder einen Trend zum „Ja“ zur Abschaffung des Abtreibungsverbotes zeigt, ist der Erfolg der Abstimmung für die GegnerInnen des Verbotes nicht sicher. Sollte die Mehrheit der IrInnen mit Ja stimmen, will die Regierung die Fristenlösung einführen, also die straffreie Abtreibung innerhalb der ersten zwölf Wochen.

Sollte die „Ja“-Kampagne jedoch nicht offensiv und einstimmig für die Fristen­lösung einstehen und es zulassen, dass die neuerdings lauter werdenden „Bedenken“ gegen eine „uneingeschränkte Abtreibung“ sich verfestigen, dann werden sie verlieren. Ein paar Wochen bleiben noch.

Kitty Holland

Weiterlesen:
Die Autorin ist Redakteurin bei der Irish Times. Von ihr erschien das Buch „Savita: The Tragedy that shook a Nation“.

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Abtreibung: Es geht wieder los!

Foto: M. Meyborg
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Als Richterin Maddalena Fouladfar ihr Urteil verkündet, dringen von draußen laute Buhrufe in den Gerichtssaal. In Sekundenschnelle war die Nachricht bis zu den rund hundert Menschen gedrungen, die nicht mehr in den zum Bersten vollen Saal gepasst und während der Verhandlung draußen weiter protestiert hatten. Den ganzen Prozess hindurch waren ihre Sprechchöre durch das Fenster zu hören gewesen, darunter der alte Frauenbewegungs-Slogan: „Ob Kinder oder keine, entscheiden wir alleine!“ Dass diese Entscheidungsfreiheit in größter Gefahr ist – diese Lektion wurde am 24. November 2017 vor dem Gießener Amtsgericht nicht nur der Ärztin Kristina Hänel erteilt, sondern allen deutschen ÄrztInnen – und allen deutschen Frauen.

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Hat Hänel TV-Spots mit „Abtreibungs-Werbung“ geschaltet?

Im Gerichtssaal selbst herrschte bedrücktes Schweigen, nachdem die Richterin erklärt hatte, dass sie dem Antrag und auch der Argumentation der Staatsanwaltschaft folgen werde: Die Gießener Ärztin Kristina Hänel wird zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen à 150 Euro, also insgesamt 6.000 Euro, verurteilt. Denn: Sie habe sich „schuldig gemacht, Werbung für den Abbruch von Schwangerschaften betrieben zu haben“.

Hat Kristina Hänel Litfaßsäulen plakatiert oder TV-Spots mit „Abtreibungs-Werbung“ geschaltet? Aber nein. Ihr Vergehen besteht darin, dass, so die Richterin, „Sie auf Ihrer Website über die verschiedenen Formen des Schwangerschaftsabbruchs informiert haben und angegeben haben, dass Sie selbst diese durchführen“.

Wer auf die Website von Hänels Arztpraxis geht, erfährt dort, dass die Fachärztin für Allgemeinmedizin nicht nur EKGs, Lungenfunktionsuntersuchungen oder Ultraschalluntersuchungen der Schilddrüse durchführt, sondern auch Schwangerschaftsabbrüche. Wer auf den Link „Schwangerschaftsabbrüche“ klickt, kann nun per E-Mail Informationen ­anfordern und bekommt per PDF ein ­Informationsblatt geschickt. Darin wird zunächst erklärt, was die gesetzliche Voraussetzung für einen legalen Abbruch ist: eine schriftliche Bescheinigung über eine Beratung bei einer gesetzlich anerkannten Beratungsstelle oder eine ärztliche Bestätigung einer „medizinischen oder kriminologischen Indikation nach dem § 218 StGB“. Dann beschreibt die Praxis Hänel den Unterschied zwischen medikamentösem und chirurgischem Abbruch, inklusive der „Nebenwirkungen und Komplikationen“, die möglicherweise auftreten könnten. Außerdem erläutert das Informationsblatt, unter welchen Bedingungen die Krankenkasse die Kosten für den Abbruch übernimmt.

Warum Kristina Hänel deshalb angeklagt werden konnte? Weil es in Deutschland ein Gesetz gibt, dessen Existenz vor diesem Prozess kaum jemand zur Kenntnis genommen hatte. Laut § 219a macht sich strafbar, wer „seines Vermögensvorteils wegen (...) Dienste zur Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs (...) anbietet, ankündigt oder anpreist“.

Wie es sein kann, dass das „Anbieten“ eines Schwangerschaftsabbruchs unter Strafe steht, wenn doch Abtreibung innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate legal ist? Weil Abtreibungen in Deutschland auch nach dem „Abtreibungskompromiss“ von 1995 immer noch verboten sind. „Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“, lautet der erste Satz des § 218. Die Abtreibung bleibt jedoch in den ersten zwölf Wochen straffrei, wenn die ungewollt Schwangere sich bei einer gesetzlich zugelassenen Beratungsstelle beraten lässt und zwischen Beratung und Abbruch mindestens drei Tage liegen. Weil sich der Gesetzgeber auch 1995 – ein Viertjahrhundert nach der spektakulären „Wir haben abgetrieben!“-Aktion – immer noch nicht zur einer klaren Fristenlösung durchringen konnte, hat Deutschland ein paradoxes Konstrukt: Abtreibung ist hierzulande „rechtswidrig“, aber – unter bestimmten Bedingungen – gnädigerweise straffrei.

Wieso steht  das „Anbieten“ eines Schwangerschafts-
abbruchs unter Strafe?

Diese juristische Kapriole ist ein gefundenes Fressen für fanatische Abtreibungsgegner wie Günter Annen, dem Betreiber der Website „Babycaust“. Da zeigt der 66-jährige Industriekaufmann aus Weinheim Bilder von zerstückelten Föten und behauptet: „Gestern KZs, heute OPs!“ Seit Jahren zeigt der selbsternannte „Lebensschützer“ MedizinerInnen wegen Verstoßes gegen das „Werbeverbot“ an und veröffentlicht „schwarze Listen“ mit Hunderten Namen und Adressen von Arztpraxen, in denen „ungeborene Kinder ermordet“ werden.

Auch der Prozess gegen Kristina Hänel, die selbst Mutter von zwei Kindern und Großmutter von fünf Enkelkindern ist, geht auf eine Strafanzeige von Annen zurück. Es ist bereits die dritte gegen die Ärztin, die der Fanatiker als „Tötungs­spezialistin“ diffamiert.

Bisher hatten die Staatsanwaltschaften die Verfahren gegen Hänel und die anderen ÄrztInnen allerdings stets eingestellt, meist gegen die Auflage, die „Werbung“ von der Homepage zu entfernen. Die Staatsanwaltschaft Gießen ist die erste, die Anklage erhoben hat. Offenbar wollte sie an Kristina Hänel ein Exempel statuieren. Denn die Ärztin ist davon überzeugt, dass „Frauen das Recht haben, sich sachlich über einen Schwangerschaftsabbruch zu informieren. Wenn wir Ärztinnen und Ärzte diese Information nicht geben dürfen, landen die Frauen zwangsläufig auf den diffamierenden Websites der Abtreibungsgegner.“

Nach dem ersten Schock über die Anklage beschloss Kristina Hänel also, nicht nur für sich, sondern für alle Frauen gegen den § 219a zu kämpfen. Auf der Kampagnen-Plattform change.org veröffentlichte sie eine Petition: „Der § 219a ist veraltet und überflüssig“, schrieb sie. „Er behindert das Anrecht von Frauen auf sachliche Informationen. De facto entscheiden die Beratungsstellen, wo die Frauen zum Schwangerschaftsabbruch hingehen können, da viele Ärzte eingeschüchtert sind und ihre sachlichen Informationen von den Websites herunternehmen aus Angst vor Strafverfolgung. Auch und gerade beim Thema Schwangerschaftsabbruch müssen Frauen freie Arztwahl haben und sich medizinisch sachlich und richtig informieren können!“

Innerhalb weniger Tage hatte Kristina Hänels Petition rund 60.000 Unterschriften – am Tag nach dem Urteil waren es schon 130.000. Und über 70 Ärztinnen und Ärzte unterschrieben eine „Solidaritätserklärung“ mit ihrer Kollegin und forderten: „Ärztinnen und Ärzte dürfen nicht kriminalisiert werden, wenn sie ihrer Informations- und Aufklärungspflicht Patientinnen gegenüber nachkommen.“ Der „Arbeitskreis Frauengesundheit“ (AKF) protestierte ebenso wie Pro Familia, der Juristinnenbund und die DGB-Frauenkonferenz, die konstatierte: „Die Anzeige und wiederholte Anklage gegen Kris­tina Hänel ist Ausdruck der wachsenden rückwärtsgewandten und antifeminis­tischen Stimmung und Haltung in Deutschland. Und dieser Prozess ist nur die Spitze des Eisbergs!“

So ist es. Nicht erst, seit mit der AfD eine Partei im Bundestag sitzt, die das Recht auf Abtreibung laut Wahlprogramm abschaffen will, hat sich das gesellschaftliche Klima verschärft. Seit 2008 ruft der „Bundesverband Lebensrecht“ ­jedes Jahr Ende September zum „Marsch für das Leben“. Tausende folgen dem Aufruf und verkünden, flankiert von Grußworten von Unionspolitikern, ihre frommen Wünsche: Ein „Europa ohne Abtreibung und Euthanasie“, in dem Schwangere keine „Hilfe zum Töten“ mehr erhalten.

"Lebensschützer" zeigen den Frauen zerfetzte Föten.

Die „Lebensschützer“ schüchtern Frauen bei so genannten „Gehsteigberatungen“ vor Arztpraxen ein. Sie bilden Spaliere, durch die die Frau hindurch muss und zeigen den Frauen Fotos zerfetzter Föten. Sie setzen Krankenhäuser unter Druck. Mit Erfolg. 2013 verweigerte in Köln eine katholische Klinik einer vergewaltigten Frau die „Pille danach“. Anfang 2017 weigerte sich in Niedersachsen die einzige Klinik des Landkreises ­Lüchow-Dannenberg, weiterhin Abtreibungen durchzuführen. Der neue Chef der Gynäkologie begründet seinen Boykott, „am OP-Tisch die Tötung werdenden Lebens vorzunehmen“, mit seinem „christlichen Glauben“. Und in Bayern müssen die meisten Frauen für Abtreibungen schon lange das Bundesland verlassen.

Immer weniger MedizinerInnen können oder wollen Abbrüche durchführen. Dieser häufigste medizinische Eingriff bei Frauen ist, auch das eine weitgehend ­unbekannte Tatsache, nicht Teil der ärztlichen Ausbildung. Zwar wird im Medizinstudium die so genannte „Abort-Kürettage“ gelehrt, also die Ausschabung nach einem abgegangenen Fötus. Offiziell aber gehört der Schwangerschaftsabbruch, der in Deutschland jährlich rund 100.000 Mal angewandt wird, nicht zum medizinischen Curriculum. Eine Gruppe MedizinerInnen an der Berliner Charité kämpft nun darum, dass sich das ändert. Aber auch der moralische Druck auf die ÄrztInnen wächst. „Es gibt immer weniger Ärzte, die Abtreibungen durchführen. Wenn man das tut, gerät man in eine Schmuddelecke“, weiß auch Kristina ­Hänel. Die Folge könnte eines nicht allzu fernen Tages sein, dass Frauen wieder auf dem Küchentisch von „Engelmacherinnen“ landen.

Und so ließen im Gießener Gericht weder Richterin Fouladfar noch Staatsanwalt Schneider einen Zweifel daran, worum es im Kern der Sache geht: Frauen die freie Entscheidung über eine Mutterschaft zu verwehren. Die Richterin befürwortete, dass Frauen sich nicht eigenständig für eine Ärztin ihrer Wahl entscheiden können. Dabei offenbarte die Juristin in ihrer Urteilsbegründung eine beklemmende Unkenntnis der bestehenden Rechtslage. „Wenn die Beratungsstellen meinen, dass im konkreten Fall der Schwangerschaftsabbruch durchzuführen ist, dann geben sie der Frau die Adressen“, erklärte die Richterin. Sie hat offenbar nicht begriffen – oder nicht begreifen wollen –, dass nicht die Beratungsstellen die Entscheidung über den Abbruch treffen, sondern letztendlich die ungewollt schwangere Frau. Die Beratungsstellen sollen eben nicht entscheiden, sondern beraten. Und zwar, so verpflichtet sie das Gesetz, „ergebnisoffen“.

Es geht darum, Frauen die freie Entscheidung zu verwehren.

Kristina Hänel ist in ganz Gießen die einzige(!) Ärztin, die Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Der Staatsanwalt wertete das jedoch keineswegs als Ausdruck des zunehmend restriktiven gesellschaftlichen Klimas. Vielmehr entstehe der Ärztin, wenn ihr die „offensive Werbung“ gestattet sei, ein „nicht unerheblicher Wettbewerbsvorteil“. Über einen solchen Zynismus konnten die rund 80 ZuschauerInnen im Gerichtssaal nur laut aufstöhnen.

Unter diesen Bedingungen hatte die Forderung von Verteidigerin Monika Frommel keine Chance: Die emeritierte Rechtsprofessorin hatte entweder einen Freispruch verlangt – oder, dass das Gericht den § 219a dem Bundesverfassungsgericht vorlegt. Frommel geht davon aus, dass das Gesetz verfassungswidrig sei. „Die Frau hat seit 1995 die Entscheidungsfreiheit“, erklärte sie. „Und Entscheidungsfreiheit bedeutet, dass Ärztinnen und Ärzte rechtmäßig handeln, wenn sie Abbrüche vornehmen.“ Folglich verstoße der § 219a, der im Übrigen von den Nationalsozialisten eingeführt worden sei, gegen die Informationsfreiheit der Frauen und gegen die Berufsfreiheit der ÄrztInnen.

In der Tat beschäftigt die Frage, ob eine sachliche Information wirklich gleichzusetzen ist mit „Werbung“ für Schwangerschaftsabbrüche, die Juristen seit Jahren. So kam bereits 2005 der Kölner Strafrechtsprofessor Cornelius Nestler in einem Gutachten zu dem Schluss, dass der § 219a verfassungswidrig sei. Auch Martin Löhning, Professor für Rechtsgeschichte an der Universität Regensburg, hält das Gesetz für nicht verfassungskonform: „Eine reine Leistungsbeschreibung, die nicht behauptet, Abtreibung sei toll, ist keine Werbung.“ Ja sogar das Verfassungsgericht selbst hat 2006 eine klare Aussage zum Problem getroffen. Damals war es um die Klage eines „Lebensschützers“ gegangen, der vor der Praxis eines Arztes Flugblätter verteilt hatte. Die Karls­ruher RichterInnen hatten argumentiert, es müsse „dem Arzt auch ohne negative Folgen für ihn möglich sein, darauf hinzuweisen, dass Patientinnen seine Dienste in Anspruch nehmen können“. Dennoch sah Richterin Fouladfar „nicht, wo die Verfassungswidrigkeit des § 219a gegeben sein soll“.

Entsprechend harsch fiel nach dem Gießener Urteil das Urteil von Strafrechts-Professorin Monika Frommel über das Urteil aus. Ein „Abgrund rechtlicher Unkenntnis“ habe sich hier offenbart. „Ein solches Denken erwarte ich in der Türkei, im Iran oder in Saudi-Arabien“, erklärte sie dem ReporterInnen-Pulk, der vor dem Gerichtssaal die Mikrofone auf die Anwältin richtete. Selbstverständlich werde man in Revision gehen.

Auch in Deutschland ist der Backlash in vollem Gange.

Die Gießener Ärztin Hänel ist nicht mehr die einzige, die sich wehrt. Die Kasseler Gynäkologin Nora Szász und ihre Kollegin Natascha Nicklaus gehören ebenfalls zu den ÄrztInnen, die von dem fanatischen Abtreibungsgegner Günter Annen und seiner Initiative „Nie wieder!“ angezeigt wurden. Auch sie haben sich, wie Kristina Hänel, geweigert, die Information von ihrer Website zu löschen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Auch ihnen steht bald ein Prozess ­bevor. „Es geht nicht, dass es für Frauen immer schwieriger wird, sich über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren“ sagt Ärztin Szász. „Das führt nicht dazu, dass es weniger Abtreibungen gibt, sondern dazu, dass ungewollt schwangere Frauen immer später zu uns kommen.“ In der Schweiz, in der Abtreibung wie in Deutschland rechtswidrig, aber straffrei ist, sind übrigens die Kantone selbst gesetzlich verpflichtet, Arztpraxen und Kliniken zu benennen, in denen Frauen eine Schwangerschaft abbrechen lassen können.

Vielleicht kommt die Politik der Justiz ja zuvor: Aufgerüttelt durch den Fall Hänel hat Die Linke gerade einen Gesetzentwurf vorgelegt, um den § 219a zu streichen bzw. gesetzlich klar zwischen Werbung und Information zu unterscheiden. Womöglich könnten die Parteien im Bundestag das momentane Machtvakuum nutzen und das entmündigende Gesetz kurzerhand abschaffen. Eine Mehrheit dafür gäbe es, denn bis auf Union und AfD sind alle dafür.

Was aus dem §219a wird, wird also nicht in Gießen entschieden, sondern früher oder später in Berlin oder Karls­ruhe. Eins ist aber nicht erst seit dem heutigen Urteil klar: In Deutschland ist das Recht auf Abtreibung keineswegs gesichert. Der Backlash ist in vollem Gange. 

Chantal Louis

Im Netz
solidaritaetfuerkristinahaenel.wordpress.com

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