Das Weib hat durchaus Genie

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Wenn Soldaten mit klingendem Spiel durch Friedland zogen, über den großen Markt, vorbei an der Ratsapotheke, summte die vierjährige Emilie, Tochter des  Apothekers Mayer, die Melodie vergnügt mit. Sie war fünf Jahre alt, da entschied der Vater: Emilie bekommt Klavierunterricht.

Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hatte das Bürgertum seine Liebe zur Musik entdeckt. Bald stand ein Klavier als Statussymbol in jedem Wohnzimmer. Die 1812 geborene Emilie Mayer hatte offensichtlich Talent. „Nach kurzem Unterrichte“, erinnerte sie sich als 58-Jährige, „componirte ich Variationen, Tänze, kleine Rondos etc.“ Ihr Klavierlehrer ermutigte die Fünfjährige auf Platt: „Wenn du die Meu gifst, kann ut die wat warden ... Wenn du dir Mühe gibst, kann aus dir etwas werden.“ Das war 1817.

Am 20. April 1850 meldete die Vossische Zeitung, dass am nächsten Tag „eine Dame, Emilie Mayer“ im Konzertsaal des Königlichen Schauspielhauses zu Berlin „eine Anzahl ihrer Compositionen“ aufführen lassen werde. „Ein solches Concertprogramm, ganz von weiblicher Hand ins Leben gerufen, ist nach unserer Erfahrung und Kenntnis, wenigstens bis jetzt ein unicum in der musikalischen Weltgeschichte.“ Rund dreißig Jahre später: Im Februar 1881 spielte die „Berliner Sinfonie-Capelle“ erstmals Emilie Mayers neue „Faust-Ouvertüre“. Viermal wird sie in Stettin aufgeführt; und im Laufe der Winter-Saison in Karlsbad, Prag und Wien vom Konzertpublikum bejubelt.

Am 10. April 1883 starb Emilie Mayer. Wer heute ihren Namen nennt, löst selbst unter Musik-Kennerinnen fragende Blicke aus: Emilie … wer ...? Eines ihrer Werke im Rundfunk hören zu können oder gar im Konzertsaal, ist ein Sechser im Lotto.

Wie konnte eine so erfolgreiche Komponistin so schnell und rigoros aus dem Musikleben verschwinden? Und wie hat sie als Frau diese einmalige Karriere geschafft in einer Zeit, die Frauen jegliche Kreativität absprach: „Das Weib gebiert den Menschen, der Mann das Kunstwerk“, erklärt der Physiker Johann Wilhelm Ritter, sein französischer Philosophen-Kollege Jean Jacques Rousseau, Idol der Aufklärung, sekundiert schon 1758: „Die Weiber, im Ganzen genommen lieben keine einzige Kunst, sind in keiner einzigen Kenner – haben durchaus kein Genie.“

Im Herbst 1840, nach dem Selbstmord des Vaters, entscheidet die 28-Jährige, von Friedland nach Stettin zu gehen, und lässt sich dort von Carl Loewe, Musikdirektor und angesehener Komponist, als Komponistin ausbilden. Sie ist unverheiratet. „Für das weibliche Wesen ist die Ehe Hauptzweck ihres Lebens“, konstatiert die Zeitschrift Der Deutsche Horizont 1832, darum habe eine Frau, „bis sie zu ihr gelangt, überhaupt noch nicht gelebt.“ Emilie Mayer hat auch hier eine bewusste Entscheidung getroffen.

Um diese Zeit hatte sich die Sinfonie als Krone der musikalischen Schöpfung durchgesetzt, der männlichen selbstverständlich. Dass sanfte Weiblichkeit etwas, das ihr angeblich von Natur aus fremd war, nämlich Leidenschaft, in Töne umsetzen könnte – unvorstellbar. Emilie Mayer hielt sich nicht daran. Und wieder gab es einen Mann, der entgegen dem Zeitgeist Emilie Mayers Talent entscheidend förderte. Es lag allein an Carl Loewe, dass der Stettiner Instrumental-Verein 1847 die beiden ersten Sinfonien von Emilie Mayer aufführte, „mit großem Beifall“, wie die Kritik hervorhob. Wenig später empfahl Loewe seine Meisterschülerin dem Freund seit Jugendtagen, Adolph Bernhard Marx, Deutschlands erster Professor für Musikwissenschaften an der Berliner Universität. Bei ihm hat Emilie Mayer sich als Komponistin „vervollkommnet“. Sie zögerte nicht, für den 21. April 1850 ein Konzert im Königlichen Schauspielhaus ausschließlich mit eigenen Werken zu organisieren.

Vom Publikum bejubelt, wurden Emilie Mayers Frühjahrskonzerte bis 1854 zu ihrem Markenzeichen – mit ständig neuen Kompositionen. 1853 ehrte die königliche Familie die Komponistin mit ihrer Anwesenheit. Die Berliner Musikzeitung Echo erfreut sich zwar erstaunlich offen „an der eigenen schöpferischen Kraft“ der h-Moll-Sinfonie von Emilie Mayer. Doch um die Sache gleich wieder zurechtzurücken, folgt prompt der Hinweis, dass im Finale „ein männlich leidenschaftlicher Geist“ wehe.

Der angesehene Musikkritiker Ludwig Rellstab dagegen stellte die Komponistin Emilie Mayer in der Vossischen Zeitung nach ihrem Frühjahrskonzert 1853 ohne Einschränkungen auf Augenhöhe mit ihren männlichen Konkurrenten: „Die Sinfonien reihen sich den besten Arbeiten der Neuzeit an, sie sind mit Begeisterung geschrieben und bekunden ein ungewöhnliches Talent, dem man die gebührende Anerkennung nicht versagen kann.“

Im März 1877 würdigte eine Frau, die Schriftstellerin Elisabeth Sangalli-Marr, in der Neuen Berliner Musikzeitung begeistert die Leistungen von Emilie Mayer und deutet an, welcher Spagat der Komponistin gelungen ist, „mit richtigem Takt den Weg zu finden, auf dem sie in der Öffentlichkeit zu wandeln hatte“. Emilie Mayer war bewusst, dass sie bei der Aufführung ihrer Werke von Männern abhing, und war geschickt genug, nach außen dem traditionellen Frauenbild zu entsprechen. Hinter den Kulissen jedoch hat Mayer zielbewusst ihre Konzerte organisiert, Verbindungen zu Orchestern und deren musikalischen Leitern geknüpft, Solisten und Solistinnen in ihre Hauskonzerte geladen.

Dass ihre Kompositionen über dreißig Jahre lang in Deutschlands Konzertsälen gespielt – und so auch international bekannt – wurden, hat entscheidend mit Emilie Mayers kommunikativer, selbstbewusster Persönlichkeit zu tun und einer klugen Vermarktungsstrategie. Nach ihrem Tod 1883 verschwanden innerhalb weniger Jahre die Werke von Emilie Mayer aus der Öffentlichkeit – und auch aus dem Bewusstsein der Musikwelt.

Was hindert die Programmverantwortlichen eigentlich daran, Emilie Mayers vielfältige Kompositionen im 21. Jahrhundert endlich wieder ins Repertoire der Konzertsäle aufzunehmen?

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