Ohne Bücher kein Judentum

Die heute 72-Jährige erhielt jüngst den Heinrich-Heine-Preis. Foto: Stephan Rumpf/dpa
Artikel teilen

Als ich 1982 nach meinem Studium die Literaturhandlung in München gründete, stellte ich mir die Aufgabe, nach der „Entjudung“ des deutschen Buchhandels, die geistige jüdische Welt zu rekonstruieren, sofern sie sich im Wort und in der Schrift erhalten hatte. Ich wollte all jene wieder einbürgern, die von den Nazis vertrieben oder verbrannt worden waren. Ihnen galt es wieder ein Menschenrecht, eine Bleibe zu geben. Doch eine Frage plagte mich gleich zu Beginn: Darf ich – was die Nazis perfekter konnten – alles sammeln und katalogisieren, zuletzt also konzentrieren, was jüdisch ist? Ob diese Schriftsteller im Judentum geblieben sind oder nicht, für mich kristallisierte sich eines heraus: Die jüdische Perspektive musste hervorheben, was ihre Literatur prägte, nämlich dass für ihr Schaffen ihre jüdische Existenz in einer nichtjüdischen Umwelt produktiv wurde. Will man also diese Schriftsteller wieder beheimaten, so muss man ihnen ihre Geschichte zurückgeben.

Als ich mit der Literaturhandlung begann, hatte ich mir vorgenommen, der mit den Menschen vernichteten jüdischen Kultur ein neues Fundament zu legen. Die Welt unserer Eltern – sie war zerstört. Ein Rest Geretteter, vornehmlich aus Osteuropa, blieb hier hängen. Wie in den Jahrhunderten vorher kam es sogar nach der tödlichsten Katastrophe der jüdischen Geschichte zu einer Neuansiedlung in Deutschland.

Wir Nachkriegsjuden besaßen keine Staatsbürgerschaft und erhielten den amtlichen Status „heimatloser Ausländer“. Er sollte Jahrzehnte andauern, sogar für uns bereits hier Geborene. Die Geschichte hat uns eine Ausnahmesituation aufgezwungen, wir standen zwischen Vernichtung und Neuanfang vor dem Nichts. Wo anschließen?

Der Aderlass der Schoah hinterließ eine absolute Leere. Der Verlust des kulturellen Erbes und die Abkoppelung vom jüdischen Wissen hatte ein kaum zu füllendes Vakuum hinterlassen. Beim Aufbau einer neuen jüdischen Existenz in Deutschland konnten die Nachkommen kaum auf etwas zurückgreifen. Alles, was eine jüdische Lebenspraxis ausmachte, fehlte. Wer konnte in einer Welt des Nichts jüdisches Wissen und jüdische Traditionen weitergeben?

Auf diese Leerstelle hat meine Generation reagiert. Jüdische Museen entstanden, Lehrstühle für jüdische Geschichte und Kultur, jüdische Schulen, die Gemeinden begannen, Infrastrukturen aufzubauen. Die jüdischen Schriftsteller deutscher Sprache besetzten die Leerstelle, indem sie lebendige Juden und ihre Probleme in die Literatur einführten. Wir Nachgeborenen suchten in der uns fremden christlichen Mehrheitsgesellschaft nach eigenen jüdischen Wurzeln und wollten uns „eine Wiedereroberung des Judentums aus dem Nichts erschreiben“, wie Barbara Honigmann sagt.

Mich hat die präsente Abwesenheit von jeglichem Erbe herausgefordert, und ich habe mit der Gründung der Literaturhandlung geantwortet. Die Erlangung und Weitergabe jüdischer Bildung musste eine intensive Vermittlung finden. Ohne Bücher kein Judentum, ohne sie eine leere Tradition und machtlose Kultur. Ben Gurion sagte: „Wir haben das Buch bewahrt, und das Buch hat uns bewahrt.“

Wir wuchsen ohne Bibliotheken, ohne Bücher auf. Unserer zweiten Generation war es vorbehalten, jüdisches Wissen einzusammeln, wollten wir den Neubeginn einer jüdischen Kultur. In einem Brief an Milena schreibt Franz Kafka, was auch für uns zutraf: „Nichts ist mir geschenkt, alles muß erworben werden, nicht nur die Gegenwart und Zukunft, auch noch die Vergangenheit, etwas das doch jeder Mensch vielleicht mitbekommen hat, auch das muß erworben werden, das ist vielleicht die schwerste Arbeit“.

Mehr als ein Jahr recherchierte ich, um herauszufinden, was von der Literatur zum Judentum auf dem Markt übrig war, ob sich die Regale der Literaturhandlung denn bestücken ließen.

Aufgewachsen mit der jiddischsprachigen Tradition, musste ich zwei Welten zusammenführen: das studierte deutsch-jüdische Erbe und die osteuropäischen Wurzeln. In der Wiedereroberung unserer Geschichte eigneten wir uns unsere Gegenwart an und traten aus dem Schatten der Vernichtung heraus. Wir erinnerten an die Ermordeten und entrissen sie so ihrer Schicksalslosigkeit. Die stark autobiografisch geprägte neue Literatur der Nachkriegsautoren leistete stellvertretend für alle Trauerarbeit und setzte den Vernichteten literarisch ein Denkmal. „Ich wollte mir die Toten vom Halse schaffen, die Toten sollten mit dem Roman begraben werden, damit ich mich den Lebenden zuwenden kann.“ So Robert Schindel.

Auschwitz hat die jüdische Literatur verändert. Zur jüdischen Kultur gehören jetzt all die Aufzeichnungen der Ermordeten und die Stimmen der Überlebenden, Imre Kértesz und Nelly Sachs, Paul Celan und Rose Ausländer, all die verbrannten Dichter und Künstler. Mit den Remigranten der Frankfurter Schule blitzte für kurze Zeit noch einmal so etwas wie jüdischer Vorkriegsgeist auf. Und die Existenz Israels änderte die jüdische Kultur grundlegend: Zum ersten Mal entstand eine freie, souveräne jüdische Literatur und Kultur.

Nie hätte ich mir 1970 vorstellen können, ein Deutschland mit täglichem Antisemitismus erleben zu müssen. Ich hatte Glück, so lange in einem Deutschland aufzuwachsen und zu leben, in dem ich mich als Jüdin frei entfalten konnte, in einem der besten Deutschlands seiner Geschichte. Wir Juden wurden geschont – wegen Auschwitz und dem Nachkriegsimperativ des Nie-wieder. Ist die Schonzeit vorbei?

Uns, der glücklichen Postholocaustgeneration, garantiert eine Verfassung, ungeachtet der heterogenen Herkünfte ihrer Bürger, die Menschen- und Grundrechte. Der deutsche Staat schützt Juden. Das war nicht immer so. Und es muss auch nicht so bleiben, wie wir wissen.

RACHEL SALAMANDER

Ausgabe bestellen
Anzeige
'

Anzeige

 
Zur Startseite