Das zupfende Geschlecht
Der Garten gibt nochmal alles. Nach den Frühjahrsblühern sind jetzt die Sonnenblumen dran, auch die Sonnenhüte und Sonnenaugen strahlen in leuchtendem Gelb. Astern oder Herbstanemonen übernehmen die Spätschicht, so dass auch im Spätsommer ein Ende der Blumenpracht noch lange nicht in Sicht ist. Doch zur Freud gehört bekanntlich (fast) immer auch Leid. Sprechen wir also über Unkraut. Genauer: Werfen wir unseren geschulten feministischen Blick auf den geschlechterpolitischen Aspekt des Unkrauts. Jawohl, den gibt es.
Als ich nämlich kürzlich mal wieder kniend und innerlich fluchend bei großer Hitze Grashalme und verdorrten Klee aus den Ritzen zwischen der Außenmauer meines Grundstücks und dem Bürgersteig rupfte, schoss es mir plötzlich ins halbverbrannte Hirn: Noch nie in meinem Leben habe ich einen Mann gesehen, der Unkraut zupft. Noch NIE!!! Ich schwöre.
Unkraut zupfen ist Frauensache. Männer hingegen zupfen kein Unkraut, Männer vernichten Unkraut! Das Ergebnis mag dasselbe sein, der Weg der Männer zur unkrautfreien Einfahrt aber ist ein gänzlich anderer als der von Frauen. Zunächst: die Position. Die knieende gebeugte Sitzhaltung scheint eines echten Mannes nicht würdig, deshalb steht der Unkrautvernichter seinen Mann. Er sieht sich auch nicht mit spitzen Fingern an kleinen Grashälmchen herumpisseln. Er will Effizienz. Die erreicht er auf zwei Wegen: mit starkem Gift oder großem Gerät. Am liebsten mit beidem gleichzeitig.
Die knieende, gebeugte Sitzhaltung scheint eines echten Mannes nicht würdig
Der echte Mann misst den Wert seiner Tätigkeiten unter anderem an der Gefahr, der er sich dabei aussetzt. Denn sie mehrt seinen Ruhm. Zum bei Männern sehr beliebten Unkrautvernichtungsmittel „Roundup“ – das das hoch umstrittene, weil mutmaßlich krebserregende Glyphosat enthält – liefert Hersteller Bayer die Erste-Hilfe-Maßnahmen gleich mit. Was tun bei Bewusstlosigkeit des Unkrautvernichters? Stabile Seitenlage, Giftnotrufzentrale des jeweiligen Bundeslandes kontaktieren, ganz großer Bahnhof.
Statt zum Gift greift der Unkrautvernichter aber auch gern zur Waffe: dem Flammenschwert. Dass es ein klitzekleines bisschen lächerlich wirkt, wenn der Unkrautvernichter die zarten Grashalme an der Hausecke mit seinem Flammenwerfer abfackelt und dabei aussieht, als bekämpfe er das Riesenmonster in „Ghostbusters“, erschließt sich den dergestalt kämpfenden Männern offenbar nicht.
Wir sehen: Der „Gender Weed Gap“ ist groß. Und er ist eng verwandt mit dem „Gender Tool Gap“ (EMMA 5/19): Während Frauen für die Arbeiten in Heim und Herd sehr leise Geräte wie Spül- und Waschmaschinen verwenden, lieben Männer sehr laute Werkzeuge wie Kreissägen oder Laubbläser. Grund: Sie erregen damit Aufsehen, was in ihren Augen ihre jeweilige Tätigkeit aufwertet. Zweitens befinden sie sich bei ihren Arbeiten an Haus und Hof stets in einer Art Kriegszustand. Auch hier sehen wir deutliche Parallelen zur Unkrautvernichtung.
Würde Hedwig Dohm das gutheißen? Oder würde sie mir zurufen: "Mehr Stolz, Chantal?"
Immer, wenn Frauen etwas tun, was Männer niemals täten, sollten sie sich Fragen stellen. Zum Beispiel könnten Frauen sich fragen, ob das geräuschlose Herausrupfen von Unkraut aus Beeten und Fugen auf den Knien und mit gekrümmtem Rücken nicht tatsächlich mit einer gewissen Würdelosigkeit einhergeht. Ich jedenfalls frage mich das, während ich da so rupfend auf der Straße kauere. Würde Hedwig Dohm das gutheißen? Oder würde sie mir zurufen: „Mehr Stolz, Chantal!“? Vielleicht würde sie das, aber was wäre die Alternative? Das Flammenschwert? Nicht wirklich.
Es passiert nämlich nicht selten, dass die Unkrautjäger bei ihren Aktionen gewaltige Kollateralschäden verursachen. Google spuckt reihenweise Meldungen wie diese aus: Beim Abbrennen von Unkraut erwischt ein Mann mit seinem Flammenwerfer die Thuja-Hecke des Nachbarn. Die brennt ab, wobei der enormen Hitze auch ein Schaltkasten zum Opfer fällt, was einen Ausfall der Straßenbeleuchtung zur Folge hat. In einem weiteren Fall brennt nicht nur eine 35 Meter lange Hecke ab, sondern auch ein daneben geparkter Lieferwagen. Schaden: 60.000 Euro. Immer wieder gehen ganze Häuser in Flammen auf.
Wenn ich Unkraut zupfe, muss die Feuerwehr nicht ausrücken. Und das macht mich dann schon ein bisschen stolz, liebe Hedwig.
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