Ist die späte Gelassenheit in Gefahr?

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Die Schweizer Frauenzeitschrift Annabelle hat nackte Frauen über 50 gezeigt. Doch Julia Onken, 65, ist gar nicht geschmeichelt, dass sie sich weiterhin ausziehen darf. – Was sagen die EMMA-LeserInnen?

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Viele Frauen kennen die unsägliche Anstrengung, schön und verführerisch sein zu müssen; bezaubernd und viel versprechend in angezogenem Zustand und göttinnengleich in splitterfaser Nacktheit. Derart auf Wirkung aus, kann es leicht geschehen, dass frau sich abhanden kommt, dass sie sich selbst vergisst, ihr eigenes Wohlbefinden sträflich vernachlässigt – immer mit der Peitsche im Hinterkopf, gefallen zu müssen. In der Sexualität bleibt unter dieser Prämisse oft eigenes Begehren auf der Strecke.
Mit dem Älterwerden ändert sich vieles. Manch eine Vierzigjährige erlebt einen gehörigen Schock, wenn sie mit ihrer 15-jährigen Tochter einen Stadtbummel macht und die Blicke der Herren an ihr vorbeizielen, um beim Anblick des „Kindes“ wonnetrunken hängen zu bleiben. Aber der Schock heilt auch, er bringt Realität in das Bewusstsein und öffnet neue Lebensperspektiven.
Wer zum xten Mal erlebt hat, dass es letztlich keine Sau mehr interessiert, ob sie sich mit dem raffiniert übers Kreuz dekolletierten Kleidchen abmüht, das leicht verrutscht und ein hohes Maß an Aufmerksamkeit an die Trägerin stellt, um den Busen besonders prächtig wie in einer Schaufensterauslage zu präsentieren – oder ob sie sich in einem weniger aufwändigen aber gastlichen Modell Wohlsein gestattet, die kommt irgendwann einmal zur Vernunft und lernt Gesetzmäßigkeiten der Vergänglichkeit.
Doch diese späte Gelassenheit ist in Gefahr. Ein neuer Markt ist entdeckt: die ältere Frau. Die demografische Veränderung der Bevölkerung bringt es mit sich, dass es immer mehr Menschen im Rentenalter geben wird. Die Zielgruppe der Kaufkräftigen verschiebt sich, die meisten Alten sind finanzstärker als die Jungen.
Die Wirtschaft lässt sich diese Goldoase nicht entgehen, reagiert rasch und prompt und instinktsicher auf die Schwachpunkte der menschlichen Psyche, das heißt der weiblichen. Die Mehrheit der Frauen hat bereits eine gründliche Vorschulung hinter sich, die Gehirnwäsche bezüglich des Frauenbildes sitzt: Eine Frau muss einem bestimmten Schönheitsideal entsprechen, damit sie sich als Frau dazu zählen darf. Darüber hinaus muss sie in der Lage sein, erotisch zu stimulieren. Schließlich gehört es zur Aufgabe der Frau, dem Mann immer und überall mit weiblichen Reizen die Hirnzellen zu animieren, damit sein Verlangen ausgelöst wird und er nach ihr giert.
Es gibt die Möglichkeit, den Alterungsprozess via Schönheitschirurgie hinauszuschieben, ein paar Jährchen vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Die Vergänglichkeit langt zu, so oder so. Und das hat für Frauen große Vorteile. Die schmerzvollen und erschütternden Erfahrungen, dass letztlich gegen die Vergänglichkeit kein Kraut gewachsen ist, wirken langfristig heilsam. Die Erschütterung weist den Weg in eine neue Region, dorthin, wo Heilkräuter oberhalb der Schneegrenze wachsen und deshalb auch wetterunabhängig sind.
Wenn alles zusammenbricht und nichts mehr geht, ist die Chance groß, bei sich selbst anzukommen. Für viele Frauen ist das die Zeit der Wechseljahre, da sie beginnen, sich selbst verstehen zu müssen, weil sie sonst nicht weiterkommen. Die Flucht vor sich selbst funktioniert nicht mehr, denn die Resonanz und die bestätigende Beantwortung auf weibliche Attraktivität, die von außen kommen sollte, bleiben weit gehend aus. Das ist die Zeit, da Frauen lernen, mit sich selbst Freundschaft zu schließen, und sie sich allmählich aus dem Schönheitsdiktat befreien.
In dieser Lebensphase lernen Frauen, Schuhe nicht mehr ausschließlich nach dem Spiegel, sondern auch nach samtpfotigen Wohlgefühl zu kaufen. Und das ist die Zeit, da viele Frauen auch die Sexualität neu entdecken, weil sie endlich bei ihrem eigenen Begehren angekommen sind und sie ihre eigenen Wünsche wahrnehmen und wagen, dazu zu stehen.
Jetzt sind Frauen nicht mehr bereit, beim Sex den Bauch möglichst flach zu halten, um sich anregend hinzudrapieren, vielleicht noch garniert mit für die Trägerin unbequemen Latex-Accessoires. Da geht plötzlich die Post ab, eine neue Energie sprüht förmlich aus allen Zellen. Es gibt zweifellos Männer, die fühlen sich von einer solchen Frau, die sich selbst treu bleibt, besonders angezogen. Aber es gibt auch die andere Kategorie, die bei soviel weiblicher Kraft verängstigt den Schwanz einzieht und insgeheim befürchtet, dieser Urgewalt nicht gewachsen zu sein.
Mit der neuen Welle aber, Frauen über fünfzig nackt zu fotografieren, wird nun der Versuch unternommen, die vorwärts strebende Energie älterer Frauen wirksam auszubremsen. Sie wird in jene Position zurück gepfiffen, da sie sich weiterhin wohlgefällig zu präsentieren hat, verräterische Problemzonen gekonnt zu kaschieren weiß und somit wieder in der alten Rolle von Anpassung und Gefallenwollen landet.
In der Annabelle, der bedeutendsten Frauenzeitschrift in der Schweiz, wurden jüngst Frauen zwischen 50 und 83 nackt abgebildet. Die Modelle erzählen vom Foto-Shooting als ein großes und einmaliges Erlebnis; von einer einfühlsamen Fotografin, die erlaubt, endlich so sein zu dürfen, wie sie sind, zu sich und zu ihrem Körper zu stehen.
Der Wunsch, einen liebevollen freundschaftlichen Umgang mit seinem eigenen Körper zu pflegen ist durchaus zu begrüßen und verständlich. Aber diese Modelle haben die Perspektive der Betrachter und Betrachterin nicht eingerechnet. Denn in unserer Kultur wird weibliche Nacktheit automatisch mit Sexualität gekoppelt. Und somit richtet sich der Focus der Betrachtung und Begutachtung entsprechend auf die Möglichkeit erotischer Attraktivität.
Da räkelt sich die 83-jährige Lys Assia keck aus ihrem Body heraus, sie gäbe zweifellos das Bild einer wunderbaren alten Frau ab, würde sie auf die Peinlichkeit verzichten, sich möglichst erotisch zu präsentieren. Auf dem Titelbild schaut nackt und verletzlich eine Schauspielerin, mit fragendem Blick: „Na und, wie findet ihr mich?“ Zweifellos wird die Antwort lauten: „Für eine Fünfzigjährige nicht schlecht“. Eine solche Bewertung, die zwar durchaus als Kompliment gemeint ist, wirkt gleichzeitig auch kränkend. Und weil die meisten Frauen auch eine langjährige Übung mit Kränkungen haben, wird die verletzende Botschaft erfolgreich verdrängt.
Es ist grundsätzlich ein entwürdigendes Unterfangen, ältere Frauen nackt vor die Kamera zu locken. Denn die Frau setzt sich freiwillig – wie einst in jungen Jahren – der Begutachtung aus, wird be- und verurteilt, kurzum verletzbar. Die Photos können noch so ästhetisch sein, so weichzeichnerisch freundlich die Spuren eines gelebten Lebens verschleiern, sie richten sich letztlich gegen die Frau, gegen ihre Würde. Schließlich hat alles seine Zeit!
Darum berühren die Nacktfotos unangenehm und lösen eher Pein aus. Nicht weil der alternde Körper abstoßend wäre, nein, sondern weil mit der Darstellung von weiblicher Nacktheit die Funktion erotischer Stimulation verbunden ist. Selbstverständlich kann auch der Körper einer älteren Frau wunderschön sein, aber er hält dem Vergleich mit einer jungen Frau in keiner Weise stand.
Schon jetzt gibt es in Zürich eine Headhunterin, die auf der Pirsch nach attraktiven älteren Frauen ist. Da wird sich wohl die eine oder andere geschmeichelt fühlen und schließlich auch bereitwillig die Hüllen fallen lassen. Doch wenn sich Frauen über fünfzig nochmals rückwärts orientieren, verpassen sie die neue Freiheit, die gerade dadurch entsteht, dass das Diktat stets sexuell attraktiv sein zu müssen endlich durchschaut und entmachtet ist.
Ein dreijähriges Kind, das herausgefunden hat, wie ein Dreirad funktioniert, tritt freudig in die Pedalen und rollt davon. Die Eroberung des Dreirades gehört in dieses Lebensalter. Wenn aber ein Vierzehnjähriger noch immer auf dem Dreirad hockt, ist er auf einer Entwicklungsstufe sitzen geblieben, er wendet die Fähigkeiten, über die er aufgrund seines Alters verfügt, nicht an. Und das ist eine Katastrophe.
Die Kompetenzen von Frauen über fünfzig übersteigt bei weitem die Möglichkeit, sich nackt optisch ins günstige Licht zu rücken, um erotische Wünsche zu erzeugen. Doch sie kann es wenden, wie sie will: Sie wird im Vergleich mit einer Zwanzigjährigen immer schlechter abschneiden. Sich auf einen solches Konkurrenzunternehmen einzulassen heißt, sich freiwillig auf das Niveau einer Almosenempfängerin zu begeben, sich zufrieden zu geben mit durchaus freundlich beschwichtigenden Urteilen des Stils: „Für ihr Alter sieht sie aber noch ganz passabel aus.“
Aber ist es das, was wir Frauen ab fünfzig wirklich wollen? Wünschen wir uns nicht viel mehr? Geht es nicht darum, sich endlich als Mensch zu positionieren, als Frau, die nicht mehr manipulierbar ist, die nicht mehr für fremde Zwecke missbraucht werden kann? Die Freiheit der Frau, die sich nicht mehr normativ versklaven lässt, orientiert sich an ihren eigenen Wertvorstellungen und schöpft aus dem Vollen.
Diese Frau lernt ihre Lebenserfahrung als immenses Kapital zu verstehen; sie bringt ihre Meinung überall mit ein; sie ist angstfreier und bewusster als damals in jungen Jahren. Die späteren Jahre bieten die Chance der Wahrhaftigkeit, der inneren Unabhängigkeit, der Fähigkeit, Zusammenhänge glasklar zu durchschauen und sich selbst und der eigenen Würde die Treue zu halten.
Die neue Nacktwelle für ältere Frauen ist darum durchaus mit der Aufforderung zu vergleichen, jüngere Frauen zurück an den Herd zu pfeifen. Beide Tendenzen schwächen und blockieren Frauen, ihre Fähigkeiten zu entfalten; sie führen sie zurück in die unsäglich entwürdigende Position der Begutachtung, Abhängigkeit und Fremdbestimmung. Bleibt zu hoffen, dass viele Frauen diese Gefahr erkennen; dass Töchter ihre Mütter davor bewahren, sich freiwillig wieder aufs Dreirad zu setzen.
Im Alter sind Frauen nicht länger bereit, beim Sex den Bauch möglichst flach zu halten.
Julia Onken, EMMA Juli/August 2007
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