Skandal um den Bubikopf

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Im Herbst 1924 findet in Paris ein Gerichtsprozess statt, über den die Deutsche Allgemeine Friseur Zeitung (DAFZ) ausführlich berichtet. Denn die Richter haben über eine brisante Frage zu entscheiden, die nicht nur Friseure umtreibt, französische wie deutsche. Sie lautet: „Hat ein Gatte juristisch das Recht, seiner Frau das Abschneiden der Haare zu verbieten?“ Das Urteil lautet: Ja, er hat!

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Der Advokat des klagenden Ehemannes habe ein „glänzendes Plädoyer“ gehalten, findet die DAFZ, und darin klar gemacht, dass „zu einer Frau lange Haare gehörten und der Gatte daher das Recht habe, sich einer solchen ‚Selbstverstümmelung‘ zu widersetzen“. Der Richter habe dem uneingeschränkt beigepflichtet und erklärt: Für die meisten Männer bilde „die Haarpracht der Frau eine Hauptattraktion“. Der Ehemann könne „somit fordern, dass seine Frau die langen Haare als wesentliches Attribut ihrer selbst beibehalte“.

Die Deutsche Allgemeine Friseur Zeitung nimmt das Pariser Urteil mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis. Denn noch betrachten die deutschen Friseure diesen merkwürdigen Kurzhaarschnitt, der aus der Modemetropole Paris in die deutschen Großstädte herübergeschwappt ist, mit äußerster Skepsis. Der sogenannte „Bubikopf“ sei „ein Unglück für unseren Beruf“, klagt die DAFZ. Die „Modekommission für Friseure“ schlägt noch schärfere, rassistische Töne an. Diese „unweibliche“ Haartracht sei „etwas für verlauste Russinnen, nicht aber für eine Dame“.

Doch das Wehklagen und die Beleidigungen der Coiffeure können den Siegeszug nicht aufhalten, den der „Coupe à la Garçonne“ zu Beginn der Zwanziger Jahre von Frankreich aus in die ganze Welt antritt. Der Haarschnitt war natürlich keineswegs eine reine Geschmacksfrage, sondern hatte enormes emanzipatorisches Potenzial. Er wurde zum Markenzeichen der „Neuen Frau“, die die alten Zöpfe abschneidet, symbolisch und faktisch. Noch nie waren so viele Frauen berufstätig – Mitte der Zwanziger Jahre geht jede dritte Ehefrau einer Erwerbstätigkeit nach. Die Neue Frau ergreift neue Berufe: Sie wird Telefonistin, Stenotypistin oder Verkäuferin in einem der neuen Warenhäuser. Sie ergreift aber auch „Männerberufe“, wird Ärztin, Architektin oder Abgeordnete im Reichstag. Sie treibt Sport und vergnügt sich nach Feierabend in Bars, so manche Neue Frau auch mit anderen Frauen. Das Kennzeichen für den bahnbrechenden Aufbruch der Frauen: der Bubikopf.

Darum sorgte der androgyne Kurzhaarschnitt, auch „Bob“ genannt, „für allgemeines Aufsehen, wirkte auf viele wie ein Schock und entwickelte sich in den folgenden Jahren zur Ikone der Weimarer Zeit. Der neue Haarschnitt löste eine jahrelange erregte Debatte aus und wurde zum Symbol der kulturellen Moderne“, erklärt Helga Lüdtke, die ein ganzes Buch über den Bubikopf geschrieben hat. Sie fand heraus, mit welch harten Bandagen die Gegner des Kurzhaarschnitts seine Trägerinnen attackierten – und wie beherzt und eigensinnig diese gegenhielten.

Wie so oft wurde der Geschlechterkrieg, den die Töchter der Ersten Frauenbewegung ausfochten, auf dem Schlachtfeld Frauenkörper ausgetragen: „Das lange Haar, als Teil des weiblichen Körpers“, schreibt Lüdtke, „wurde zum ‚politisch umkämpften Ort‘.“

Der Haar-Krieg tobte an mehreren Fronten. Natürlich in den Familien. Nicht in Paris, sondern in Dijon hatte ein erboster Vater den Friseur verklagt, der seiner Tochter einen Bubikopf geschnitten hatte. Auch er gewann, wie der Pariser Ehemann, den Prozess. Folge: Die Friseur-Innung beschloss, künftig von jeder Frau eine „beglaubigte Ermächtigung“ von Vater oder Ehemann zu verlangen, bevor ein Friseur die Schere ansetzte. „Bubikopf nur gegen Erlaubnisschein“, berichtete die Deutsche Allgemeine Friseur Zeitung 1925. Bald ließ sich auch so mancher Berliner Friseur aus Furcht vor erbosten Vätern oder Ehemännern deren schriftliche Erlaubnis vorlegen.

Auch die Kirche unternahm einen Kreuzzug gegen den Bubikopf: Viele katholische, aber auch so manche evangelische Pfarrer verboten kurzhaarigen Frauen die Teilnahme am Gottesdienst. Sie bezichtigten sie der Lasterhaftigkeit und der Schamlosigkeit. Ihr biblischer Beweis für die „Gottlosigkeit“ der Bubikopfträgerinnen: der berühmt-berüchtigte Korintherbrief des Paulus, in dem es heißt: „Eine Frau aber entehrt ihr Haupt, wenn sie betet oder prophetisch redet und dabei ihr Haupt nicht verhüllt. Sie unterscheidet sich dann in keiner Weise von einer Geschorenen (also einer Ehebrecherin, Anm. d. Red.). Wenn eine Frau kein Kopftuch trägt, soll sie sich doch gleich die Haare abschneiden lassen.“ Gesagt, getan.

Worum es den Kirchenmännern tatsächlich ging, nämlich um den Erhalt der Geschlechterordnung insgesamt, formulierte der amerikanische Priester Grover Cleveland Brewer in seiner Schrift „Costums and Christianity. With a Special Discussion of Bobbed Hair“: Die Geschlechter seien nun einmal verschieden, erklärte Brewer, und diese „unterschiedlichen Eigenheiten und Wesenarten“ zu pervertieren, sei „eine der schlimmsten Gräueltaten“. Fazit: „Wenn das Haareschneiden tendenziell dazu führt, der Religion abzuschwören oder die Bibel anzuprangern, die Geschlechterdifferenzen außer Acht zu lassen oder zu leugnen, dann wäre es besser, unsere Frauen würden sich die Köpfe abschneiden statt ihre Haare.“ Der Baptisten-Priester John Richard Rice schrieb gar ein ganzes Buch zum Thema, dessen Titel den Bogen vom Bob über die herrische Frau zur Priesterweihe für Frauen ohne Umschweife schlug: „Bobbed Hair, Bossy Wives and Women Preachers“. „Oh, ihr Frauen, was habt ihr alles aufgegeben, als ihr eure Weiblichkeit verloren habt!“, lamentierte Rice und warnte: „Wenn du von anständigen Männern geachtet und respektiert werden willst, dann bitte ich dich inständig, den Platz einer Frau einzunehmen! Kleide dich wie eine Frau, nicht wie ein Mann. Verhalte dich wie eine Frau.“

Stolz berichtet Rice, auch Herausgeber der Zeitschrift The Sword of the Lord, dass sich aufgrund seiner Predigten Hunderte Frauen die Haare wieder hätten wachsen lassen. Das habe zerrüttete Ehen wieder zusammengeführt, widerborstige Ehefrauen seien bekehrt worden und nun wieder bereit, sich ihrem Mann unterzuordnen.

Was allerdings weiß Gott nicht für alle Bubikopfträgerinnen galt. So manche leistete durchaus Widerstand gegen das (angeblich) göttliche Gebot. Zum Beispiel Martha Bathes, die 1926 in Kentucky den „Bobbed Hair Scandal“ auslöste.

Die 20-Jährige hatte einen Gottesdienst in Dodge City besucht, in dem Reverend Arlie Brown in seiner Predigt erklärt hatte, der Weg von Frauen mit kurzgeschnittenen Haaren führe „geradewegs in die Hölle“. Was dann geschah, schildert Martha Bates so: „Ich ging dorthin, wo er stand, und fragte ihn, ob er glaube, dass alle Frauen, die kurze Haare tragen, unanständige Frauen seien. Und er antwortete: Ja, so heißt es im Evangelium. Daraufhin schlug ich ihm, so heftig ich nur konnte, ins Gesicht. Wenn wir Bubikopf-Frauen eine Gewerkschaft hätten, gäbe es solche Reden nicht.“ Der Vorfall endete mit einer Massenschlägerei in der Kirche und der Inhaftierung von Martha.

Eine Gewerkschaft hatten sie zwar nicht, die Bubikopf-Frauen, aber sie schlossen sich zusammen und zeichneten einen Fonds, um für die Kosten eines etwaigen Gerichtsverfahrens gegen die widerständige Martha aufzukommen. Dazu kam es aber nicht, denn der Gouverneur ordnete an, die Gefangene freizulassen, da deren „körperliche Attacke durch die ungerechtfertigte Kritik des Reverend Arlie Brown gegenüber allen Frauen, die einen Bubikopf tragen, provoziert worden ist.“

Auch in Paris kam es im selben Jahr zu einer Protestaktion, wie der Coiffeur Emile Long in der Deutschen Allgemeinen Friseur Zeitung berichtete: „In Paris haben die Direktoren der Waren- und Modehäuser, der großen Verwaltungsbehörden, der ersten Banken und Versicherungsgesellschaften beschlossen, keine Damen mehr zu beschäftigen, die sich das Haar schneiden ließen“, schrieb Monsieur Emile. Das betraf über 10.000 Damen. Und was taten die? „Alle ließen sich noch in derselben Woche ihr Haar abschneiden und erschienen mit einem Ersatz-Haarknoten (Chignon) zur Arbeit. Da die jungenDamen ihre Arbeit gut verrichteten, ihre falschen Chignons aber nicht sehr geschickt anbrachten, so dass das Publikum das Ende ihres natürlichen Haares an allen Ecken hervorlugen sahen, haben die Herren Direktoren ihre Anweisung zurückgezogen und auf deren Ausführung verzichtet.“

Auch dem Vatikan blieb schließlich nichts anderes übrig, als vor der schieren Masse an Bubikopf-Trägerinnen zu kapitulieren. Am 2. Juni 1930 verkündete Rom die Botschaft, dass Frauen mit „gebobbtem Haar nicht länger aus Gottesdiensten oder von den Sakramenten ausgeschlossen werden sollen“. Die Begründung lautete schlicht: „Der Bubikopf ist so üblich geworden, dass es unmöglich wäre, alle Frauen mit geschorenem Haar zu verbannen.“

Das Wort „geschoren“ hatten sich die Gottesmänner dann aber doch nicht verkneifen können.

Der Bubikopf ist in aller Munde. Über ihn wird gedichtet und gesungen, mal liebevoll, mal spöttisch, mal boshaft. Claire Waldoffs berühmte „Hannelore vom Hall’schen Tore“ ist ein „reizendes Geschöpfchen mit dem schönsten Bubiköpfchen“. „Mach dir doch nen Bubikopf! Wer trägt heut noch Hängezopf?“ schmettert Schlagersänger Walter Kollo und sein Kollege Theodor Waldau textet: „Jede Gnädige, jede Ledige trägt den Bubikopf so gern, weil’s bequem, angenehm und modern“.

Dem Kurzhaarschnitt nicht ganz so zugewandt ist Willy Rosen, wie der Titel seines Hits aus dem Jahr 1927 nicht nur andeutet: „Du siehst ja aus wie ein Mann, mein Schatz!“ Das Problem folgt in der nächsten Zeile: „Ich trau mich gar nicht mehr ran, mein Schatz!“

Natürlich musste auch die Loreley herhalten. Der Inbegriff der langhaarigen Schönen findet sich auf Karikatur-Postkarten, natürlich mit Bubikopf, und ist Gegenstand von Couplets und Gedichten. Meist ist der Ton spöttisch, manchmal jedoch wurde die Sache ernst. „Bub oder Mädel?“ betitelte Fritz Steinmetz sein Gedicht und unterstellte den Bubikopfträgerinnen mangelnde Liebe zur Loreley und zum Vaterland: „Wer in der Not des Vaterlands/sich kleidet überspannt modern/ich sage frei heraus es ganz/Dem fehlt im Herz der deutsche Kern“ hieß es. Und weiter: „Eins fehlt: Das ist die starke Hand/die euch treibt aus dem Modejoch!/Noch sind wir kein Indianerland!/Deutschland ist immer Deutschland noch!“

Die „starke Hand“ ist schon auf dem Vormarsch. Seit Jahren beschimpfen völkische, rechtsradikale Kreise den Bubikopf als „Judenmode“. „Arisch ist der Zopf – jüdisch ist der Bubikopf“ lautet der Slogan, der die angeblich dekadente, städtische Jüdin verunglimpft und ihr das rechte Idealbild der anständigen, erdverbundenen Arierin gegenüberstellt. Wahlweise gilt der Bubikopf auch als amerikanisches oder „bolschewistisches“ Importgut, jedenfalls als „undeutsch“ und „entartet“. Der Bubikopf sei „ein Komplott gewesen, um die gesunden deutschen Sitten und die noch solidere deutsche Hausfrau zu zerstören“, schreibt der rechtsradikale Stürmer.

„Deutsches Mädel, sei gescheit; jedes Judenmädel trägt den Bubenschädel“ prangte als Aufschrift in den Turnhallen des völkischen „Deutschen Turnerbundes“, der in seiner Verbandspresse schon seit Mitte der 1920er Jahre gegen die „Dirnenhaartracht“ gehetzt und vor der „volksbedrohenden Vermännlichung“ gewarnt hatte. Schon 1925 hatte der Turnerbund weiblichen Mitgliedern mit kurzen Haaren die Teilnahme an Wettkämpfen untersagt. Doch genau wie die katholische Kirche mussten die völkischen Turner zurückrudern.

Das Ende des Bubikopfes kam schließlich doch. Mit den Nazis und ihrem „Männerstaat“ kamen die alten Zöpfe zurück – auf und in den Köpfen.

Der Kampf um die richtige Haarlänge war übrigens auch in Helga Lüdtkes eigener Familie ausgetragen worden. Auch ihr Vater „schäumte vor Wut“, als sich seine Tanzstundenpartnerin und zukünftige Verlobte Johanna im Jahr 1927 die langen Zöpfe abschneiden ließ. „Er war nicht um seine Meinung und schon gar nicht um sein Einverständnis gebeten worden“, berichtet Lüdtke, der ihre Mutter noch im hohen Alter „von der Episode in der Tanzstunde erzählt hatte“.

Die Tochter forschte nach – und fand ein Familienfoto aus dem Jahr 1914, auf dem ihre Mutter Johanna, genannt Mücke, schon als Dreijährige „eine präzis-kantig geschnittene Kurzhaarfrisur trug, also das, was man einige Jahre später mit dem Begriff Bubikopf bezeichnen sollte“. Die „für Mädchen ganz und gar ungewöhnliche Frisur“ war offenbar Mückes Vater Paul zu verdanken. Der Leipziger Zahnarzt war ein Mann mit „unangepassten, eigenwilligen und reformerischen Auffassungen“, der nicht nur seine beiden Söhne, sondern auch seine drei Töchter zu freien Menschen erzog. Der passionierte Radfahrer setzte auch seine Töchter aufs Rad, und das am liebsten in praktischen Lederhosen. Das prägte Mücke bis ins hohe Alter. Zwar ließ sie in den Dreißiger Jahren ihrem Verlobten zuliebe ihre Haare wieder lang wachsen. Aber 1952ging Mücke wieder zum Friseur und ließ sich – und ihren beiden Töchtern – die Haare kurz schneiden.

„Und was ist aus dem Bubikopf geworden, nach nunmehr fast einhundert Jahren?“ fragt Helga Lüdtke in ihrem Buch? Glaubt man den Verlautbarungen des Friseurhandwerks, stehen „Bobs und Pixies hoch im Kurs“. „Die aufmerksame Beobachterin sieht gegenwärtig jedoch ein ganz anderes Bild“, widerspricht Lüdtke. „Mädchen, auch kleine, ab ungefähr fünf Jahren, Teenager und jüngere Frauen tragen ihre Haare lang und offen, glatt, gewellt, gelockt, hochgesteckt als Dutt oder kunstvoll geflochten oder gedreht zu Zöpfen oder Pferdeschwanz in allen denkbaren Variationen.“ Auch bei TV-Frauen ist langes Haar Standardfrisur, gern wird dabei die eine Haarhälfte hinter, die andere Hälfte auf der Brust abgelegt.

„Und mit den langen Frauenhaaren kehren auch die sexuell konnotierten Zu- schreibungen und weiblichen Gesten zurück, die von jeher mit dem langen Haar verbunden waren, sich aber in den Bubikopf-Zeiten verflüchtigt hatten“, erklärt Helga Lüdtke. Junge Frauen erklärten zunehmend, dass es „Mut erfordere“, die Haare kurz zu tragen. Kein Wunder, denn ein altes Klischee sei wieder wirkmächtig: Eine Frau mit Kurzhaarschnitt sei „entweder lesbisch, vom Mann verlassen oder in einer Krisensituation“. Die Gleichung „Je kürzer, desto lesbisch“ veranlasst gerade Frauen in sogenannten „Männerberufen“, den im Raum stehenden Verdacht mit langen Haaren entkräften zu wollen. Helga Lüdtke, ganz akribische Rechercheurin, hat sich die Mühe gemacht, die Langhaarfrisuren beim DFB-Pokalendspiel 2019 im Frauenfußball zu zählen. Als die Spielerinnen des VfL Wolfsburg und SC Freiburg am Bundespräsidenten vorbeidefilierten, hatten „von den 60 Fußballerinnen im Alter zwischen 18 und 34 Jahren 59 lange Haare“. Nicht umsonst lautete ein Spruch in dem Commerzbank-Werbespot zur Frauenfußball-WM 2019: „Wir brauchen keine Eier – wir haben Pferdeschwänze.“

Übrigens: Helga Lüdtkes Mutter Mücke blieb Zeit ihres 92-jährigen Lebens beim Kurzhaarschnitt.

CHANTAL LOUIS

Weiterlesen: Helga Lüdtke: Der Bubikopf. Männlicher Blick - weiblicher Eigen-Sinn (Wallstein, 28 €)

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