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Didier Eribon: Ich klage an!

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Didier Eribon („Rückkehr nach Reims“) beschreibt auch in seinem neuen Buch („Eine Arbeiterin“) die Welt und das Leben des ehemals links kommunistischen und stark gewerkschaftlich organisierten  Industrieproletariats in Nordfrankreich. Eine Welt, die es längst nicht mehr gibt, ein Milieu, das heute von Arbeitslosigkeit, Armut und Chancenlosigkeit geprägt und seit Jahren der Nährboden für Rechtsradikalismus ist. Immer wieder zitiert er Beispiele des fröhlich-unbekümmerten Rassismus seiner Mutter, für die er sich schämt.

Anlass ist seine Trauer über den körperlichen Verfall und das qualvolle geistige Verdämmern seiner Mutter im Alter und seine Wut über ihr unwürdiges Sterben in einer Pflegeeinrichtung. Wie immer verknüpft er persönliche Erfahrungen mit der Analyse der gesellschaftlichen Zustände, sieht im Individuellen das Gesellschaftliche, im Privaten das Politische. Den eigenen Schmerz über den Verlust der „Archivarin und Historikerin (s)einer Jugend“ verwandelt er in eine Zeitreise zurück in die Vergangenheit.

Sein Erfahrungsbericht wird zur sozialen Psychoanalyse. Nachdem es nach dem Tod des Vaters in den letzten beiden Lebensjahren versöhnliche Gesten der Wiederannäherung gegeben hatte, ein Sich-Wiederfinden, Sich-neu-Finden, wird das erbärmliche Dahinsiechen der Mutter im Pflegeheim und ihr einsamer Tod zum Anlass, die Stationen dieses prekären Lebens aufzublättern.

In suggestiven Episoden und Szenen erzählt er das Leben einer Frau, die von früh an zu Putzfron und Fabrikarbeit gezwungen war, schon mit 20 Jahren an einen brutalen, gewalttätigen ungeliebten Mann, einen Hilfsarbeiter, gekettet. Ihr Leben eine Hölle aus Gleichgültigkeit, Missachtung und Gewalt. An Trennung kann sie 55 Jahre lang zwar ständig denken, durchführen kann sie sie nicht aus Angst, das wenige an sozialer Absicherung, das sie hat, auch noch zu verlieren und aus Angst vor seiner Rache. Nach acht Stunden Fabrikarbeitruhte sie sich 15 Minuten im Sessel aus, danach begann ihr zweiter Arbeitstag: einkaufen, kochen, Geschirr spülen …

Und als Entlastung für die lebenslangen Demütigungen nur obsessiver Fernsehkonsum: Fernsehen als Traum-, als Fantasiemaschine: „Es hob den Unterschied zwischen Realität und Fiktion auf, zwischen wahr und falsch, zwischen Vergangenheit und Gegenwart; es ignorierte die unerbittlichen Determinierungen durch Klasse, Geschlecht und Alter.“

Sie liebt die Formel 1 und imaginiert sich eine Vergangenheit, da sie sich Zukunft nicht mehr vorstellen kann: „Reglos in ihrem Sessel, mit der Fernbedienung in der Hand, saß sie am Steuer eines Rennautos.“ Manchmal bemüht sie sich auch so zu reden wie im Fernsehen. „Meine Mutter war ihr Leben lang unglücklich“, so die bittere Bilanz des Sohnes, den sie nicht vor der Homophobie des Milieus hatte beschützen können und dessen sozialen Aufstieg in die Bildungselite der Hauptstadt sie nur ungläubig und misstrauisch verfolgen konnte. „Er hört neuerdings Klassik, man kommt sich vor wie in der Kirche“, ist noch einer der netteren Kommentare.

Als er ihr aber Shalimar, das teure Guerlain-Parfum schenkt, verschmäht sie es.

Nach ihrem Tod kauft er sich ein Lexikon des Dialektes der Champagne, eine Art tragbares Archiv, um ihre Stimme zu hören, ihr sprachlich nahe zu sein, sie und sich nicht endgültig zu verlieren, nachgetragene Liebe.

Der Hauptakzent dieser autofiktionalen Recherche liegt auf der allerletzten Lebensphase, als sie „kraftlos, entschluss- und verantwortungslos“ aus der Zeit fällt, in Zeitlosigkeit versinkt, in eine „Unzeit“ stürzt. Auch die Dinge rücken von ihr weg, entfernen sich von ihr. Da sie sich keine Zukunft mehr vorstellen kann, imaginiert sie sich eine Vergangenheit, unternimmt Erkundungsreisen durch verschiedene
Schichten dessen, was Christa Wolf als „innere Archäologie“ bezeichnet.

Der Sohn versucht, diesem Verfall zu begegnen. Die Schilderungen seiner Bemühungen, eine adäquate Unterbringung und Betreuung seiner Mutter zu finden, sind eine einzige Anklage des Systems im Umgang mit Alter und Krankheit. Er sieht in der strukturellen Misshandlung und institutionellen Gewalt schwere Verletzungen der Grundrechte alter Menschen. Schon Annie Ernaux, auf die Eribon sich als
Autor beruft, hatte 1997 in ihrem berührenden Buch über die Demenzerkrankung ihrer Mutter („Je ne suis pas sortie de ma nuit“) von entwürdigendem Umgang mit alten und dementen Menschen berichtet.

Ernaux klagt das System nur indirekt an, in dem sie es beschreibt, während Eribon die Zustände im Pflegeheim direkt für den Tod seiner Mutter verantwortlich macht.

Im Französischen spricht man von einem syndrome du glissement, dem Verlust an Lebensenergie schon in den ersten Wochen einer endgültigen stationären Unterbringung, einem unbewussten Selbstmord. Verloren in Raum und Zeit, gefangen im Gitterbett, ruft die Mutter von Eribon Nacht für Nacht ihren Sohn um Hilfe an: „Ich werde hier misshandelt“. Schließlich verweigert sie zwei Wochen lang Essen und Trinken und „lässt sich sterben“. Eribon, der nach 30 Jahren wieder zum Sohn geworden war, sieht darin einen bewussten Akt seiner Mutter.

Er untermauert seine Anklage mit reichlich statistischem Material, das uns aufschrecken und endlich einen gesellschaftlichen Diskurs einleiten soll. Und er verweist auf den schon 1970 erschienenen, ungeheuer materialreichen Essay von Simone de Beauvoir „Das Alter“. Dieses Buch wurde leider nicht wie ihr Standardwerk „Das andere Geschlecht“ zum Longseller. Während „Das andere Geschlecht“ der Frauenbewegung zu einem „Wir“ und selbstbewusster Identität verhalf, will sich in einer leistungs- und profitorientierten Gesellschaft kaum jemand mit Alter und Sterben befassen, die Alten und Kranken können kein „Wir“ mehr bilden, haben keine Lobby und da sie keine wirtschaftliche Kraft darstellen, haben sie auch nicht die Mittel, ihre Rechte durchzusetzen. Simone de Beauvoir: „Und hier liegt das
Verbrechen unserer Gesellschaft: Ihre ‚Alterspolitik‘ ist ein Skandal.“

Beauvoir verknüpft die Altersfrage auch klar mit der Frage der Klassenzugehörigkeit. Bei sozial Benachteiligten setzt der Altersabbau deutlich früher ein, oft physisch schmerzhaft und in seelisch grauenvoller
Weise. „Als ausgebeutete, entfremdete Individuen werden sie, wenn ihre Kräfte sie verlassen, zwangsläufig zum ‚Ausschuss‘, zum ‚Abfall der Gesellschaft‘“, schreibt sie und fragt, wie eine Gesellschaft beschaffen sein müsste, damit ein Mensch auch im Alter ein Mensch bleiben könne. Die Antwort sei einfach, schreibt Beauvoir: Er muss immer schon als Mensch behandelt worden sein.

Ehe es nicht über uns hereinbricht, ist das Alter etwas, das nur die anderen betrifft. Es ist besonders schwer zu bewältigen, weil wir es immer als etwas Fremdes betrachtet haben. Gelingendes Altern setzt ein gelungenes Leben voraus.

Zeit, sich mit den verdrängten und verleugneten Seiten des Lebens zu befassen: mit der eigenen Sterblichkeit, dem Recht auf eine würdevolle letzte Lebensphase. Eribon versteht sich selbst als Sprecher seiner Mutter und der „Leute, die in der gleichen Situation sind, wie sie es war, kurz bevor sie starb.“ – „Und das ist der Grund, weshalb ich dieses Buch schreibe: um die Verschwörung des Schweigens zu brechen“, hat schon Simone de Beauvoir vor über 50 Jahren geschrieben. – In Frankreich ist die Diskussion inzwischen in Gang gekommen. Und bei uns?

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