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Ernaux: Meine Mutter in der Nacht

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Den schmalen Band mit dem schönen Titel – auf Deutsch etwa: „Ich finde nicht mehr heraus aus meiner Nacht“ – hat die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux schon 1997 veröffentlicht, aber der Suhrkamp-Verlag hat diese tagebuchartige nüchterne Begleitung ihrer Mutter in Demenz, Pflegeheim und Tod noch immer nicht im Programm. Dabei ist dieses Buch eines ihrer besten und das Thema könnte aktueller nicht sein.

Angesichts von Millionen an Demenz Erkrankten und weiteren Millionen von Angehörigen in Mithaftung der Krankheit ist jeder authentische Bericht aus dem Darkroom der Entfremdung wichtig. Sind wir  doch in der Wüste des Selbstverlustes geliebter Menschen ansonsten verloren.

Annie Ernauxs Bericht vom allmählichen geistigen und körperlichen Verfall ihrer Mutter berührt ganz besonders, weil wir diese Mutter ja gut kennen aus den ersten beiden autofiktionalen Romanen „Ein  Platz“ (1985), dem Vaterbuch, und vor allem aus „Eine Frau“ (1987). Darin beschreibt Ernaux diese Frau als vital, tatkräftig und energisch, stolz auf ihren sozialen „Aufstieg“ von der Arbeiterin zur Besitzerin eines kleinen Café-Épicerie-Ladens. In diesen beiden Büchern hat die Französin auch ihre lebenslangen Schuldgefühle als „Klassenflüchtling“ verarbeitet und versucht, das Leben ihrer Eltern, die selbst aus
allerbescheidensten Verhältnissen stammten, zu verstehen und ihnen so etwas wie ein Denkmal zu setzen.

Die erste Phase der Krankheit besteht meist aus Vertuschen und Verleugnen. Die ersten „bizarreries“ ihrer Mutter werden noch mit einem Verkehrsunfall erklärt, bei dem die Mutter angefahren worden war. Als sie während des Hitzesommers 1983 nicht mehr in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen, nimmt Annie Ernaux sie zu sich, in der Hoffnung, sie würde wieder die „dynamische und unabhängige“ Frau, die sie bis vor kurzem noch war. Aber der Persönlichkeitsverfall schreitet rapide voran, verwirrt irrt die Mutter im Haus umher, erkennt Orte und Personen nicht mehr. Diese Veränderungen schrecken die Autorin so sehr auf, dass sie sie ungefiltert und ohne nachzudenken aufschreibt. Als sich zwölf Jahre nach dem Tod der Mutter die Frage der Veröffentlichung stellt, belässt sie ihre Aufzeichnungen im Rohzustand, redigiert sie nicht. Die Frau, deren Selbstverlust sie protokolliert, ist nicht mehr die Mutter, die sie gekannt hat.

Der Buchtitel ist der letzte Satz, den die Mutter geschrieben hat, auf einer Postkarte an eine Cousine. Danach entgleiten ihr die Dinge, der Schal, der Kosmetikbeutel, alles. Triebaufschub ist nicht mehr möglich, wenn sie etwas will, Fernsehen etwa oder Essen, muss es sofort geschehen. Sie sagt „merci, Madame“ zur Tochter und weiß nicht, ob der Enkel vielleicht der Schwiegersohn ist. Sie verwechselt ihr Zimmer mit dem Arbeitszimmer der Tochter und versteckt ihre schmutzigen Unterhosen unter dem Kopfkissen, spricht laut mit sich selbst. Sie verliert die Kontrolle über ihre Körperfunktionen, sie weiß ihr Alter nicht.

Annie Ernaux, die zu der Zeit der Krankheit der Mutter noch als Lehrerin arbeitet, sieht sich gezwungen, sie nach einem Krankenhausaufenthalt in ein Pflegeheim zu geben, wo sich ihr Zustand rapide verschlimmert. Sie lebt in fantastischen Welten, wohl auch, um dem alltäglichen Schrecken des Dreibettzimmers zu entfliehen. Sie wird am Stuhl festgebunden, hortet Brotkrumen in den Taschen ihres  Bademantels wie früher Zuckerstücke: „die Angst der Armen“, die die Tochter vergessen hat.

Die sieht verstört auf den nackten Körper ihrer Mutter, das hinten offene Nachthemd, das entblößte Geschlecht. Der ständige Geruch nach Essen, Urin und Exkrementen ist unerträglich, wenn die Tochter geht, sieht sie sie mit verlorenem Blick an, spricht vor der Aufzugstür weiter, die langen Gänge sind ein Käfig, überall Uhren, die falsch gehen, Fernseher in Dauerbetrieb. Sie hat alle persönlichen  Gegenstände, alle eigenen Kleidungsstücke verloren, die Brille, die Uhr, ihr Eau de Toilette, erst das halbe, dann das ganze Gebiss, nichts wird wiedergefunden oder gar wiederbeschafft.

Die Rollen haben sich vertauscht, die Mutter ist ihr kleines Mädchen, aber sie kann nicht die Mutter sein. Splitter des alten Selbstbewusstseins der Mutter gibt es im Traum: Sie träumt von einem Besuch  Victor Hugos im Dorf, er spricht sie an …

Im Heim tragen alle Frauen Schürzen, geblümt, gestreift, sie gleichen Bediensteten. Annie Ernaux kämpft mit „Tonnen angesammelter Schuldgefühle“, kann die entwürdigenden Lebensverhältnisse ihrer  Mutter kaum ertragen. Es bleibt nur noch das Vegetative, die Gier nach Essen, wild und zügellos.

Zweieinhalb Jahre lang hat sie ihre Mutter begleitet und sie doch in ihrer „Nacht“ alleine gelassen. Der Tod der Mutter wird zu einer Lebens-, einer Schreibkrise führen. Es wird mehr als zehn Jahre Abstand brauchen, um die Notizen aus der Zeit der Krankheit wieder vorzunehmen, sich den Spiegelungen, den Schuldgefühlen und der Trauer zu stellen.

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