Die Denkerin, 76

Elisabeth Badinter, seit vier Jahrzehnten streitbare Denkerin. - Foto: J.C. Deutsch/Paris Match/Getty Images
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Der Konflikt“– so lautet der Titel eines ihrer Bücher, doch es hätte auch die Überschrift über ihre Autobiografie sein können. Ob Feminismus, Mutterliebe, weiblicher Ehrgeiz, männliche Identität, ob Antisemitismus oder Kopftuchdebatte, Elisabeth Badinter begleitet die gesellschaftlichen Debatten nicht nur. Nein, die wohl bekannteste französische Intellektuelle stößt im Gegenteil viele Diskurse überhaupt erst an, wobei sie Widersprüche, Täuschungen und Selbsttäuschungen zielsicher aufspürt und offensiv benennt – und dabei selbst keinem Konflikt aus dem Weg geht. Schon gar nicht, wenn es unbequem sein sollte. „Ich liebe es, eine gegenteilige Sicht der Dinge zu äußern, und das vielleicht nicht unbedingt subtil. Ich sehe eine Doppeldeutigkeit und dann will ich da hineinbohren. Ich bin eine Fanatikerin der Klarheit“, sagt sie.

Seit vier Jahrzehnten wird die Philosophie-Professorin nun als streitbare und im Denken unabhängige Ideengeberin ebenso gefeiert wie angefeindet. Beinahe jedes ihrer fast 20 Bücher avancierte zum Bestseller, gleich das erste, „L’ Amour en plus“ („Mutterliebe“, 1980) wurde in 30 Sprachen übersetzt. Danach ging es Schlag auf Schlag: Werke zu Geschichte, Lage der Frauen, zum Verhältnis der Geschlechter zueinander, und Biografien, wie 2017 über die österreichische Kaiserin Maria Theresia und deren Dreifachrolle als Regentin, liebende Ehefrau und 16-fache Mutter.

Doch auf ewig verknüpft bleibt Elisabeth Badinters Name wohl mit ihrem Erstling über die Mutterliebe, den sie im Alter von 36 Jahren, damals selbst Mutter von drei Kindern, schrieb. Ihre provokante These lautete: „Die Mutterliebe ist nur ein menschliches Gefühl. Sie ist, wie jedes Gefühl, ungewiss, vergänglich und unvollkommen.“

Die Philosophin berief sich auf die französische Geschichte. Noch im 18. Jahrhundert gaben aristokratische wie bürgerliche Frauen ihre Kinder an Ammen, wo sie nur mit viel Glück die ersten Jahre überlebten. Danach schickte man den Nachwuchs, je nach Geschlecht, in Internate, Kadettenschulen oder Klöster. Fürsorgliche Mutterliebe? Fehlanzeige.

Dieses Gefühl, so fand Elisabeth Badinter bei ihren Recherchen heraus, entstand erst in jüngerer Zeit. Sie habe sich die Frage gestellt, „ob der Mutterinstinkt nicht ein Mythos ist. Ich wollte mit den Stereotypen aufräumen, die auf dem Bild der Mutter lasten. Und das hat eine gewisse Wirkung gehabt“. Das Werk machte Furore und ihre eigene Familie nicht unbedingt glücklich. Tochter und Söhne kamen verwirrt aus der Schule zurück, wo ihnen Klassenkameraden erklärt hatten: „Eure Mutter liebt euch nicht; sie glaubt nicht an den Mutterinstinkt.“

Als mittleres von drei Mädchen in eine der wohlhabendsten Familien Frankreichs geboren, hätte Elisabeth Bleustein-Blanchet sich das Leben einfach machen können. Sie wählte den ambitionierten Weg und ließ sich auch von der Liebe nicht davon abbringen. Mit Anfang 20 traf sie zufällig einen Freund der Familie wieder. „Er erzählte, er sei unlängst geschieden worden. Wir tranken einen Kaffee zusammen. Et voilà.“ Sie heiratete mit 22 und hatte dreieinhalb Jahre später nicht nur drei Kinder zur Welt gebracht, sondern bald auch ihr Studium der Philosophie und Soziologie an der Sorbonne beendet.

Elisabeth Badinter begann als Philosophielehrerin an einem Gymnasium und wechselte bald an die École Polytechnique, die Eliteuniversität der französischen Armee, wo man „den Frauenanteil in dieser Institution erhöhen wollte“. Der Leiter der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften bat sie, ein Seminarthema vorzuschlagen: „Ich erzählte ihm also von der Geschichte der Mutterliebe. Er war hin und weg.“ Als nächstes erörterte sie die Frage: Was ist ein Mann?, „... um mein Buch über die männliche Identität vorzubereiten. Ein etwas irritierendes Thema für Militärs.“ Ihr Vorbild seit ihrer Jugend: Simone de Beauvoir.

Es dauerte nicht lange und Elisabeth Badinter und ihr Mann Robert zählten zu den „Power-Paaren“ von Paris, heute sind mehrere Schulen nach „les Badinters“ benannt. Beide gehörten zum engen Kreis um Präsident François Mitterrand, als dessen Justizminister Robert Badinter 1981 die Todesstrafe in Frankreich abschaffte. Elisabeth Badinter nennt ihren 16 Jahre älteren Ehemann liebevoll einen „Feministen“: „Er hat mich sehr unterstützt, und ein Mann, der so glücklich ist, wenn seine Frau etwas erreicht, das sie glücklich macht, der ist für mich ein Feminist.“

Selbstverständlich ist sie für das Recht auf Abtreibung („Ich glaube, das Recht auf Abtreibung ist eines der wichtigsten für Frauen in der Geschichte“), für gleiche Löhne, für den ganzen Feminismus. Dessen Errungenschaft sieht sie allerdings durch einen „schrecklichen Rückschritt“ bedroht. Verführt von einem überzogenen Mutter-Mythos und entmutigt durch die Härten im Arbeitsmarkt, zögen sich junge Frauen vermehrt ins Private zurück, um dort „l’enfant roi“ (das Königskind) zu betreuen, in der Erwartung, dass „die Erziehung ihrer Kinder ihr Meisterwerk werden könnte. Was passiert danach, wenn die Kinder aus dem Haus sind? Und der Mann vielleicht auch? Was dann?“

Heftigen Widerspruch erntet Badinter für ihr Buch „La Fausse Route“ (Der falsche Weg), das 2004 unter dem Titel „Die Wiederentdeckung der Gleichheit“ auf Deutsch erscheint, und für das sie, wie sie sagt, „eine tüchtige Tracht Prügel“, vor allem von Neofeministinnen, die auf einem Unterschied zwischen den Geschlechtern bestehen, kassiert habe. Darin beklagt sie eine „Vik timisierung“ der Frauen, die sie im Grundsatz zu Opfern, also schwächlich und wehrlos, mache. Auch Frauen könnten Täter sein, und Männer Opfer.

Schon in den Neunziger Jahren war Badinter vor allem im eigenen Lager, bei den Linken, mit ihrem Kampf gegen Verschleierung und Kopftuch angeeckt. Als zwei Mädchen entgegen dem Gesetz mit Hijab in die Schule kamen – geschickt von islamistischen Vätern und Onkeln –, hatten viele Toleranz angemahnt. Das Kopftuch sei doch nur ein Kleidungsstück – was Elisabeth Badinter als Angriff auf die Trennung von Kirche und Staat, aber auch auf den Feminismus wertet: „Wenn alle ‚Sitten‘ zu respektieren sind, müssen wir dann auch die Polygamie und die Klitorisbeschneidung in Frankreich einführen?“ Kritik an ihrer Sicht der Dinge nimmt sie in Kauf: „Ich werde mich weiter dazu äußern … Es muss einem egal sein, ob man als islamophob abgestempelt wird.“

Unabhängigkeit und Stärke, beides ist wohl auch ein Erbteil der Eltern. Die Mutter Sophie Vaillant, eine Englischlehrerin, war 1940 bei ihrer Eheschließung mit Marcel Bleustein zum Judentum konvertiert. Es war das Jahr, als Nazi-Deutschland in Frankreich einmarschierte. Der Vater, Sohn russischer Einwanderer, kämpfte in der Résistance für die Freiheit. Nach Kriegsende fügte er seinem Namen den Decknamen aus dieser Zeit, Blanchet, an und machte mit seiner Werbeagentur Publicis, die er 1926 gegründet hatte, Karriere. Er war es, der schon die kleine Elisabeth zu Ehrgeiz und großen Zielen anstachelte. „Er sagte: Wenn ich mich bemühe, gäbe es nichts, was ich nicht tun könnte.“

Elisabeths Vater war ein frommer Jude. Das ist ihr Ehemann nicht, aber er ist ebenfalls existenziell betroffen vom Antisemitismus im 20. Jahrhundert – der gerade wieder aufflammt im 21.  Jahrhundert. Der Vater von Robert Badinter wurde in Auschwitz ermordet – das Kind überlebte mit seiner Mutter, weil fremde Franzosen beide schützten, unter Lebensgefahr. Was die Sensibilität und Toleranz gleichzeitig fördert. Bis vor relativ kurzer Zeit war die Tatsache ihres jüdischen Hintergrundes für beide Badinters also kein Thema mehr. Doch das hat sich in den letzten Jahren geändert. Beide sind sehr besorgt über den ansteigenden Antisemitismus, befeuert durch verhetzte junge Muslime. Im Dezember 2018 gab Elisabeth Badinter zusammen mit Alice Schwarzer in Paris der FAZ ein Interview. Die beiden sind seit langem befreundet.

Elisabeth Badinter führt gleichzeitig als Aufsichtsrätin und Aktionärin das Unternehmen des Vaters weiter, das mit 77.000 Mitarbeitern in mehr als 100 Ländern als drittgrößter Kommunikationskonzern der Welt gilt. Jeden Mittwoch widmet sie sich dem Business – alle anderen Tage verbringt sie in Archiven oder am Schreibtisch, mit einem Traumblick über den Jardin du Luxembourg. Wie würde die Philosophin und Feministin ihren Beruf eigentlich selbst beschreiben, wurde die heute 77-jährige Elisabeth Badinter einmal gefragt. Sie dachte nicht lange nach: „Ich bin Feministin. Das ist kein Beruf, sondern eine  Berufung.“
 

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