Beschämende Online-Jagd

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Am Abend des 22. September 2010 bestieg der 18-jährige ­Musikstudent Tyler Clementi den Shuttlebus der Rutgers University in New Jersey, der ihn zum Zug nach New York bringen sollte. Um 20 Uhr betrat er mit seinem Handy im Gepäck die George Washington Bridge. Um 20:42 Uhr machte er auf Facebook einen letzten Eintrag: „Jumping off the gw ­bridge, sorry.“ Es gab keine Zeugen. Sein Telefon und sein Portemonnaie wurden später auf der Brücke gefunden. Clementi war aus Scham über eine Bloßstellung im Internet in den Tod gesprungen.

Der Selbstmord von Tyler Clementi, der weltweit Schlagzeilen machte, ist nur ein Beispiel von vielen. Ein Mitbewohner hatte den Zimmergenossen, einen sensiblen und hochbegabten Violinisten, bei einem intimen Treffen mit einem Bekannten per Webcam ausspioniert. Anschließend twitterte er: „Mitbewohner wollte den Raum bis Mitternacht haben. Ich habe meine Webcam angeschaltet und gesehen, wie er mit einem Kerl rummachte. Juhu.“ Als Clementi am Dienstag darauf das Zimmer wieder für sich und seinen Besuch reklamierte, forderte der Webspion seine Kommilitonen via Twitter auf, an einem Live­streaming teilzunehmen. 24 Stunden später war Clementi tot. Wer die seinerzeit überall veröffentlichte Fotografie des Jungen betrachtet, das zarte und blasse Gesicht, aus dem die Spuren der Spätpubertät noch nicht ganz verschwunden sind, der versteht sogleich, dass Clementi ein leichtes Opfer für schaminduzierte Gehässigkeit war.

Ein anderes Gesicht, an das man sich gut erinnert: Die junge Frau war auf ­allen Kanälen, in allen Zeitungen rund um die Welt zu sehen. Sie wurde zum Gegenstand sämtlicher Talkshows und Opfer hämischer Scherze und weltweit als „Flittchen“, „Nutte“, „Schlampe“, „Hure“, „Tussi“ und „Weibsstück“ beschimpft. Die Rede ist von Monica Lewinsky, der ersten Person, deren Leben durch das Internet fast zerstört worden wäre.

Als am 17. Januar 1998 auf der Website Drudge Report die Nachricht von der ­Affäre zwischen der 22-jährigen Praktikantin im Weißen Haus und dem damaligen Präsidenten Bill Clinton publik ­gemacht worden war, brauchte die Information noch drei Tage, bis sie weltweit die Schlagzeilen erobert hatte. Doch die vernichtende Wirkung für die junge Frau war unmittelbar: „Nachdem ich im Jahr 1998 in eine unmögliche Liebesgeschichte verwickelt gewesen war, geriet ich ins Zentrum eines noch nie dagewesenen ­politischen, juristischen und medialen Sturms“, schreibt sie in einem Artikel über den „Preis der Scham“, der im Frühjahr 2015 im Magazin Vanity Fair erschienen ist: „Es war ein Klick, der rund um die Welt ein riesiges Echo auslöste. Für mich persönlich bedeutete das, dass ich über Nacht von einer vollkommen privaten Person zu einer weltweit gedemütigten Frau wurde.“

Bill Clinton gilt heute als einer der ­beliebtesten amerikanischen Präsidenten aller Zeiten, das Gesicht von Monica Lewinsky wird indessen auf immer mit diesem Skandal verbunden sein. Und während die Nation dem Präsidenten sowohl seinen Fehltritt als auch seinen Meineid schnell verzieh, weil sein medial perfekt inszeniertes, schamrot vorgetragenes Reuegeständnis die Herzen der Amerikaner zu erweichen vermochte, gab es für Monica Lewinsky kein Pardon. Sie hat damals lange an Selbstmord gedacht; jahrelang mied sie die Öffentlichkeit. Doch das Schicksal von Clementi hat ­Lewinsky dazu animiert, eine Kampagne gegen den Mangel an Empathie im Inter­net zu starten.

Das von Lewinsky diagnostizierte „Compassion Deficit“ im virtuellen Raum hat seit jenem Januar 1998 – und vor allem natürlich mit dem Aufkommen der sozialen Medien – nicht nur eine rasante Beschämungsgeschwindigkeit, sondern eine zunehmend tödliche Wucht erreicht.

Warum aber sind die Menschen im Internet so brutal? Woher rührt der Wunsch, andere zu entblößen, zu demütigen und abzustrafen? Und wieso schauen so viele zu, wenn jemand coram publico seelisch und – in der Konsequenz nicht selten auch physisch – vernichtet wird? Sind die „Shamer“, wie die Cybermobber in dem Land heißen, in dem dieses Phänomen wohl seinen Ursprung hat, Opfer des Herdentriebs? Sind sie von Komplexen gebeutelte Mitläufer der Hetzmeute oder Underdogs mit dem Wunsch, sich überlegen zu fühlen? Oder macht diese Gehässigkeit Spaß? Eines jedenfalls lässt sich mit ziemlicher Sicherheit sagen: Wer andere auf brutale Weise beschämen muss, agiert oft selbst aus verdrängter Scham.

Cybermobbing ist nicht allein ein amerikanisches Phänomen, doch ist das public shaming in den USA ein signifikanter Teil der medialen Öffentlichkeit. Angefangen bei der Tradition des perp walk – der öffentlichen Zurschaustellung Verdächtiger (perpetrator) – über die keine Peinlichkeit scheuenden Realityshows bis zu den Zerknirschungsorgien drogengeplagter Celebrities ist das Paradieren der Sünder ein beliebtes puritanisches Ritual, das in den sozialen Medien einen Verstärker und zugleich eine eigene Plattform gefunden hat. Doch während durch „Skandale“ blamierte amerikanische Politiker das Theater von Reue und Vergebung gern telegen zelebrieren – oft mit der tapfer-beherrschten Gattin drei Schritte hinter sich –, gibt es bei der Internet-Demütigung kein Pardon. Und das nicht zuletzt, weil der Anlass – peinliche Bilder, unbedachte Äußerungen, grobe Verfehlungen oder auch einfach nur vage Anschuldigungen – unendlich reproduzierbar ist. Wer einmal das Opfer eines so genannten Shitstorms gewesen ist, dessen Name ist in den Internet-Suchmaschinen für immer damit liiert. Google ist der Multiplikator der Scham.

Es ist natürlich kein Zufall, dass Frauen und Mädchen das beliebteste Ziel von Hetzkampagnen im Internet sind. Laut der Organisation „Working to Halt Online Abuse“ kommen 72,5 Prozent der Klagen über Online-Belästigungen von Frauen. In einem Experiment der University of Maryland, bei dem gefälschte Adressen in Chatrooms installiert wurden, erhielten die weiblichen Namen rund 100 sexuell explizite Beschimpfungen oder Drohmails pro Tag, die männlichen dagegen nur 3,7. Die Sexualisierung der Angriffe, sei es in Form von Beleidigungen oder Vergewaltigungsdrohungen, unterstreicht die misogyne Tendenz der Internethetze – was nicht heißt, dass diese Form des virtuellen Kesseltreibens nicht auch von Frauen angewandt wird.

Bei Online-Diensten wie Formspring.me oder der Facebook-Applikation Honesty Box ist die Aburteilung von Looks und Eigenschaften der Regelfall jugendlichen Datenaustauschs. Unbarmherzig wird jeder vermeintliche Fehlgriff, jeder physische Makel öffentlich kritisiert. Es herrscht ein genüsslich inszenierter Wahrhaftigkeitsbluff frei nach dem Motto „Ich sage dir jetzt mal, wie doof und hässlich du wirklich bist“. Doch ganz gleich, ob es um die Beanstandung schiefer Zähne, zu braver Klamotten oder den geradezu inflationären Anwurf „Schlampe“ geht – der feige Furor anonym ­gedeckter Boshaftigkeit trifft meist mit vernichtender Wucht. Und mehr denn je steht das Schamgefühl vor den unerbittlichen Schönheitsidealen stramm.

„In der modernen Gesellschaft, die den Körper als die letzte Sinnprovinz der eigenen Existenz zelebriert, kommt ihm die symbolische Bedeutung zu, gleichsam das entscheidende Repräsentativ­organ der Person zu sein. Gesund oder krank, schön oder hässlich, gepflegt oder verkommen, schlank oder dick auszusehen, wird der Person als sichtbarer Ausdruck innerer Wesensmerkmale angerechnet, als Verdienst oder Makel des eigenen Seins,“ schreibt der Soziologe Sig­hard Neckel in seinem Aufsatz „Soziologie der Scham“. Am Körper ist die beschämende Wirkung vermeintlicher Mängel und Fehler auch deshalb so unmittelbar, weil der Leib jenen Anteil der Person repräsentiert, der mit ihrer Natur am engsten verbunden ist. „Abwertung wird hier gleichsam organisch mit dem Individuum verbunden, das daher fundamental und im Ganzen betrachtet als wertlos erscheint.“

Die Zerrbilder des public shaming sind die hässliche Kehrseite der besonders unter weiblichen Teenagern grassierenden Obsession, via Selfie ein möglichst perfektes Bild von sich selbst zu schaffen. Der naive Narzissmus der jungen Mädchen, die sich im Internet, oft auch per Webcam, prostituieren – wenn man die hilflosen Versuche, nach dem Drehbuch sexueller Stereotype das Hemdchen zu lüpfen und mit dem Po zu wackeln, denn so bezeichnen will –, speist sich nicht selten aus der Illusion, anhand solcher Selbstinszenierungen „entdeckt“ zu werden. Dass diese Form, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, oft mit Träumen von Sänger- und Modelkarrieren einhergeht, liegt sowohl am ­Alter als auch in der exhibitionistischen Natur des Mediums, das die exzessive Selbstdarstellung rund um die Uhr provoziert.

Natürlich ist die Lust an der Erniedrigung kein Spezifikum des Internets. Gleichwohl erfährt die Beschämung in diesem Medium eine gesteigerte Dimension. Die nahezu unbeschränkte Sichtbarkeit der Entblößten erhöht ihre Wehrlosigkeit und produziert bei den Zuschauern einen voyeuristischen Kick, der das Gefühl der eigenen Überlegenheit nährt – zumal nicht nur die Internetprovokateure, die sich via digitaler Selbsttaufe hinter Pseudonymen verstecken, sondern auch das feixende Publikum unsichtbar bleiben. Das Mobbing im Internet funktioniert wie eine digitale Schultoilettenwand, auf der Beleidigungen ohne erkennbaren Absender deponiert und von den Betroffenen oft selbst zwanghaft weiterverbreitet werden.

Die Verhöhnten geraten häufig in ­einen „Feedback-Loop“, indem sie die ­eigene Herabsetzung noch mit geposteten Antworten sekundieren. Denn offenbar vermag die schiere Aufmerksamkeit der Netzgemeinde die erlittene Demütigung zumindest zeitweise zu neutralisieren. Nur so lässt sich erklären, dass die Sucht, die Kommentare ununterbrochen zu checken und auch noch weiterzuverbreiten, noch dann unbesiegbar ist, wenn der Inhalt besonders vernichtend ausfällt. Entscheidend für den süchtig machenden Charakter dieser Dauerkommunikation ist nämlich der permanente Adrenalinstoß: Man wähnt sich im Mittelpunkt – und zwar immerzu und sofort.

Dass schon ein falsches Wort die Karriere eines gestandenen Wissenschaftlers vernichten kann, hat vor einiger Zeit das Beispiel des Nobelpreisträgers Tim Hunt gezeigt, dessen auf einer Tagung des Weltkongresses der Wissenschaftsjournalisten geäußerter chauvinistischer Scherz über Frauen und ihre Arbeit im Labor ihn um seine Ämter brachte. Hunts dummer Witz – er hatte gesagt, dass Frauen im Labor ein Problem darstellten, weil Liebe ins Spiel komme und sie zu weinen anfingen, wenn man sie kritisiere – löste nach dem Twitterpost einer Journalistin einen Shitstorm von globaler Reichweite aus. Der Biochemiker wurde von seinem Posten als Honorarprofessor am University College London und von seiner Tätigkeit beim Europäischen Forschungsrat schon am nächsten Tag suspendiert.

Ein Faktor, der dieser Vernichtungskampagne die Richtung gewiesen hat, ist das Gefühl moralischer Superiorität, das die Überreaktion auf Hunts Bemerkung provozierte. Viele empfinden das Internet nämlich als einen Raum, in dem der Elite auf die Finger geschaut werden kann. Besonders in den frühen Jahren dieses Phänomens, das mit dem Aufkommen von Twitter begann, diente der Shitstorm als eine Waffe, um die Machenschaften von Großkonzernen oder das Fehlverhalten von Institutionen auf globaler Bühne anzuprangern. „Und wir bedienten uns dabei eines immens mächtigen Werkzeugs“, schreibt der walisische Journalist und bekehrte Internetbully Jon Ronson in seinem Buch „So You’ve Been Publicly Shamed“ von 2015: „Die Stummen (bekamen) eine Stimme. Fast war es, als würde es das ganze Rechtssystem demokratisieren.“

Nun stimmt es vielleicht, dass die sozialen Medien ein Forum bieten, in dem auch Minderheiten ihrem Anliegen Gehör verschaffen oder kriminelle Praktiken in Politik und Wirtschaft angeklagt werden können. Doch von dem ursprünglich aufklärerischen Impuls der Shitstorms ist inzwischen nicht viel übrig­geblieben. Immer mehr erweist sich das Internet als eine Spielwiese, auf der Frustrierte im Schutze der Anonymität ihren Neid- und Minderwertigkeitsgefühlen freien Lauf lassen. An die Stelle von konstruktiver Kritik oder auch berechtigter Wut – sei es über Sexismus, Umweltzerstörung und Tierquälerei – tritt mehr und mehr die enthemmte ­Verunglimpfung von Personen.

Im Sog eines Shitstorms gegen eine Person kann ein jeder ungestraft Steine werfen; es herrscht das Gesetz des Mobs. Das Ungleichgewicht der Kräfte – das Opfer am virtuellen Pranger ist den Attacken mehr oder weniger hilflos ausge­liefert, derweil der Aggressor selbst unbelangbar bleibt – verschafft den Angreifern eine verstohlene Form der ­Genugtuung: Der Andere ist verletzbar, namentlich identifiziert und bloßgestellt, ich selbst bin unverwundbar, anonym und moralisch im Recht. So ebnen die sozialen Netzwerke einerseits Hierarchien ein, um dann in Form einer Online-Gerichtsbarkeit andere zu etablieren.

Das Pochen auf demokratische Ideale und die Angst vor Zensur, die immer dann bemüht werden, wenn der Ruf nach zivilisierten Umgangsformen (sprich: Regelungen in den sozialen ­Medien) laut wird, vertuscht das Ausmaß der Hilflosigkeit gegenüber den emotionalen Fallstricken einer technologischen Revolution, die weit schneller voranschreitet als die sie regelnden Kodizes. Denn die soziale Software, die inzwischen die Kommunikation der Jugend­lichen weitgehend beherrscht, ist mit den weniger grellen Affekten, die unser ­Offline-Dasein gemeinhin bestimmen, schwer kompatibel. Kein Puffer, keine mildernden Gesten, keine Etikette der Rücksicht sind einprogrammiert. Wer von einem Shitstorm getroffen wird, ist auf grausame Weise allein. Und das nicht zuletzt, weil die Online-Beschämung den Betroffenen inzwischen praktisch in jeden Winkel verfolgt. Das Smartphone, das bei vielen gleich neben dem Kopf­kissen liegt, ist nicht nur ein Mittel der Kommunikation, sondern auch ein Instru­ment der Isolation, zu der die Beschä­mung führt.

Erschwerend kommt hinzu, dass die meisten Teilnehmer an einem Shitstorm kein Bewusstsein von der Brutalität virtueller Beschämung haben. Die Online- Beschimpfung wird nämlich nicht selten als etwas verbucht, das zum jugendlichen Verhaltenskodex gehört. Das Echo im sphärenweiten Resonanzraum verschafft den Provokateuren im Netz darüber hinaus das Gefühl, im Recht zu sein. Oft multipliziert sich der Impuls, jemanden für eine dumme Bemerkung oder eine politisch inkorrekte Haltung abzustrafen, dann mit dem Schwung, den schon die schiere Menge der Gleichgesinnten erzeugt. Je mehr Menschen sich dem Shitstorm anschließen, desto hemmungsloser wird der Umgangston. Elias Canetti beschreibt diesen Vorgang in „Masse und Macht“ (1960) als das Umschlagen der genuinen menschlichen Berührungsfurcht in die gemeinsame Entladung in der Masse. Damit einher gehe ein eklatanter Mangel an Empathie.

Im Jahr 2010 veröffentlichte die University of Michigan eine Auswertung von 72 psychologischen Studien, in denen über eine Periode von 30 Jahren das Einfühlungsvermögen von Collegestudenten untersucht worden war. Dabei wurden vier Aspekte gemessen: das Mitleid mit dem Unglück anderer; die Fähigkeit, sich in Fremde hineinzuversetzen und deren Standpunkte nachvollziehen zu können; Fantasie und die Neigung, sich mit fiktio­nalen Charakteren in Büchern oder Filmen zu identifizieren; und das subjektive Elend, das die Not anderer in uns wachrufen kann. Der Befund: Die Empathiefähigkeit der Studierenden war innerhalb von 30 Jahren um vierzig Prozent gefallen – am eklatantesten jedoch seit der Jahrtausendwende, also seit dem Quantensprung der digitalen Revolution.

Speziell seit das Mailen und Texten das reale Gespräch in den Hintergrund drängt, wird unsere Kommunikation gegen Einfühlung zunehmend immun. Wir alle kennen den Anblick von Paaren oder Gruppen, die in geselligen Situationen vor allem mit ihrem Handy beschäftigt sind. Dem anderen in die Augen zu schauen, anstatt auf den Bildschirm zu starren, Wissenslücken zuzugeben und Schweigepausen auszuhalten, anstelle sofort eine Internet-Suchmaschine zu konsultieren, kurz: ein Austausch, der Blickkontakt, Spontaneität und damit auch Unsicherheit und Verletzbarkeit einschließt, gehört zu den Verhaltensformen, die sukzessive verlorenzugehen drohen. Wir schauen einander nicht mehr ins Gesicht.

Die Unsichtbarkeit im Netz, genauer: die Abwesenheit des Gegenübers, ist ein entscheidender Grund für den grassierenden Mangel an Empathie in der virtuellen Welt. Zum einen fehlt die konkrete Person, sprich: ein Rechtssubjekt, das ­belangt werden kann, zum anderen die Begegnung von Angesicht zu Angesicht. Weil wir die Wirkung beschämender Kommentare in den Zügen des anderen nicht mehr sehen können, stellt sich auch kein Bewusstsein für das Verletzungs­potenzial von Online-Attacken ein. Denn das Gesicht ist der Schlüssel der Intersubjektivität – der Fähigkeit, den Schmerz des Gegenübers als den eigenen zu erkennen. Nach dem französischen Philosophen Emmanuel Levinas zeigt das Antlitz des anderen die Substanz der Fremdheit, aus der uns die ganze Menschheit anblickt. Das Gesicht des Gegenübers ist vor mir da; ich sehe, dass es mich ansieht, also sieht es auch mich. Die Begegnung mit dem Gesicht des anderen ist somit die Wurzel des Diskurses und – darin treffen sich der französische Philosoph und die zeitgenössische Neurobiologie – der Ursprung ethischer Verhaltensweisen.

Die Gesichtslosigkeit im Internet, ein Phänomen, das durch den Einsatz von Emoticons kompensiert werden soll, ist ein Versteck, von dem aus Brutalität scheinbar gefahrlos ausagiert werden kann. Darüber hinaus schwächt sie in hirnphysiologischer Hinsicht eine Basis unserer Humanität – die Fähigkeit nämlich, uns dieser Brutalität zu schämen. Denn Empathie ist auch das Produkt von Spiegelneuronen, das heißt von Gehirnfunktionen, die die ­Mimik des anderen mit dem eigenen ­Gefühlshaushalt synchronisieren. Ein Schlüssel dazu ist das Gesicht.

Empathie ist also kein artifizielles Konstrukt des Zivilisationsprozesses, sondern – wie das Schamgefühl – ein ­integraler Bestandteil unserer conditio humana, ja, unserer biologischen Grundausstattung. Vor diesem Hintergrund mag es verständlicher scheinen, wenn Menschen im Internet Monstrositäten äußern, die sie von Angesicht zu Angesicht niemals sagen würden. „Gesichtslosigkeit ist kein bloßer Trend; wir sind mit ihr in eine gesellschaftliche Phase eingetreten, von der wir noch nicht wissen, wie wir damit umgehen sollen“, schreibt Marche. Wenn dem so ist, dann ist das Schamgefühl in diesem Prozess unser treuester Verbündeter. Denn Empathie ist die Fantasie der Scham.

Andrea Köhler

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Der Text erschien zuerst in „Scham – 100 Gründe, rot zu werden“ (Wallstein Verlag, 19.90€)

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