Die Sexualmoral war wahlentscheidend

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Dagmar Herzog ist Professorin für Geschichte am Graduate Center der City University of New York. Herzog, Jahrgang 1961,  ist eine der führenden ExpertInnen für Zeitgeschichte in den USA. Die Tochter eines bedeutenden protestantischen Theologen hat sowohl  zur europäischen Geschichte des  20. Jahrhunderts, insbesondere über den europäischen Faschismus, als auch zur amerikanischen Politik veröffentlicht. Ihr Hauptfokus ist die Sexualmoral. Es ist faszinierend, wie viel sich aussagen lässt über eine historische Epoche, wenn man die Frage analysiert, welches Verhältnis sie zu Homosexualität, Abtreibung, vorehelichem Geschlechtsverkehr, Verhütung und ganz allgemein zu sexuellem Begehren unterhält. Das hat Herzog eindrücklich demonstriert in ihrem Buch „Sexuality in Europe: A Twentieth-Century History“ (Sexualität in Europa: Eine Geschichte des 20. Jahrhunderts). In „Sex in Crisis: The New Sexual Revolution and the Future of American Politics“ (Sex in der Krise: Die neue sexuelle Revolution und die Zukunft der amerikanischen Politik) liefert sie eine erhellende Analyse des amerikanischen Neokonservatismus. Was ist los mit Amerika? –Daniel Binswanger sprach mit ihr.

Warum hat Hillary Clinton gegen Donald Trump verloren?
Dagmar Herzog: Es gibt natürlich Dutzende Gründe, aber einer lag darin, dass Trump seiner Geschlechterrolle letztlich besser entsprochen hat als Clinton. Haben Sie das dritte Fernsehduell gesehen? Trump war fürchterlich schlecht, apathisch, konfus, er schien kaum da zu sein. Clinton war souverän, artikuliert, sie schien ihn nach Belieben in die Defensive zu drängen. Aber Clinton spielte ihre Überlegenheit aus. Sie war nicht zurückhaltend und unterwürfig, sondern zurechtweisend, oberlehrerinnenhaft. Das mögen die Leute nicht, auch viele Frauen nicht. Trump dagegen mit seinen sexuellen Angebereien, seiner Modelfrau, seiner Aggressivität und seinem Geld ist eine zwar extrem primitive, aber doch recht konventionelle Verkörperung des männlichen Rollenmodells. Er entsprach den Erwartungen.

Wie weit trägt der Vergleich Trump–Hitler?
Zuallererst muss man verstehen: Steve Bannon, Trumps wichtigster Berater, ergötzt sich an dem Vergleich. Dass es diese Vergangenheit gibt, die die Leute in Panik versetzt, das findet er toll. Die Angstmacherei bereitet ihm offensichtlich Spaß.

Es geht um gezielte Provokation?
Auf jeden Fall. Bannon scheut den Vergleich überhaupt nicht, er fordert ihn heraus und sagt: Na und? Bis heute durften Mainstream-Parteien sich dem Nazivergleich auf gar keinen Fall aussetzen, jetzt aber wird er bewusst heraufbeschworen. Wenn da einer den Hitlergruß macht in einer Rallye – kein Problem! Erstens versetzt es die Linke und die Ostküstenintellektuellen in Panik, und zweitens kann man sich dann darüber lustig machen.

Aber einmal abgesehen von der Provokation: Hat der Vergleich eine Berechtigung?
Was Trump mit dem Faschismus vergleichbar macht, ist vor allem sein Herumtrampeln auf jeglicher Art von Schwäche oder Verwundbarkeit. Ob man Immigrant, schwul, behindert oder eine Frau ist: Jede Form von Machtlosigkeit wird sofort angegriffen. Nehmen Sie seine Verhöhnung von Behinderten, er scheut selbst davor nicht zurück. Das ist ein ganz großer Kontrast zur ultrakonservativen evangelikalen Rechten, die sehr respektvoll mit Behinderten umgeht, auch weil sie glaubt, dadurch ihre Position in der Abtreibungsfrage zu stärken. Bei Trump jedoch – wie damals bei den Nazis – ist das Zelebrieren von Stärke und Aggressivität ein Selbstwert. Und es zieht. Was wir verstehen müssen, ist, wie es kommen konnte, dass praktisch die Hälfte des Landes in einer ganz anderen emotionalen Welt lebt, deren Werte und Verständniskategorien völlig anders organisiert sind, als Leute wie Sie und ich das normal finden würden. Mein Eindruck ist, dass das von Europa aus sehr schwer zu verstehen ist.

Reden wir genauer über jene Welt: Meinen Sie die Blue-Collar-Workers aus Michigan und Ohio, die unter der Globalisierung ­leiden?
Die ökonomische Unsicherheit ist ein wichtiger Faktor, aber sie erklärt nicht alles. Ein hoher Anteil von Bürgern aus der unteren Mittelschicht haben Trump unterstützt. Entscheidend waren nicht die Allerärmsten, die haben mehrheitlich für Clinton gestimmt. In der weißen Mittelschicht, wo man sich bedrängt und verunsichert fühlt, da hat Trump seine Basis. Entscheidend war ein weitverbreiteter weißer Überlegenheitsanspruch. Viele dieser Leute haben es niemals akzeptiert, dass ein superintelligenter, in Harvard ausgebildeter Afroamerikaner ins Weiße Haus einzog.

Im Kern geht es um Rassismus?
Ja, aber es ist ein subtiler Rassismus. Man wird nie offen behaupten, dass die Schwarzen minderwertig seien, man ist jedoch voller Ressentiment dagegen, Rassismus verurteilen zu müssen oder sich dafür schuldig zu fühlen. Man empfindet dies als eine Zumutung. Man will nicht mehr hören, dass irgendetwas für die Armen oder für ethnische Minderheiten getan werden soll. Man hegt ein ­Ideal von Demokratie, bei dem es ausschließlich um die weiße Mehrheit geht. Die ganze Debatte um die Gesundheitsreform war durchzogen von dieser Art von latentem Rassismus. Nicht nur, weil es ein schwarzer Präsident war, der Obamacare durchgebracht hat, sondern auch weil die ganz tief in den Köpfen verankerte Überzeugung, dass man sich immer selber helfen muss und dass der Wohlfahrtsstaat des Teufels ist, ihre Wurzeln im Rassismus hat. Wir haben niemals einen richtigen Wohlfahrtsstaat gehabt, und soweit er existiert, wurde er als „war on poverty“ ausgegeben, das heißt als ein Beitrag zu den Bürgerrechten und zur Gleichberechtigung der Schwarzen.

Trump beherrscht also das Spiel mit ­latenten Gefühlen?
Nicht nur. Was Trump auszeichnet, ist weniger der Appell an latente Affekte als die Offenheit, mit der er seine Grenz­überschreitungen begeht, seine „Fuck you“-Haltung, die im Übrigen typisch ist für den Faschismus. Er demonstriert seine Macht, indem er zeigt, dass er über alle Regeln erhaben ist: Ich kann Frauen zwischen die Beine fassen, ich kann zum dritten Mal verheiratet und trotzdem der Held der fundamentalistischen Christen sein, ich kann meine Steuererklärung nicht öffentlich machen und mein Firmenimperium behalten – und ihr seid machtlos, daran etwas zu ändern. Selbst die Korruptheit seines Regimes wird fast demonstrativ zur Schau gestellt. Es ist offensichtlich, dass Trump die Präsidentschaft zu seiner ganz privaten Geldmaschine machen will.

Wo liegt der Unterschied zwischen heute und den Dreißigerjahren in Deutschland?
Die Glorifizierung der Macht funktioniert heute anders. Sie läuft mehr über Geld als über Gewalt. Man darf aber nicht unterschätzen, wie gewaltsam die Kommunikation und die Rhetorik geworden sind. Schon seit zehn, fünfzehn Jahren herrscht eine unglaubliche Aggressivität im Internet. Morddrohungen, Vergewaltigungsdrohungen, das ist nur noch Routine. Wer immer sich ein bisschen exponiert – Journalisten, Akademiker, kritische Stimmen jeder Art –, wird mit Hass überschüttet. Trump hat sich das zunutze gemacht, indem er den Leuten durch sein Vorbild die Erlaubnis gibt, die letzten Hemmungen abzulegen.

Wird Trump eine weniger aggressive ­Außenpolitik betreiben als seine Vorgänger?
Die Leute sind der Kriege müde und haben auch deshalb für Trump gestimmt, weil er einen strikten Isolationismus predigt. Dies ist übrigens ein weiterer wichtiger Unterschied zum imperialistischen Gehabe der Nazis. Doch schon die Bush-Regierung war ein Wendepunkt. Die Rationalisierungen des Irakkrieges – Massenvernichtungswaffen, der Demokratie-Export – beruhten bereits weitgehend auf „alternativen Fakten“, aber wurden auch von vielen Demokraten mitgetragen. Seither hat sich diese Art des Politisierens immer stärker ausgebreitet, etwa in der Energiepolitik der Republikaner, die einfach negiert, dass der Klimawandel überhaupt existiert.

In einem gewissen Sinn ist Trump also der politische Erbe von George W. Bush?
Sicher. Allerdings ist seine Propagandastrategie viel radikaler. Sie besteht ja nicht nur darin, mit Fiktionen zu arbeiten. Bannon und Trump machen auch ständig widersprüchliche Aussagen, und zwar ganz bewusst. Am Montag behaupten sie das eine, am Dienstag behaupten sie das Gegenteil. Man weiß nie, worauf man sie behaften kann. Sie kreieren bewusst multiple Versionen der „Realität“. Wir wissen aus der Psychiatrie, dass das einen psychotischen Effekt erzeugt. Es macht die Opposition sehr schwierig.

Und welche Form des Widerstandes ist unter diesen Bedingungen wirkungsvoll?
Eine gewisse Hoffnung setze ich in die Fernsehkomiker. Sie spielen eine extrem wichtige Rolle. Sie entzaubern das Machtgehabe. Ihr Diskurs gibt den Leuten Rückhalt und eine moralische Klarheit, die ihnen die Medien sonst nicht bieten können. Stephen Colbert zum Beispiel hat eine größere Reichweite als die New York Times. Er kann vermitteln, dass der Kaiser keine Kleider trägt. Wirkungsvoll ist auch die Opposition der progressiveren Vertreter von Big Business – z. B. Google, Facebook, Coca-Cola und Budweiser –, besonders bei den Themen Immigration und Handel. Und institutionell sind jetzt natürlich die Generalstaatsanwälte der einzelnen Bundesstaaten wichtig, die der von Trump beherrschten Zentralmacht entgegentreten können und das auch tun. Sie verklagen Trump oder schaffen es, seine Initiativen zu blockieren, zumindest zeitweilig.

Und die Presse?
Die spielt natürlich auch eine zentrale Rolle. Die New York Times zum Beispiel leistet konsequenten Widerstand gegen die Trump’sche Propagandamaschine. Aber sie stößt an Grenzen, weil es Trump ja gleichgültig ist, wenn er der Lüge oder der Inkonsistenz überführt wird. Das gibt ihm eine gewisse Unangreifbarkeit. Man muss sich aber klarmachen, dass mehr als die Hälfte des Landes die liberale Presse nie liest. Wenn die Leute die konservativen Medien konsumieren, finden sie ganz andere Meinungen vertreten. So sagen die säkularen Konservativen: „Toll, dass jetzt das Öl durch die Pipelines fließen wird.“ Und: „Wie gut, dass Unternehmen nun nicht mehr unter so vielen Regulierungen leiden müssen.“ Und: „Schade, dass das Einreiseverbot so chaotisch gehandhabt wurde, es war die richtige Idee.“ Die fundamentalistischen Evangelikalen wiederum predigen ihren Anhängern, Kritik an Trump sei eine „Revolte gegen Gott“. Oder dass es nun wichtig sei, für Trump zu beten. Oder auch, dass er nicht konservativ genug sei, etwa dass er noch stärker gegen Homo­sexuelle vorgehen müsse.

Wie wichtig war der christliche Fundamentalismus bei diesen Wahlen?
Die Rolle der Kirchen als moralische Instanz ist extrem wichtig. 82 Prozent der Evangelikalen stimmten für Trump, darunter sehr viele Frauen. Viele religiöse Wähler waren irritiert über den Kandidaten, aber es war häufig zu hören, Gott habe ihnen im Gebet eröffnet, dass sie trotz seiner Sünden Trump wählen müssen. Der Grund war immer der gleiche: Trump hat versprochen, Abtreibungsgegner im „Supreme Court“ zu platzieren.

Ist die Abtreibungsfrage noch immer so entscheidend?
Für viele religiöse Wähler ist es das Thema, das alle anderen sekundär werden lässt. Nichts ist dagegen wichtig, weder soziale Gerechtigkeit noch Kriege noch die Umwelt. Nur die Abtreibungsfrage zählt.

Woher kommt das?
Man muss die längerfristige Entwicklung ansehen. Nixon hat in den Sechzigerjahren mit der „Southern Strategy“ einen Teil der demokratischen Wählerschaft in den Südstaaten erobern können, indem er an ihren Rassismus appellierte. Es ist weniger bekannt, dass Nixon noch eine andere Strategie hatte, um traditionell demokratisch wählende Amerikaner aus der Unterschicht ins republikanische Lager zu ziehen. Er positionierte sich als Abtreibungsgegner und zielte damit auf die irischstämmigen katholischen Arbeiter im Norden. Anfang der Siebzigerjahre war der Anteil von Abtreibungsbefürwortern unter den republikanischen Wählern noch deutlich höher als unter den Demokraten. Heute ist die Abtreibungsfrage zum Herzstück der republikanischen Ideologie geworden.

Aber in der Rolle des Abtreibungsgegners war Trump ja nicht besonders glaubwürdig.
Ausschlaggebend war das bereits erwähnte dritte TV-Duell zwischen Trump und Clinton. Trumps Performance war eine Katastrophe, aber er hatte einen ganz starken Moment, nämlich als er über Abtreibungen im fortgeschrittenen Schwangerschaftsstadium sprach. Natürlich ist das ein völliger Nebenschauplatz, denn solche Eingriffe kommen nur ganz selten vor, und wenn, dann nur aufgrund schwerwiegender medizinischer Gründe. Es war absurd, wie Trump Clinton quasi als blutrünstige Kindsmörderin hingestellt hat. Aber es war wahlentscheidend. Es sicherte ihm die religiösen Stimmen. „Grab them by the pussy“ hin oder her.

Weshalb hat die Abtreibungsfrage so eine mächtige gesellschaftliche Resonanz?
Ende der Neunzigerjahre war noch eine Mehrheit der US-Amerikaner für die Abtreibung. Auch verheiratete Paare konnten sich vorstellen, mit einer unerwünschten Schwangerschaft konfrontiert zu sein und kein Kind oder kein weiteres Kind zu wollen. In eine so intime Entscheidung wollte man sich nicht von der ­Regierung hineinreden lassen. Seitdem aber sind Dinge geschehen, die zu großer Verwirrung bezüglich der „normalen“ ehelichen Sexualität geführt haben. Erstens haben die starke Verbreitung von Viagra und die damit einhergehende Medien­debatte zu Verunsicherung über das Begehren in der Ehe geführt. Diese Verunsicherung wurde durch die Explo­sion der Internet-Pornografie noch verstärkt. Von diesen Entwicklungen hat die religiöse Rechte stark profitiert. Die Leute wurden wieder empfänglicher für moralische Vorschriften, die ihr Sexualleben ordnen könnten. Zudem hat Aids zur Verbreitung und zur Banalisierung des Kondomgebrauchs geführt. Damit war die Abtreibung als Form der Familienplanung nicht mehr legitimiert, weil ungeschützter Sex ohnehin unverantwortlich erscheint.

Die Haltung gegenüber der Abtreibungsfrage hat sich also verändert, weil sich die Haltung gegenüber Sexualität insgesamt gewandelt hat?
Das Ausmaß dieser Veränderung ist erstaunlich. Als 1973 das Abtreibungsrecht durch den Obersten Gerichtshof der USA anerkannt wurde, war einer der Gründe dafür, dass in einzelnen Bundesstaaten die Abtreibung bereits möglich war, zum Beispiel in meinem Heimatstaat North Carolina. Dabei spielte natürlich der Wunsch, den Frauen die Kontrolle über ihre Sexualität zu geben, eine entscheidende Rolle, aber es gab ganz klar auch andere Motive: Diese Bundesstaaten wollten nicht, dass die mehrheitlich schwarzen „welfare mothers“ zu viele Babys bekamen. Man wollte nicht, dass Kinder geboren werden, die der Allgemeinheit zur Last fallen. Die heutigen Republikaner hingegen bekämpfen jede Form der Familienplanung mit allen Mitteln. Das ist ein dramatischer Paradigmenwechsel.

Sie erklären das mit einem Unbehagen gegenüber Sexualität, mittlerweile auch gegenüber „normaler“ Heterosexualität?
Warum muss die Bevölkerung diszipliniert werden, indem es ständig schwieriger gemacht wird, über Verhütungsmittel zu verfügen? Warum wollte man bis vor Kurzem der Unterschicht Verhütungsmittel beinahe aufzwingen und tut heute alles, um sie ihr vorzuenthalten? Das ist nur erklärbar durch eine tiefe Ambivalenz, die der Sexualität an sich entgegengebracht wird. Niemand scheint mehr fähig zu sein zu sagen: Sexualität ist eine zwar komplizierte, aber für das Glück der Menschen zentrale und gute Sache. Auch die Demokraten können das nicht mehr sagen.

Und das führt dazu, dass eine restriktive Sexualmoral wieder eine zentrale Rolle spielt? Auch wenn dann ein alter Sexist wie Trump Präsident wird?
Eine neu erstarkte Politisierung der Sexualmoral lässt sich schon länger beobachten. Als George W. Bush an die Macht kam, lancierte Karl Rove – das war Bushs Steve Bannon, also sein Politikberater mit strategischer Vision – eine staatlich geförderte Abstinenzkampagne für heterosexuelle Teenager. Das wäre Anfang der Neunzigerjahre undenkbar gewesen. Man hätte nicht akzeptiert, dass sich die Regierung in solche Angelegenheiten einmischt. Die Bush-Administration aber hat Kampagnen gegen vorehelichen Geschlechtsverkehr fest im amerikanischen Schulsystem verankern können. Unter Bush wurden die Bundesgelder für Aufklärungsunterricht an den Schulen daran gekoppelt, dass den Teenagern vermittelt wird, vor­ehelicher Sex sei selbstzerstörerisch, führe zu Depressionen und höheren Suizidraten. Das ist natürlich großer Humbug, ohne jegliche wissenschaftliche Evidenz. 25 Staaten haben deshalb diese Bundesgelder abgelehnt. Aber die 25 anderen Staaten haben diese Programme umgesetzt. In einzelnen Staaten hat das zu scheußlichen Kampagnen geführt, durch die Teenagermädchen drastisch gezeigt werden soll, wie sehr sie sich besudeln, wenn sie nicht keusch bleiben. Auch unter Obama wurde diese Art der „Aufklärung“ fortgesetzt, denn der republikanische Druck, zum Beispiel gegen Verhütungsmittel, ist aufrechterhalten worden.

Ist die politische Aufgeladenheit sexueller Fragen etwas spezifisch Amerika­nisches?
Nein, letztlich lässt sich das überall feststellen. Nehmen Sie nur die Mobilisierung gegen die Homoehe in Frankreich, die nun ja auch bei den Präsidentschaftswahlen eine entscheidende Rolle spielt, oder die politische Mobilisierung gegen die Abtreibung, die überall in Europa wieder zunimmt. Mit Sexualität lässt sich immer und überall Politik machen. Die Sexualmoral aller Spielarten des Faschismus beispielsweise zeichnet sich immer durch zwei hervortretende Züge aus: Er ist homosexuellenfeindlich, und er ist gegen die Abtreibung. Er entwirft ein heroisiertes Bild „wahrer Männlichkeit“, und er will die weibliche Sexualität kontrollieren. Homosexualität und Abtreibung sind auch die beiden großen Obsessionen der religiösen Rechten in den USA.

Werden restriktivere Moralvorstellungen populärer in Krisenzeiten? Sind sie ein Krisensymptom?
Die wirtschaftliche Krise hat ganz sicher einen starken Einfluss auf das Sexualleben des Durchschnittsamerikaners. Viele Menschen sind heute mit existenzbedrohender Unsicherheit konfrontiert, sie haben keinen sicheren Job, verlieren womöglich ihr Haus, müssen mehrere Anstellungen kumulieren, um knapp durchzukommen, sind den Launen ihres Bosses ausgeliefert und so weiter. Leute, die sich aufreiben, überarbeitet sind und sich als Versager fühlen, haben in der Regel kein berauschendes Sexualleben. Theodor W. Adorno hat schon 1963 einen faszinierenden Aufsatz über „Sexualtabus und Recht heute“ geschrieben. Seine Grundthese lautet, dass Menschen in einer Situation existenzieller, wirtschaftlicher Bedrohung anfangen, Strafaffekte zu entwickeln. Sie projizieren ihr Unbehagen auf „verwerfliche“ Formen der Sexualität. Adorno thematisiert die Strafaffekte gegenüber Prostituierten und Homosexuellen, zwei Minderheiten, die damals für Anrüchigkeit, aber auch für Freizügigkeit und Promiskuität standen. Die Prostituierten sind heute ersetzt worden durch Frauen, die abtreiben und auch für eine unmoralische, ausschweifende Sexualität stehen – sonst würden sie ja nicht ungewollt schwanger werden.

Wir leben also in einer neuen Hochphase der Intoleranz?
Es ist schon bemerkenswert, dass sich sowohl in den USA als auch in Europa – nicht nur in den osteuropäischen, ehemals kommunistischen Ländern wie Polen, sondern ebenso in Westeuropa – überall sexuell konservative Bewegungen ausbreiten, die sowohl von Protestanten als auch von Katholiken getragen werden. Die Frage ist doch: Warum zieht das? Warum kann man nicht Lust an der Lust anderer haben? Warum kann man nicht großzügig sein, sich freuen, dass es Vielfalt gibt im menschlichen Begehren? Es gab ja immer wieder Perioden im 20. Jahrhundert, in denen diese Großzügigkeit gegeben war. Adornos Frage trifft den entscheidenden Punkt: Warum entwickeln die Menschen den Zwang, anderen Menschen sexuelle Vorschriften zu machen? Warum entwickeln sie aggres­sive Strafaffekte?

Es bleibt jedenfalls erstaunlich, dass ein Mann, der die völlige Enthemmung repräsentiert, der den Miss-Universe-Wettbewerb kauft, um in den Garderoben herumzuschleichen, der mit seinen sexuellen Heldentaten prahlt und in dritter Ehe mit einem 25 Jahre jüngeren Model verheiratet ist, zum Bannerträger für diese Strafaffekte wird.
So erstaunlich ist das nicht. Es ist ein ­altes Machtprinzip, dass der Herrscher alles bekommt, was den Untertanen verboten ist – und was sie insgeheim auch sich selber wünschen würden. Trump ­repräsentiert den Mann, der sich alles kaufen kann und der deshalb alle Frauen bekommt. Außerdem ist es ja ein charakteristischer Zug der Evangelikalen, dass sie nichts so sehr lieben wie den reuigen Sünder, der zwar fürchterliche Missetaten begangen, aber auf den rechten Weg zu Jesus zurückgefunden hat. Man ist gern bereit, Trump seine obszönen Kommentare, seine außerehelichen Eskapaden und sonstige Sünden zu vergeben. Alles, was zählt, ist, dass er heute bereit ist, Frauen für eine Abtreibung hart ­bestrafen zu wollen.

Das Interview erschien zuerst im Magazin des Schweizer Tages-Anzeigers.

 

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