Die weiße Löwin vom Nil

Foto: Avi Kotzer.
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Nawal El Saadawi, die „Löwin vom Nil“, Autorin von „Frauen und Sexualität“, „Wir spucken auf euch – Bericht einer Frau am Punkt Null“ oder „Tschador – Frauen im Islam“, hat ihr ganzes Leben einer einzigen Sache gewidmet: dem unermüdlichen, hochherzigen und beharrlichen Kampf in Ägypten gegen jede Art von Gewalt gegen Frauen, für ihre Emanzipation und ihre elementaren Freiheiten. Sie hat geschrieben – 55 Bücher, Romane, Essays und Biographien –, gekämpft und ist auf die Straße gegangen gegen die Ungerechtigkeit gegen Frauen, im Namen der Religion, eines mittelalterlichen Obskurantismus, Konservatismus und steinzeitlicher Machtpraktiken.

„Ich sage die Wahrheit und die anderen werfen mir vor: ‚Sie sind eine gefährliche Wilde.‘“, sagte sie einmal. Als Ikone des Feminismus – nicht nur in ihrem eigenen Land, sondern weltweit – galt sie mancher Frau als Vorbild. In ihrer Aufrichtigkeit und Integrität nötigte diese Pionierin Respekt ab. Und gleichzeitig war sie unbequem, wenn sie mit ihren fordernden und streitbaren Reden die Vorherrschaft einer zutiefst paternalistischen Welt anprangerte, die über das Leben der Frauen in der arabischen Welt bestimmte.

In ihrem Buch „Ich spucke auf euch. Bericht einer Frau am Punkt Null“ empört sich Nawal El Saadawi: „Die Männer enttäuschen die Frauen zwangsläufig und bestrafen sie dann dafür, dass sie enttäuscht sind. Sie drücken sie auf das niederste Niveau hinunter und bestrafen sie dann dafür, dass sie so tief gesunken sind. Sie fesseln sie durch die Ehe und züchtigen sie lebenslänglich durch niederste Arbeiten, Beschimpfungen oder Schläge (...) Ich stellte fest, dass alle diese Herrschenden Männer waren. Alle gemeinsam hatten sie eine geizige und gestörte Persönlichkeit; eine Gier nach Geld, Sex und unbegrenzter Macht. Es waren Männer, die die Korruption in der Welt verbreiteten und ihre Völker ausplünderten; Männer mit lauten Stimmen, mit Überzeugungskraft, die sanft in ihrer Wortwahl waren, aber vergiftete Pfeile abschossen. Die Wahrheit über sie kam immer erst nach ihrem Tod ans Licht und deshalb hatte die Geschichte, wie mir klar wurde, die Tendenz, sich mit absurder Hartnäckigkeit zu wiederholen.“

Und so fragt Nawal sich nach dem ständigen, rastlosen Ringen in diesem ungleichen, unmenschlichen und erniedrigenden Clinch: „Wie viele Jahre meines Lebens sind mir gestohlen worden, bevor mein Körper und mein ‚Ich‘ wirklich zu meinen wurden und ich damit machen konnte, was ich wollte? Wie viele Jahre meines Lebens sind mir verloren gegangen, bevor ich meinen Körper und mich selbst den Personen, die mich vom allerersten Tag an in ihrer Gewalt hielten, entreißen konnte …?“

Nawal El Saadawi wurde als jüngstes von neun Geschwistern im Alter von sechs Jahren unter dem komplizenhaften und gleichgültigen Blick ihrer Mutter auf dem Badezimmerfußboden beschnitten. Das erschütterte sie zutiefst, prägte und traumatisierte sie für ihr ganzes Leben. In ihrer Biografie gesteht sie später schmerzerfüllt: „Seit meiner Kindheit ist diese tiefe Verletzung (die Beschneidung) in meinem Körper nie verheilt.“

Als Nawal zehn Jahre alt war, versuchte man, sie zu verheiraten. Ein weiteres Trauma. Von Kind an stößt sie auf den Unterschied, die Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten der Geschlechter, den Sexismus in einer patriarchalischen Gesellschaft. Ein Mädchen gilt weniger als ein Junge. Ihre Großmutter sagte ihr, „ein Junge ist so viel wert wie 15 Mädchen“. Das alles beherrschende „Übel“!

Auch in der Politik haben Frauen keinen Zugang zur Macht, über die uneingeschränkt und exklusiv Männer verfügen. In dem Buch „Ich spucke auf euch“, dessen Protagonistin eine Prostituierte ist, lässt die Autorin sie sagen: „Und doch habe ich keinen Augenblick an meiner Integrität und Ehrenhaftigkeit als Frau gezweifelt. Mein Beruf, das wusste ich, war eine männliche Erfindung, Männer beherrschten unsere beiden Welten, die auf Erden wie auch die im Himmel. Die Männer zwingen die Frauen, ihren Körper zu einem bestimmten Preis zu verkaufen, und am schlechtesten bezahlt wird der Körper einer Ehefrau. Alle Frauen sind Prostituierte auf die eine oder auf die andere Weise! Und sarkastisch fährt sie fort: „So besteht nach rund zweitausend Jahren das größte Verbrechen darin, einen anderen Gott als den Gott Moses’ anzubeten, während die Ungerechtigkeit nur noch eine Bagatellsünde darstellt. Ich habe mich gefragt, wie es zu dieser Veränderung gekommen ist. Hing es mit der Etablierung einer neuen Ordnung zusammen, in der die weiblichen Gottheiten durch einen männlichen Gott ersetzt worden waren?“

Was die Sprache angeht, ihr Mittel im Kampf gegen diese „Übel“, vertritt Nawal El Saadawi die Meinung, dass Worte nicht gefallen sollen und die Verletzungen des Körpers der Frauen oder die beschämenden Momente ihres Lebens nicht verbergen dürfen. Sie schreibt: „Sie (diese Wörter) können uns verletzen, uns wehtun, aber sie können uns auch dazu bringen, das, was wir Jahrtausende lang hingenommen haben, in Frage zu stellen … Die Feministinnen, die sich der Auswirkungen des Patriarchats bewusst sind, wissen, dass wir Frauen angesichts der Gefahren des Patriarchats alle im selben Boot sitzen. Und dass die Frauen weltweit unterdrückt werden.“

Und sie fährt fort: „Die Solidarität unter Frauen kann eine mächtige Kraft der Veränderung sein und die zukünftige Entwicklung günstig beeinflussen, nicht nur für die Frauen, sondern auch für die Männer.“

Ihr politisches Engagement trug Nawal El Saadawi die Feindschaft der damaligen Machthaber und des Präsidenten Anwar El Sadat ein. 1981 verliert sie ihre Stelle, wird verhaftet und sitzt drei Monate lang im Gefängnis. Ihr Vergehen: Sie hatte als Abteilungsleiterin im Gesundheitsministerium in ihren Reden die entwürdigende und erniedrigende Frauenpolitik der ägyptischen Regierung kritisiert. Beschuldigt wurde sie eines „Staatsverbrechens“.

Im Gefängnis schreibt Nawal ihre Memoiren, auf Toilettenpapier mit einem Kajalstift, den eine Mitgefangene, eine Prostituierte, für sie versteckt. Erst nach der Ermordung von Präsident El Sadat wird sie freigelassen. Aber ihre Bücher werden verbrannt, zensiert und verboten.

Von den islamischen Fundamentalisten wird die Feministin mit dem Tod bedroht und wegen Apostasie angeklagt. Deshalb geht die Ägypterin 1993 in die USA ins Exil, nach North Carolina, wo sie an der Duke University unterrichtet. Erst drei Jahre später kehrt sie in ihr Land zurück. 2005 kandidiert sie für die ägyptischen Präsidentschaftswahlen. Aber wegen der Übergriffe der staatlichen Sicherheitsdienste, die ihre Wahlveranstaltungen verhindern, zieht sie ihre Kandidatur zurück.

Nach Erscheinen ihres Theaterstücks „Gott quittiert den Dienst während des Gipfeltreffens“ wird die „weiße Löwin vom Nil“ von der höchsten sunnitisch-islamischen Behörde, der Al Azhar (Ägypten), wegen „Blasphemie“, „Atheismus“ und „Apostasie“ angeklagt, worauf in Saudi-Arabien die Todesstrafe steht. Doch nicht nur deswegen. Nawal war schon immer Zielscheibe der ägyptischen Islamisten. Ihr Name stand auf einer schwarzen Liste, neben dem Namen des Literaturnobelpreisträgers Nagib Mahfuz, der 1994 in Kairo mit Messerstichen schwer verletzt wird. „Die Zurückweisung jeglicher Religionskritik ist kein Liberalismus. Das ist Zensur“, hatte sie sich empört.

In einem langen BBC-Interview, das die sudanesisch-britische Journalistin Zeinab Badawi 2018 mit ihr führt, spricht Nawal El Saadawi über die „Wut“, mit der sie sich für die Frauenrechte und die Emanzipation engagiert: „Ich muss aggressiver sein, weil die Welt immer grausamer wird. Wir wollen, dass die Menschen laut ihre Stimme gegen die Ungerechtigkeit erheben. Ich benutze scharfe Worte, weil ich wütend bin.“

2020 setzt das Time Magazin die „weiße Löwin vom Nil“ auf sein Titelblatt. Die Ikone Nawal El Saadawi führt die Liste der einflussreichsten 100 Frauen aus aller Welt an, unter dem Foto steht ihr Slogan: „You cannot have a revolution without women.“ Es gibt keine Revolution ohne die Frauen.

K. SMAIL

Aus dem Französischen von Sigrid Vagt.

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