Alice Schwarzer schreibt

Steine und Bomben

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Februar 2001. Im Fernsehen läuft eine Dokumentation, die mich den Schlaf kosten wird. Zu sehen sind recherchierende Journalisten, Menschen im Kosovo heute, Bilder des Flüchtlingselends damals, Akteure der Medienschlacht, OSZE-Beobachter, ein Ex-General und ein leibhaftiger Minister. Der Minister macht einen gelassenen Eindruck, sehr gelassen. Ihn scheinen die Fragen der Journalisten kaum zu berühren, geschweige denn zu erschüttern. Stoisch wiederholt er Behauptungen, die wir von ihm seit Jahren kennen, die darum aber nicht wahrer werden: Hufeisenplan, serbische KZs, humanitäre Katastrophe... Sie werden dem deutschen Verteidigungsminister nicht zum ersten Mal als falsch, ja als wissentliche Lüge vorgehalten. Folgenlos.

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Vier Wochen zuvor. Ich bin fern der Heimat, so fern, dass selbst brisante West-Nachrichten mich nur zufällig erreichen. In der Hotelhalle liegt eine Herald Tribune von gestern, in der ich so Aufregendes aus Deutschland entdecke, dass selbst die amerikanische Presse es berichtenswert findet. Den deutschen Außenminister und „bestgekleideten Mann Deutschlands“ (Gala) holt seine Vergangenheit als Streetfighter und Lederjackenträger ein. Die US-Zeitung kommentiert den „unheimlichen Wandel“ des Ministers scharf. Diese deutschen Söhne seien ganz wie ihre Eltern: Sie schlüpfen von einem Tag zum anderen in eine neue Haut, sie erinnern sich an nichts – und wenn überhaupt, haben sie alles nur für die gerechte Sache getan.

Wieder zuhause, lese ich ganz andere Töne. In Deutschland selbst wird die Affäre viel, viel milder gehandelt. Die wenigen, denen die Leichen im Keller von Fischer & Genossen stinken, gelten als lächerliche Konservative und Ewiggestrige. Außerdem: Wenn Fischer kippt, dann kippt auch Schröder und die ganze rot-grüne Regierung. Da müssen wir zusammenhalten.

In den regierungsnahen Medien haben Sympathisanten, einstige Kampfgenossen, das Meinungsmonopol: Ex-Spontis, Ex-Maoisten, Ex-Trotzkisten oder Ex-Stalinisten aus der WG von nebenan. Die, an deren WG-Wand derselbe Che Guevara pinnte, dieses bärtig-zigarrenpaffende, cubanische Guerillo-Idol mitteleuropäischer Stadtteilrevolutionäre. Tenor der einst Oppositionellen und heute Regierungstreuen: Selbst auch mal jung und hitzköpfig gewesen. Außerdem: Vater Staat und Vater zuhause waren schließlich auch nicht ohne. Oder, um es mit Joschka Fischer zu sagen: Wer hat denn keine Steine geschmissen?

Ich. Und einige andere auch nicht. Vor allem Frauen nicht. Nicht, weil wir die Vorhut von Merz & Merkel gewesen wären. Nein. Wir wollten auch die Welt verbessern und diskutierten nächtelang über „revolutionäre Gewalt“, und ob und wie weit die gerechtfertigt sei: nur gegen Sachen oder auch gegen Menschen? Aber wir hatten das Einfühlungsvermögen uns vorzustellen, dass geworfene Steine nicht nur uns selber weh tun, sondern auch anderen. Von „Mollis“ ganz zu schweigen.

Natürlich war das vor allem Männersache. So wie die Bomben. Auch flammte die Gewalt als Attitüde nicht zufällig in den emanzipationsbewegten 70er Jahren hoch. Sie war in erster Linie eine Antwort auf das neue Selbstbewusstsein der Frauen und die Verunsicherung der linken Häuptlinge durch den Feminismus. Deren Rückzug in die Gewalt war ein Rückzug in frauenfreie Räume – wie die Lichtungen im Taunus, auf denen Joschkas „Putzgruppe“ Randale übte – und: eine Demonstration von Männlichkeit. Auch konnte schwarzes Leder über gespannten Muskeln so manche Semi-Emanzipierte noch beeindrucken. Die damalige Gefähr- tin von Cohn-Bendit rückblickend: „Wir Frauen fanden Steinewerfer erotisch.“

Der Spiegel hat ein aufschlussreiches Fischer-Zitat aus dem Jahre 1977 ausgegraben, also aus der Zeit, in der der „revolutionäre Kampf“ am Ende war und seine Helden auch. Damals war Fischer noch erschrocken. Über sich selbst. Er schrieb: „Ich lernte, in der Gewalt zu leben. (...) Daraus wurde dann leicht die Lust am Schlagen, ein tendenziell sadistisches Vergnügen.“ Und weiter: „Es ist unser und mein dunkelstes Kapitel, ich weiß oder ahne es besser nur, weil ich da selber wahnsinnige Angst vor bestimmten Sachen in mir habe. Bartsch oder Honka sind Extremfälle, aber irgendwie ist das als Typ in dir drin.“

Zu der Zeit saß Honka als Massenmörder von Prostituierten auf der Anklagebank. Und der Metzgerssohn Bartsch war als sadistischer Serienmörder kleiner Jungen verurteilt worden. Über beide Täter beugte sich die neumodisch psychologisierende Berichterstattung mit viel Empathie, doch ohne jegliches Interesse für die Opfer.

Irgendwie ist das als Typ in dir drin. Ein sehr ehrlicher und sehr gewagter Satz. Es wäre gut für uns alle gewesen, der katholische Metzgerssohn Joschka hätte den Mut gehabt, diesem „dunklen Kapitel“ in sich weiter nachzuspüren. Vielleicht müsste er dann heutzutage nicht im Dauerlauf davonrennen und auch nicht via exorzistische Diäten sein Innerstes einmauern. Doch leider sind den Fischers die Erkenntnisse der 70er Jahre in den 90ern verloren gegangen, irgendwo zwischen der Toskana und dem Weißen Haus. Die Lehren aus dem Erbe der Väter wurden von diesen Söhnen nie wirklich gezogen.

Die Entmenschlichung des politischen Gegners, die Selbstgerechtigkeit gepaart mit der Gewissheit, der Zweck heiligt allemal die Mittel – all das haben diese Söhne reproduziert. Vor 25 Jahren kämpften sie mit Maobibeln oder Maschinengewehren gegen die „Scheißbullen“ und das „Schweinesystem“ der „alten Nazibonzen“. Heute werfen sie Bomben auf ferne Fremde und „den Schlächter von Belgrad“, um „ein neues Auschwitz“ zu verhindern.

Noch während des Kosovo-Krieges veröffentlichte der Verteidigungsminister sein „Kriegstagebuch“. Darin findet sich ein Foto, das Scharping und Fischer im Kosovo zeigt, hinter ihren Bodyguards und UNO-Soldaten. Die Gesichter der Minister sehen bedrückt aus. Die Bildzeile verrät, dass sie gerade aus einer Ortschaft kommen, in der „serbische Einheiten Massaker an Kosovo-Albanern verübt“ hätten. Gelogen. Das wussten die beiden auf dem Foto schon damals, wie eine NATO-interne Untersuchungskommission jetzt definitiv bewiesen hat.

Die von Scharping demonstrativ der Weltpresse vorgeführten Toten waren keine Zivilisten, sondern bewaffnete Kämpfer der okkupierten serbischen Armee bzw. der marodierenden UCK-Untergrundtruppen. „Wir dürfen nicht wegsehen“ lautet der emotionalisierende Titel des Scharping-Buches. Und sein Autor stellt ihm ein stolzes Motto voran: „Wenn wir es nicht schaffen, der Moral die politischen Instrumente zu geben und der Politik die Moral, dann haben wir genau jene Teilung, vor der ich persönlich Angst habe.“ – Wer nicht.

Bundestagspräsident Thierse war es in seiner Ossi-Unbefangenheit vorbehalten, ein allzu wahres Wort zu sagen: Wenn heute ein linker Streetfighter von gestern Minister sein kann, dann kann morgen auch ein rechter Streetfighter von heute Minister sein. Beide agieren im jeweils herrschenden Zeitgeist. Beide haben Spaß an Trouble. Beide glauben sich im Recht. Und beide greifen zur Gewalt im Moment ihrer Verunsicherung. Ihrer Verunsicherung als Männer.

Das war schon mal so. Das Berliner Document Center meldete im letzten Jahr, dass von den 42.000 ersten NSDAP-Mitgliedern im Jahre 1933 genau 93 Prozent Männer im Alter von 27 bis 29 Jahren waren. Übrigens ebenfalls in Zeiten besonderer männlicher Verunsicherung: Eine Generation nach der Hoch-Zeit der (ersten) Frauenbewegung – also als die Saat bei den Töchtern aufgeht – und mitten in einer ökonomischen Krise.

Es hat übrigens immer schon nur gerechte Kriege gegeben. Ungerecht finden die nur die Opfer. Eine gerechte Gewalt gibt es nicht – nur das Recht auf Notwehr und die Pflicht, diese sehr genau zu definieren. Wer sich der Mittel der Täter bedient, wird selber zum Täter.

Politik und Moral. Dazu General Loquai, Balkan-Beauftragter der OSZE, der europäischen Sicherheitsorganisation, und letztendlich wegen seiner Kritik am Kosovokrieg in den Ruhestand versetzt: „Man hat in der Vergangenheit oft der deutschen Generalität den Vorwurf gemacht, dass sie dort auch geschwiegen habe, wo sie etwas hätte sagen sollen. Und ich wollte in dieser Situation etwas sagen, wollte die Manipulation und Propaganda nicht als solche stehen lassen.“

Politik und Moral. Den meisten Politikern und Journalisten fällt dazu zur Zeit in Deutschland nur der Parteispendenskandal ein. Aber was ist schon eine Parteispende gegen einen Krieg?

 

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