Einstand Emine Sevgi Özdamar

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Emine Özdamar ist in die deutsche Sprache eingewandert mit ihrem ganzen türkischen Sprachgepäck und hat sich darin eingerichtet. Ihre türkische Muttersprache hat sich verwestlicht,  ihr Deutsch hat sich orientalisiert und mit türkischen Denk- und Sprachmustern angereichert. Erst indem diese Autorin die Sprachen wechselt, erschließt sie sich ein ganz unverwechselbares Idiom, eine deutsch-türkische Sprachsymbiose; erst indem sie sich die Fremdsprache zu Eigen macht, findet sie zu einer unerhörten Eigensprache.

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Mit 18 Jahren ist Emine Sevgi Özdamar erstmals nach Deutschland gekommen, ein theaterbesessenes und welthungriges Mädchen vom Goldenen Horn, aus Anatolien gebürtig und in wechselnden Städten Kleinasiens und am Bosporus aufgewachsen. Sie hatte seit ihrem zwölften Jahr Theater gespielt, Jugendtheater. Sie glaubte an ihre theatralische Sendung. Sie konnte kein Wort Deutsch, als sie in Berlin ankam, Mitte der 60er Jahre. Wie sie, als Fabrikarbeiterin in Westberlin, sich auf ganz unorthodoxe Weise der deutschen Sprache bemächtigte, das lässt sich in Özdamars "Die Brücke vom Goldenen Horn" nachlesen.

Dessen Heldin und Erzählerin ist, so wie die Autorin, eine Grenzgängerin zwischen den Kultur- und Sprachräumen. Sie sieht sich, zunächst ganz sprachlos, in ein kaltes, finsteres und fremdes Berlin versetzt, in eine winterliche, nächtige und etwas unheimliche Stadt, voll alter Schutthalden und Baulücken, mittendrin die Ruine des Anhalter Bahnhofs, den sie den "beleidigten Bahnhof" nennt, weil im Türkischen das Adjektiv für "zerbrochen" auch "beleidigt" bedeutet.

Sie möchte Schauspielerin werden, aber noch ist sie ohne Sprache. Erst allmählich und Schritt für Schritt überwindet sie den Kulturschock und die Sprachlosigkeit, erobert sich die fremde Umwelt und die fremde Sprachwelt. In dem Maße, wie sie sich die Sprache anzueignen beginnt, dringt sie auch in die Stadt ein. Sie lernt Deutsch nach dem Gehör und nach den Schlagzeilen der Zeitungen. Sie lernt diese Schlagzeilen auswendig wie die Texte in einer Theaterrolle. Jeder Zuwachs an Sprache bedeutet auch einen Zuwachs an Weltdurchdringung.

Sprachwechsler sind Grenzgänger. Grenzen sind immer handlungs- und abenteuerverdächtig. Sie sind Umschlagplätze für geistige Waren oder Schmuggelstellen für geistige Konterbande. Sofort stellt sich die Frage, was die Grenzgängerin im Gepäck führt - welche Traditionen sie mitbringt, welche Erinnerungen, welche kulturellen Substanzen.

Emine Sevgi Özdamar ist eine solche Sprachwechslerin und Grenzgängerin, eine Sprach-Immigrantin ins Deutsche. Die Muttersprache Emine Özdamars ist nicht ihre Tochtersprache; zur türkischen Muttersprache, der "Mutterzunge", wie ihr erster, 1990 erschienener Band mit Erzählungen hieß, hat sie das Deutsche als zweite Sprache adoptiert. Und als Deutsch schreibende Autorin türkischer Muttersprache hat Emine Özdamar den Prozess des Sprach- und Kulturwechsels zum eigentlichen Thema ihres Schreibens gemacht.

Dennoch bleibt ein Gefühl der Gespaltenheit, der Zerrissenheit zwischen den Kulturen. Während die Mutterzunge der Heldin allmählich abhanden kommt, ist die neu zu erobernde Sprache noch gebrochen. Noch taumelt die Sprecherin im Niemandsland zwischen zwei Sprachen und hat nirgendwo Fuß gefasst. Die gespaltene Identität spiegelt sich vor dem Hintergrund der geteilten Stadt Berlin. "Wenn ich nur wüsste, in welchem Moment ich meine Mutterzunge verloren habe", heißt es einmal.

Nach ihren zwei Fabrikjahren in Deutschland ging Emine Sevgi Özdamar zunächst nach Istanbul zurück, wo sie die Schauspielschule absolvierte und unter anderem in Stücken von Brecht und Peter Weiss spielte. 1976 kam sie wieder nach Deutschland zurück - als Hospitantin an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz arbeitete sie bei dem Brecht-Schüler Benno Besson. Diesmal kam sie, um zu bleiben. Zunächst als Schauspielerin und Regisseurin, dann auch als Schriftstellerin. Nach der Lust des Darstellens und Vorzeigens hatte diese vielseitige Spielerin und Erzählerin nun auch die Wollust des Benennens für sich entdeckt.

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie sehr kulturelle Zumischungen aus heterogenen Sprach- und Gefühlswelten die jeweils eigene Kultur bereichern – bei Özdamar ist der Nachweis erbracht. Denn Sprache ist ein Gut, das durch Gebrauch nicht ab-, sondern zunimmt.

In ihren beiden Romanen erzählt Emine Sevgi Özdmar nicht nur die Geschichte vom Erwachen eines politischen Bewusstseins in einem ahnungslosen, aber begierigen türkischen Mädchen, dessen Hunger nach Welt auch den Hunger nach Weltanschauungen einschließt; sie entwirft auch, in aller Genauigkeit, aber auch in aller Widersprüchlichkeit Bilder der türkischen Gesellschaft. Und diese Bilder reichen vom westlich-aufgeklärten Bürgertum Istanbuls, also von der Moderne am Bosporus, bis zur Vormoderne in den kurdischen Bergdörfern und den staubigen Trockengebirgen Anatoliens, in all ihrer archaischen Rückständigkeit. Eine Kultur zwischen Atatürk und Burt Lancaster, Koran und Kaugummi, Kopftuch und Comics.

Zum Weiterlesen:
"Der Hof im Spiegel" (Erzählungen), "Die Brücke am Goldenen Horn" und "Das Leben ist eine Karawanserei" (Romane), "Mutterzunge" (Erzählungen) – alle bei Kiepenheuer & Witsch.

 

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