Auf dem Laufsteg tot zusammengebrochen

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In Madrid geht die Politik jetzt in die Offensive im Kampf gegen die Hungersucht. London und Mailand ziehen nach. Und Berlin? 

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Size Zero - Größe Null. Klarer kann man den Trend zur Selbstvernichtung, der sich epidemisch unter Models und Mädchen ausbreitet, eigentlich nicht ausdrücken. Luisel Ramos wollte Größe Null (die der europäischen Größe 32 entspricht). "Wenn Du abnimmst, kannst Du es schaffen!" hatte ihre Agentur gesagt.
Also hungerte sich das 1,78 m große Model aus Uruguay innerhalb von zwei Wochen von 62 auf 50 kg und einen Body-Mass-Index von 15.7, der laut Weltgesundheitsorganisation als schweres Untergewicht gilt. Drei Tage vor der ‚Woche der Mode' in Montevideo aß sie überhaupt nicht mehr. Am 3. August dieses Jahres brach die 22-jährige nach ihrem Marsch über den Catwalk tot zusammen. Todesursache: Herz- und Kreislaufversagen. In den letzten drei Tagen hatte Luisel (1,78 Meter, 57 Kilo) als "Vorbereitung" auf die Show überhaupt nicht mehr gegessen. Das Model war, am Anfang ihrer vielversprechenden Karriere, schlicht verhungert.
Zu selben Zeit musste sich Leonor Pérez Pita, die Chefin der Madrider Modewochen, in der spanischen Hauptstadt einiges anhören, als sie vor den Justizausschuss des Regionalparlamentes zitiert wurde: Die Models ihrer Pasarela Cibeles seien in der letzten Saison "ernsthaft unterernährt" über den Laufsteg gestakst. Sie hätten "keine Muskeln" mehr gehabt und auch "nicht mehr menstruiert". Einige Models hatten der Presse zu Protokoll gegeben, sie fürchteten um ihre Karriere, wenn sie zunähmen.
Die PolitikerInnen sind jetzt offensichtlich mit ihrer Geduld am Ende. Schließlich hatte das spanische Gesundheitsministerium schon 1999 "Empfehlungen" an die Modeindustrie ausgegeben, nachdem Untersuchungen ergeben hatten, dass rund eine Million Spanierinnen den spindeldürren Vorbildern nacheifern und magersüchtig beziehungsweise Bulimikerinnen sind. Keine Reaktion. Da die Region Madrid ein Hauptfinanzier der Modewochen ist, sprach Regional-Regierungschefin Esperanza Aguirre ein Machtwort:
Models mit einem Body-Mass-Index von 18 und weniger dürfen ihre skelettösen Körper auf den Madrider Laufstegen künftig nicht mehr präsentieren. Denn: "Models sind ein Spiegel für die Sehnsüchte junger Mädchen. Deshalb muss ihr Aussehen mit der Wirklichkeit übereinstimmen und vernünftige Ernährungsgewohnheiten widerspiegeln."
In der Wirklichkeit sind die Ernährungsgewohnheiten vieler Mädchen schon lange nicht mehr "vernünftig". Schon 1984 veröffentlichte EMMA alarmiert einen Sonderband über die weibliche Hungersucht: ‚Durch dick und dünn'. Im Jahr 2000 hatte eine europäische Studie des Kasseler Beratungszentrums für Ess-Störungen festgestellt: Jedes zweite Mädchen zwischen 11 und 13 Jahren hat bereits "Diäterfahrung", und jede vierte Sieben- bis Zehnjährige. Jetzt bestätigte das Robert-Koch-Institut die schockierenden Ergebnisse mit einer Studie, für die es über 17.000 Mädchen und Jungen befragte.
Resultat: Jedes dritte Mädchen in Deutschland zeigt ein "auffälliges Essverhalten". Jede vierte 11- bis 13-Jährige beantwortete mindestens zwei von fünf Fragen nach ihrem Verhältnis zum Essen ("Übergibst du dich, wenn du dich unangenehm voll fühlst?" Oder: "Findest du dich zu dick, während andere dich zu dünn finden?") mit: Ja. Bei den 14- bis 17-Jährigen ist es schon jedes dritte Mädchen (und jeder siebte Junge).
Das Robert-Koch-Institut fordert deshalb, "bereits im frühen Jugendalter über Ess-Störungen aufzuklären, Betroffene frühzeitig zu erkennen und Hilfsangebote zielgerichtet zu erweitern." Und natürlich: Die Bilder zu verändern, an denen sich die Mädchen, gerade die ganz jungen, orientieren.
Immer wieder zeigen Studien: Models und Schauspielerinnen nehmen unangefochten Platz eins ein, wenn es um die Definitionsmacht in Sachen Körperbilder geht. In Amerika, dem Mutterland der Size Zero und dem durchschnittlichen Model-Body-Mass-Index von 16.4, gibt es schon ein Wort dafür: ‚Thinspiration': die Inspiration zum Sich-Dünnemachen.
Deshalb fordern ExpertInnen wie der Präsident des Bundesfachverbandes für Ess-Störungen (BFE), Andreas Schnebel, einhellig ein Ende der "grausigen Vorbilder". Auch sein Kollege Manfred Fichter, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ess-Störungen (DGE), erklärt: "Die untergewichtigen Idole haben einen katastrophalen Einfluss auf Magersucht-Gefährdete."
Fichter würde am liebsten sogar die Barbie-Puppe aus den Kinderzimmern verbannen, denn: "Deren Taille prägt sich schon der Fünfjährigen ein." Und Udo Pollmer vom Europäischen Institut für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften (siehe Interview Seite 54), sagt: "Bilder sind ungeheuer stark. Wir können deshalb das Schönheitsideal nicht kognitiv verändern, sondern nur, in dem wir andere Bilder zeigen."
In Spanien haben Gesundheitsministerin Salgado und Regionalchefin Aguirre vorgemacht, wie das gehen kann. Modewochen-Chefin Pérez-Pita zog mit und erklärte: "Ich will keine Skelette mehr auf dem Laufsteg!" Reaktion: "Tausende begeisterter E-Mails aus aller Welt".
Selbst mancher Designer zeigte durchaus Sympathien für das Machtwort aus Madrid. Modemacher Antonio Pernas, der alle 18 Models auswechseln musste, kommentierte: "Die jungen Frauen orientieren sich an dieser Industrie. Wir sollten gesunde Models zeigen." Der "Richtlinienkodex für die Anpassung der Konfektionsgrößen an die Realität" soll in Spanien jetzt auch gesetzlich verankert werden.
Außerdem hat Ministerin Salgado ein Abkommen mit spanischen Modeketten wie Zara und Mango sowie dem Verbund der Modemacher getroffen: Die Proportionen der Models (deren Körperfettanteil in den 60er Jahren acht Prozent unter dem der Durchschnittsfrau lag - heute sind es 20 Prozent) sollen realistischer werden; Schaufensterpuppen (die so mager sind, dass sie nicht menstruieren würden, wenn sie könnten) sollen mehr Rundungen bekommen.
Zwei Pro-Ana-Seiten im Internet (auf denen Anorexie-Communities Tipps austauschen) wurden geschlossen, und auf Geheiß der Ministerin wird jetzt eine Art Volksbefragung aller Spanierinnen zu Magersucht und Bulimie durchgeführt, um eine verlässliche Datenbasis für weitere Maßnahmen zu schaffen.
Die Madrider Aktion schlug auch international Wellen. In der Mode-Metropole Mailand drohte Bürgermeisterin Letizia Moratti jetzt ebenfalls, unterernährte Models vom Laufsteg zu verbannen, wenn sich die Modemacher nicht auf freiwillige BMI-Grenzwerte einigen könnten. In London versucht sich Kulturministerin Tessa Jowell an einer Neuauflage ihres Body-Image-Summits, einer Art Modegipfel, bei dem sie im Jahr 2000 bereits DesigerInnen, ChefredakteurInnen von Modemagazinen und FernsehmacherInnen an ihren Runden Tisch geholt hatte.
Und in Deutschland? "Bisher ist es leider so, dass das Thema Ess-Störungen in der Politik nicht gehört wird", klagt der Präsident des Bundesfachverbands Ess-Störungen (BFE) Andreas Schnebel. Seit Jahren versucht der Verband, in dem 33 Kliniken und Beratungsstellen organisiert sind, "die zuständigen Ministerien in unsere Aktionen einzubinden, mit ihnen gemeinsam Kampagnen zu gestalten". Fehlanzeige.
Deutschlands Mädchen, von denen jede zehnte Magersüchtige an den Folgen ihrer Ess-Störung stirbt, sind bisher noch nicht auf der Agenda von Gesundheitsministerin Schmidt gelandet. Jetzt macht der Bundesfachverband einen weiteren Anlauf. Er fordert Modebranche und Ministerinnen auf, es Spanien nach zu tun: "Politiker und Medien sind aufgerufen zu helfen, neue Vorbilder zu etablieren!"
Wir dürfen gespannt sein, ob Gesundheitsministerin Schmidt diesmal reagiert. Auch ihre Kollegin Ursula von der Leyen, Frauenministerin, Ex-Gesundheitsministerin in Niedersachsen und von Beruf Ärztin, dürfte sich angesprochen fühlen. Handlungsbedarf besteht.
Das Frankfurter Zentrum für Ess-Störungen jedenfalls diagnostiziert unter Mädchen längst eine "Massenpsychose". Und auch die erwachsenen Frauen werden immer dünner - zumindest auf dem Fernsehschirm. Kein Zweifel: Die Hungersucht ist eine Frauen-Epidemie - und es muss schleunigst gehandelt werden.

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EMMA Kampagne Essstörungen

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