Über alle Grenzen hinweg

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Die Kanzlei von Linda Weil-Curiel – ihr Cabinet, wie es gediegen auf Französisch heißt – liegt an einer ­Pariser Top-Adresse: im Herzen von Saint Germain über dem berühmten Café „Les Deux ­Magots“. An den Decken werfen Kronleuchter ihr ehrwürdiges Licht auf lederne Bucheinbände und den antiken Holzschreibtisch von Madame. Auf der anderen Seite des Möbels sitzt an diesem Tag eine Frau, die wirkt, als sei sie in diese Szenerie gebeamt worden.

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Sie trägt eine dicke Brille in ihrem ernsten schwarzen Gesicht, das eng von einem weißen Hijab umrahmt wird. Gekleidet ist sie in einen schillernden afrikanischen Boubou. Die Frau ist um die sechzig und soeben nach fünf Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen worden. Aber sie ist keine Klientin von Maître Weil-Curiel. Im Gegenteil: Die Pariser Anwältin ist diejenige, die die Frau aus Mali im ­August 1999 hinter Gitter gebracht hat.

Ausgerechnet diese beiden Frauen treffen sich nun in der Kanzlei, um immer wieder lange Gespräche miteinander zu führen. Denn Linda Weil-Curiel, die seit Anfang der 80er beharrlich gegen die Genitalverstümmelung kämpft und 1983 ihre „Commission pour l’abolition des mutiliations ­sexuelles“ (CAMS) gründete, interessiert sich für das Leben und die Beweggründe der Beschneiderin. Und Hawa Gréou, die zwischen 1983 und 1994 mindestens 48 Mädchen Klitoris und Schamlippen entfernt hat will erklären, warum sie inzwischen findet, „dass wir mit dieser Tradition aufhören müssen“. Aus diesen Gesprächen wird ein wahrhaft sensationelles Buch entstehen: „L’exciseuse“ – Die Beschneiderin.

Der Prozess, in dem Hawa Gréou verurteilt wurde, hat in Frankreich Geschichte ­gemacht und ging um die Welt: Zum ersten Mal, nachdem die französische Justiz in den 80er Jahren begann, Eltern vor Gericht zu stellen, die ihre Töchter an den Genitalien verstümmeln ließen, wird nun, Ende der 90er Jahre, eine Beschneiderin zu einer Haftstrafe verurteilt. Weil-Curiel hatte die Frau vertreten, die sowohl ihre Eltern als auch die „exciseuse“ verklagt hatte: die Malinesin ­Mariatou, die an ihrem 18. Geburtstag ihr Elternhaus verlassen hatte, um bei der Polizei Schutz für sich und ihre Schwestern zu ­beantragen. Sie erklärt, dass sie vor ihrer Zwangsverheiratung geflüchtet ist. Sie berichtet auch, dass sie und ihre Schwestern als Kinder beschnitten worden sind.

Lange Zeit hatte Mariatou geglaubt, „dass man ‚das‘ mit allen Mädchen macht“. Im Sexualkundeunterricht in der Schule wird sie eines besseren belehrt. „Als die Lehrerin uns die weiblichen Sexualorgane erklärte, hat sie gesagt, dass man sie in einigen Ländern entfernt. Da habe ich sofort begriffen, dass mir das passiert war.“

Im Jahr 1999 sind die Zeiten vorbei, in denen die Ex-Kolonialmacht aus Angst vor Rassismus „tolerante“ Urteile fällt, in denen die „afrikanischen Bräuche“ milde mit Bewährungsstrafen geahndet werden. 16 Jahre nach Gründung der CAMS ist die Zeit nun reif, die Verstümmelungen als das anzuklagen und zu verurteilen, was sie sind: brutale Menschenrechtsverletzungen im Namen patriarchaler Tradition. Mariatou weiß das. Sie marschiert zum Jugendgericht. Und nennt den Namen der Frau, die das getan hat: Hawa Gréou.

Linda Weil-Curiel zögert nicht. Sie beschließt, nicht nur Mariatous Eltern, sondern auch die Beschneiderin zu verklagen. In den Prozessen, die die Anwältin bisher geführt hat, war es nie möglich gewesen, auch die jeweilige Beschneiderin vor Gericht zu stellen, denn die Eltern behaupteten stets, den Namen der Frau, die ihre Töchter verstümmelt hatte, nicht zu kennen. Man habe sie zufällig auf der Straße getroffen. Doch diesmal gibt es eine Zeugin.

Die Beschneiderin und die Anwältin begegnen sich zum ersten Mal im Gerichtsaal. Hawa Gréou erklärt das, was sie getan hat, mit ihren „Traditionen“. Damit, dass es einer Frau, die kein Verlangen habe, nun einmal leichter falle, ihrem Mann treu zu sein. Und dass die Beschneidung schließlich helfe, Schlimmeres zu verhüten: die Bestrafung der Frau wegen vorzeitigem Sex oder Ehebruch. Und stolz erklärt sie, dass sie selbst eine so kundige Beschneiderin sei, dass den Mädchen nichts passiere.

Linda Weil-Curiel berichtet von den Mädchen, die auf den Intensivstationen in Pariser Krankenhäusern verblutet sind. Von jenen, die ihre Eltern verklagt haben, nachdem sie begriffen hatten, was man ihnen angetan hat. Und sie erzählt von etwas, das Hawa Gréou nicht kennt, weil sie selbst als Kind verstümmelt wurde: Lust, und was es bedeutet, sie nie empfinden zu können.

Eigentlich müsste so etwas wie Hass aufkeimen zwischen den beiden Frauen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß. „Am Anfang“, sagt Hawa Gréou, deren Großvater im Ersten und deren Vater im Zweiten Weltkrieg für Frankreich gekämpft hatten, „habe ich geglaubt, dass dieser Prozess ­geführt wird, weil die Franzosen uns hassen. Sie haben ihre Kolonien errichtet, unsere Vorfahren haben im Krieg für sie ihr Leben riskiert, aber sie hassen die Schwarzen.“ Aber Linda Weil-Curiel belehrt sie eines besseren. Und zwar gerade, weil sie nicht bereit ist, eine Menschenrechtsverletzung, die von Schwarzen an einem schwarzen Mädchen begangen wird, weniger ernst zu nehmen als eine, die von Weißen an einem weißen Mädchen begangen wird.

Sie betreibt das Gegenteil von Rassismus und Protektionismus: Das ist ihre Art, der Malinesin Respekt zu zeigen. Die begreift. „Wir waren Gegnerinnen, keine Feindinnen“, sagt Hawa Gréou heute. Als die Beschneiderin damals hörte, wie die Anwältin in ihren Plädoyers „von den Opfern sprach, von den schrecklichen Folgen der Beschneidung und von den toten Kindern, da habe ich gesehen, dass du gute Gründe hattest“.

Die beiden Frauen sind heute per du miteinander. Hawa duzte Linda, als sie zum ersten Mal in das Cabinet in Saint Germain kam, weil sie die Ältere ist und ihr traditionell daher automatisch das Recht auf das du gebührt. Linda duzte zurück. Frau begegnet sich auf Augenhöhe: Die Tochter eines Anwalts aus großbürgerlichem Hause und die Tochter einer „forgeronne“, einer Schmiedin aus einer hoch ­geachteten Kaste. Das Wissen darum, wie man Messer, Mörser oder Hufeisen herstellt, wird von Generation zu Generation weitergegeben. Aber noch ein weiteres „Handwerk“ wird von Mutter zu Tochter vererbt: das Entfernen der Schamlippen und der Klitoris. Traditionsgemäß sind es die Schmiedinnen, die die Töchter ihres Lustorgans berauben. Wie das geht, lernt Hawa von ihrer Großmutter. Die alte Frau bringt ihrer Enkelin zunächst bei, welche Zauberformeln gesprochen werden müssen, um „die Mädchen zu beruhigen“. Zusammen mit ein paar Coca-Blättern reicht das für gewöhnlich bei den älteren, „die die Prozedur akzeptieren und wissen, dass sie Schande über ihre Familie bringen, wenn sie schreien. Die Kleineren aber muss man festhalten.“ Hawa ist sieben Jahre alt, als sie ihrer ersten Beschneidung beiwohnt. Mit 21, da ist die Koranschülerin Hawa schon seit sieben Jahren mit ihrem Cousin verheiratet, greift sie zum ersten Mal selbst zum Messer. Wann sie selbst verstümmelt wurde, sagt sie nicht. Die Frage nach diesem Ereignis ist die einzige, die sie nicht beantwortet. „Ich kann darüber nicht sprechen. Stell mir diese Frage nie wieder!“ verlangt sie.

Als ihr Mann Guerévé, Fabrikarbeiter bei Renault und französischer Staatsbürger, sie 1979 nach Paris holt, eilt der Beschneiderin ein guter Ruf voraus, auf den sie bis heute stolz ist. „Ich weiß von vielen Mädchen, die verblutet sind, aber mir ist das nie passiert. Bei mir wussten die Eltern, dass es keine Probleme geben würde.“ 15 Jahre lang stehen die Familien Schlange im Flur der Gréous, wie es 1984 eine Nachbarin anzeigt, die wegen der „schrecklichen Schreie der Kinder“ tagsüber das Haus verlässt. Sie kommen überwiegend aus Paris, aber auch aus anderen Städten in ganz Frankreich. Manchmal sind die Ehefrauen der afrikanischen Väter weiße Französinnen. Das Geld, das Hawa für die Verstümmelungen bekommt, gibt sie ihrem Mann. Der inzwischen eine weitere Frau geheiratet hat.

Etwa zur selben Zeit, als Hawa Gréou beginnt, ihr „Handwerk“ in Paris zu betreiben, nimmt Linda Weil-Curiel den Kampf dagegen auf. Sie ist zunächst allein auf weiter Flur. Als Mitte der 70er Jahre der Familiennachzug für Einwanderer erleichtert wird und auch afrikanische Ehefrauen und Töchter und mit ihnen der „Brauch“ Einzug in die Communitys hält, will man sich nicht dem Verdacht des Rassismus aussetzen. Auch nicht, als die ersten kleinen Mädchen mit schweren Verletzungen an den Genitalien in den Krankenhäusern auftauchen.

Am 13. Juli 1982 sorgt der Tod eines Babys erstmals für einen Skandal. Die drei Monate alte Bobo ist an den Schnitten verblutet. Der Vater hatte sich aus Angst vor den ­Behörden geweigert, das Mädchen in ein Krankenhaus zu bringen. Die Eltern bekommen sechs Monate auf Bewährung. Die Staatsanwaltschaft spricht von einem „kulturellen Problem“. Aber immerhin: „Die Presse hat sich zum ersten Mal mit dem Thema Genitalverstümmelung in Frankreich beschäftigt.“

Im Oktober 1982 wird Bintou im Krankenhaus Saint-Vincent-de-Paul eingeliefert. Das Baby, das viel Blut verloren hat, wird in letzter ­Minute gerettet. Der behandelnde Arzt gibt seinen Bericht an die Staatsanwaltschaft, die die Sache nicht weiter verfolgt. Sie will, so kurz nach dem Tod von Bobo, nicht noch einen Skandal. Ein Jahr später wird nach dem Tod von Mantessa aus Mali wieder nur eine Bewährungsstrafe verhängt. „Das war eine Katastrophe“, erinnert sich Weil-Curiel. Ein malinesischer Nachbar erzählt der Anwältin, „dass seine Landsleute den Prozess mit Spannung verfolgt hatten. Und als sie sahen, wie die Eltern nach der Urteilsverkündung frei aus dem Gericht spazierten, weil die Strafe zur Bewährung ausgesetzt worden war, jubelten sie. Die Familie sei also für unschuldig ­befunden worden, weil man in Frankreich Verständnis für ihre Bräuche habe.“

Jetzt reicht es der Anwältin. Dank des französischen Verbandsklagerechtes – das Verbänden und Organisationen seit 1981 erlaubt, gemeinsam mit dem Opfer eines Verbrechens zu klagen – stehen Weil-Curiel und ihre CAMS von nun an als Nebenklägerin­nnen an der Seite der Töchter. Es wird allerdings noch zwölf Jahre dauern bis ein französisches ­Gericht es wagt, eine Gefängnisstrafe ohne Bewährung zu verhängen. Bezeichnenderweise stammt eine der Richterinnen in dem Prozess gegen eine Mutter aus Gambia selbst aus dem Benin. Hilfreich ist auch, dass die Präsidentin der Association femmes interculturelles, ­Madina Diallo, auf die Frage eines Journalisten, ob sie als Afrikanerin dieses Urteil nicht skandalös fände, antwortet: „Skandalös ist, dass diese Mädchen verstümmelt werden.“

Das sieht heute auch Hawa Gréou so. Es kommt immer noch vor, dass eine Familie sie um die Beschneidung ihrer Töchter bittet. „‚Du bist Schmiedin, du schuldest uns diesen Dienst‘, sagen die Leute zu mir.“ Dann erklärt Hawa Gréou, dass die Beschneidung in Wahrheit eine Verstümmelung ist. Dass sie schmerzhaft und gefährlich ist. Das hat sie auch ihrem Mann gesagt, der sie – verärgert darüber, dass sie ihm nun kein Geld mehr bringt – zurück nach Mali schicken will. Und der sich inzwischen eine dritte Frau genommen hat. Hawa Gréou klagt jetzt gegen ihn. Ihre Anwältin ist Linda Weil-Curiel.

Natacha Henry/Linda Weil-Curiel: Exciseuse (City Editions, 16 €), www.cams-fgm.org

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