Für sie ist Religion Privatsache!

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Auf dem Breitscheidplatz in Berlin- Charlottenburg bietet sich den PassantInnen an diesem Tag ein ungewöhnliches Bild: Ein Dutzend tür­kischer Frauen in weißen Blusen und mit rosa Schals um den Hals verteilen lächelnd das Grundgesetz, diskutieren, fragen nach, hören zu.

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fraINfra prangt in großen Buchstaben auf dem Schild über ihrem Info-Tisch, die Abkürzung für die „Frankfurter Initiative progressiver Frauen“. Das ist ein loses Netzwerk aus rund 180 meist türkischstämmigen Unternehmerinnen, Managerinnen oder Juristinnen, die in erster oder zweiter ­Generation in Deutschland leben.

Was die Initiatorinnen von fraINfra seit zwei Jahren eint, ist das steigende­ Unbehagen über den wuchernden Stellenwert von Religion in allen gesellschaftlichen Bereichen. Was die Frauen stört ist, dass „die Türkinnen“ immer alle in einen Topf geworfen werden. Unverschleierte, emanzipierte Frauen, wie sie es sind, kommen in der ganzen Integrationsdebatte nicht vor. „Wir sind aufgeklärte Musliminnen oder Atheistinnen“, sagt Sunay Capkan. „Wir leben hier, sind friedlich, gehen unauffällig unseren Pflichten nach, ziehen unsere ­Kinder groß und sind tolle Nachbarinnen.“

Sunay Capkan ist eine von 20 Gründerinnen der Initiative, sie hat sich die Aktion mit den Grundgesetzen ausgedacht. Berlin ist die dritte Station, an der die Frauen von fraINfra ihren Tisch aufbauen. Terre des Femmes ist diesmal auch dabei.

So hat alles angefangen: Als im April die ­islamistischen Salafisten den Koran verteilten und christliche Organisationen mit der Bibel nachzogen, hatte Sunay Capkan die Nase voll. Sie setzte sich an ihren Computer und verfasste eine E-Mail an ihre Mitstreiterinnen von ­fraINfra. Betreff: „Die deutsche Gesellschaft dreht durch!“ Der Plan: „Lasst uns das Grundgesetz verteilen!“

Als die Frankfurter Initiative daraufhin 2000 Grundgesetze bei der Bundeszentrale für Politische Bildung bestellte, war den Frauen selbst nicht klar, dass sie damit den Grundstein für eine deutschlandweite ­Aktion für Frauenrechte legten.

Capkan ist 45 Jahre alt, erfolgreiche Headhunterin und Mutter von zwei Töchtern. Als ihre Eltern aus der Türkei nach Deutschland zogen, war sie zehn Jahre alt. Seither hat sie sich ihren Weg in die deutsche Gesellschaft erkämpft. Capkan: „Den Koran habe ich noch nie gelesen. Und die Suren, die die Salafisten interpretieren, interessieren mich nicht! Für mich ist Religion Privatsache.“

Die erste Grundgesetz-Aktion fand im Juni in Frankfurt statt, mitten in der Stadt vor der Frankfurter Hauptwache. Es dauerte nur zwei Stunden, da waren schon 850 Grundgesetze verteilt. Eine junge Frau aus Somalia griff danach und erzählte von den Vorurteilen, unter denen sie ­leidet. Eine ältere Frau aus dem ehema­ligen Jugoslawien war den Tränen nahe, weil sie nicht begreifen konnte, warum Religion plötzlich wichtiger sein soll als Gleich­berechtigung und Demokratie.

„Wir haben an diesem Tag in Frankfurt verstanden, dass sich viele ein stärkeres Engagement von uns wünschen“, sagt Zeliha Dikmen, 47, auch Gründungs­mitglied. Als Zeliha mit acht Jahren aus der Türkei nach Deutschland kam, hat ihr eine Lehrerin von der Frauenbewegung erzählt und sie immer wieder ermutigt, ihren eigenen Weg zu gehen. „Ohne sie hätte ich bei meinen sprachlichen Problemen nie den Schritt von der Hauptschule aufs Gymnasium geschafft.“ Heute ist Dikmen Informatikerin. „Frauen wie Alice Schwarzer haben unsere Rechte erkämpft“, sagt sie. „Wir sollten uns nicht auf diesen ­Lorbeeren ausruhen und tatenlos zusehen, wie sie wieder beschnitten werden.“

An dem Tag, an dem die Frauen in Frankfurt das erste Mal ihren Info-Tisch aufbauten, trafen sich 200 Kilometer weiter in Köln auch die Salafisten um Prediger Pierre Vogel zum „1. Islamischen Friedenskongress“. Tausend Teilnehmer waren angekündigt, 300 kamen. Die rechte Bürgerbewegung ProNRW trommelte zur Gegendemo. Die erwarteten Ausschreitungen blieben aus. Zwischen diese Fronten wollen Capkan, Dikmen und ihre Mitstreiterinnen nicht geraten. fraINfra sucht Gleichgesinnte, Frauen wie Männer.

Als Dikmen und Capkan an diesem Abend die Berichterstattung über die Islamisten in Köln in den Nachrichten verfolgten, wurden fraINfra nicht einmal erwähnt. „Da verteilen 25 unverschleierte Migrantinnen das Grundgesetz, die Menschen sind begeistert – aber in den Nachrichten sehe ich wieder nur die Salafisten und ProNRW“, ärgerte sich Capkan.

Vier Wochen später gingen die Frauen in die zweite Runde. Diesmal in Köln auf dem Wallrafplatz, EMMA war auch dabei. Es dauerte wieder nur wenige Stunden bis tausend weitere Grundge­setze verteilt waren. Mädchengruppen, Mütter mit Kinderwagen und Frauen mit Hijab blieben an dem Tisch von fraINfra stehen und kamen mit den Deutsch-Türkinnen ins Gespräch.

Ihre Aktionen knüpft die Gruppe aus Frankfurt an konkrete Forderungen. Das Kopftuchverbot an Schulen ist eine davon. „Wo bleibt denn sonst das Grundrecht der freien Entfaltung für das Kind?“ fragt Dikmen. Dazu gehört auch, an den Schulen gemeinsame Religionskunde für alle anzubieten, anstatt die SchülerInnen zu trennen. „Die verlieren doch sonst das Wir-Gefühl“, erklärt Capkan.

Rund 3000 Grundgesetze hat fraINfra in drei Städten verteilt. Klar werden die Frauen auch kritisiert, besonders von streng gläubigen Musliminnen. Aber damit haben sie gerechnet. Doch mindestens genau so viel Kritik bekommen sie von Deutschen. Verheiratet mit einem deutschen Mann gerät Sunay Capkan regelmäßig in Debatten mit den Schwiegereltern; darüber warum Religion Privatsache sei und was eine Trennung von Kirche und Staat eigentlich bedeute. Das muss die Deutsch-Türkin dann den Deutschen erklären.

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