Hamm-Brücher: Ein weiter Weg

Hildegard Hamm-Brücher (re) 2009 bei der Feier zum 90. Jahrestag des Frauenwahlrechts. © Imago/ Metodi Popow
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Natürlich wäre dieser Mensch schon längst Chef seiner Partei oder Präsident unseres Landes - wenn der Mensch nicht eine Menschin wäre. Denn Hildegard Hamm-Brücher, 72, ist seit Bestehen der Bundesrepublik eine ihrer charaktervollsten, integersten und erfahrensten politischen Persönlichkeiten. Männer wie Genscher oder gar Kinkel sind Federgewichte gegen dieses Kaliber. Genau deswegen können sie sie vor Augen nicht sehen. Genschers Feindseligkeit gegen diese Frau - und nicht nur gegen diese! - ist spätestens seit dem putschartigen Wechsel der FDP von der SPD- zur CDU-Koalition Legende.

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Damals, am 1. Oktober 1982, musste das Wahlvolk fassungslos zusehen, wie die für eine sozialliberale Koalition gewählte FDP mitten in der Legislaturperiode mit fliegenden Fahnen vom Kanzler Schmidt zum Kanzler Kohl wechselte. Da war Hildegard Hamm-Brücher eine der ganz wenigen, die öffentlich die eigene Partei kritisierte. Für sie verletzten Genschers Ränkespiele um die Macht am Rhein schlicht die "demokratische Grundfrage". Was sie für die Herren an der Macht endgültig zur "blauäugigen Idealistin" degradierte, für das Wahlvolk aber zur einzig Aufrechten machte.

Für die Herren an der Macht war sie eine "blauäugige Idealistin"

Sogar ein CSU-Mann gratulierte ihr damals und rief ihr in dieser schweren Stunde zu: "Nimm nichts zurück! Das war das Wichtigste, was du in deinem ganzen politischen Leben getan hast." Der CSU-Mann heißt Erwin Hamm, war Münchener Stadtrat für Soziales und ist Vater der zwei längst erwachsenen Kinder von Hamm-Brücher. Der bayerische Katholik hatte das Fräulein Brücher, diese "höchst erfreuliche Erscheinung", 1948 als frischgebackene Lokalpolitikerin in München kennengelernt: "Frisch strahlend, unverbraucht blickte sie lächelnd in alle Gesichter und verbreitete überall gute Laune. Ihre zupackende Art ließ sie überall mit anfassen, sogar beim Reparieren zerstörter Schuldächer." Was Kennerinnen nicht erstaunt: die zur "grande dame der Liberalen" stilisierte promovierte Chemikerin hatte immer auch diese burschikose Seite, war verhinderte Pfadfinderin, süddeutsche Kraulmeisterin und stolze Besitzerin eines Baumhauses.

Wie das zusammengeht, eine Liberale und ein CSU-Mann? Das wichtigste, sagt Hildegard Hamm-Brücher, war für mich, dass er ein entschiedener Antifaschist war. Mit gutem Grund. Denn für die damals 25-Jährige war der 8. Mai 1945 wirklich ein Tag der Befreiung: Befreiung von einem Alptraum. Die in Essen geborene Großbürgerstochter hatte früh die Eltern verloren und kam, zusammen mit vier Geschwistern, zur Großmutter Else Pick nach Dresden. Für die Nazis war die Großmutter eine Jüdin, nach ihrem eigenen Verständnis war die Tochter emanzipierter, konvertierter Juden und Witwe eines deutschen Offiziers eine deutsche Protestantin und Patriotin. Else Pick konnte es kaum fassen und informierte ihre Enkel erst spät über die Gefahr, in der sie als "Halbjuden" schwebten. Alle Kinder überlebten. Aber die so lebenslustige und stolze Else Pick flüchtete vor der drohenden Deportation nach Theresienstadt in den Tod. Seit die Kandidatur ihrer Enkelin bekannt ist, bekommt sie wieder einschlägige Anrufe und Briefe: "Du alte Judensau! Du wirst niemals Bundespräsidentin der Deutschen!"

Aus den dunklen Jahren zog Hildegard Brücher Konsequenzen: sie setzt auf Aufklärung und Bildung. Als Politikerin wie als Journalistin stand sie schon in den muffigen 50er und 60er Jahren an der Spitze der heftig umstrittenen Bildungsreformer: gegen Klassensysteme und für das Recht auf Bildung für alle, für genügend Kindergärten und Gesamtschulen. Es trifft wohl zu, dass sie eine Idealistin ist - doch wie erleichternd ist ihr Anblick neben den zynischen Dealern der Macht.

Hildegard Hamm-Brücher verkörpert genau das, was uns jetzt so not tut: ein Stück deutscher Geschichte. Und genau das hat sie sensibler gemacht als die meisten von uns.

Sie setzt auf Aufklärung
und Bildung

So klingt ihre 1969 in Hessen gegen selbstgerechte APO-Exzesse gehaltene Rede vor dem Hintergrund der jüngeren politischen Entwicklungen wahrhaft prophetisch. Die damalige Staatssekretärin im Kultusministerium hellsichtig: "In den Methoden dieser 'aktionistischen Irrläufer' fällt der rote Apfel nicht weit vom braunen Stamm der Väter: der gleiche Totalitätsanspruch und die gleiche totale politische Dämonisierung; die gleiche schonungslose Intoleranz gegen politisch Andersdenkende, der gleiche ideologisch aufgeheizte Fanatismus - diesmal nicht nationalsozialistischer, sondern internationalsozialistischer Ausprägung."

Nein, daran kann eine wie sie nicht mehr glauben: an die Revolution weniger im Namen vieler. Die Antifaschistin und Liberale setzt auf Demokratisierung durch Veränderung der Menschen - statt durch einfache Umkehrung der Machtverhältnisse. Und die Geschichte gibt ihr recht. Denn die Häuptlinge sind Häuptlinge, egal ob braun, rot oder schwarz.

Auch die aktuellen Häuptlinge werden einen Menschen wie Hildegard Hamm-Brücher niemals zur Präsidentin küren. Das halten die gar nicht aus. Die passt denen einfach nicht - schon weil so eine Frau ihnen überlegen ist.
 

Das Porträt erschien in EMMA 6/1993.

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Giusi Nicolini: Die Mahnerin

Giusi Nicolini, Bürgermeisterin von Lampedusa.
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Für Giusi Nicolini ist jeden Tag Weltflüchtlingstag. Die Bürgermeisterin von Lampedusa war gerade fünf Monate im Amt, als am 7. September 2012 vor der Küste der italienischen Mittelmeer-Insel ein Flüchtlingsboot sank. 21 Menschen starben.

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Die Menschen sind Opfer der europäischen Abschottungs-
​politik

Seitdem hört die Bürgermeisterin nicht auf, in Brüssel eine andere Flüchtlingspolitik anzumahnen. „Wir in Lampedusa sind der Meinung, dass die Menschen nicht Opfer des Meeres sind, sondern Opfer der europäischen Abschottungspolitik“, sagt sie. „Ich bin mehr und mehr überzeugt, dass die europäische Einwanderungspolitik den Tod dieser Menschen in Kauf nimmt, um die Flüchtlingsströme einzudämmen. Vielleicht betrachtet sie sie sogar als Abschreckung.“

Während Brüssel die streitbare Bürgermeisterin zu Beginn ihrer Amtszeit noch ignorierte, ist Nicolini inzwischen zu einer unüberhörbaren Stimme für die Flüchtlinge geworden. Wie hat sie das geschafft?

Das ganze Porträt in der EMMA Juli/August 2015, ab 25. Juni im Handel.

 

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