Indien: Auch Frauen sind Menschen

© Subhendu Ghosh/Hindustan Times/ Getty Images
Artikel teilen

Ausgerechnet Indien hat eine Debatte ausgelöst, auf die viele Frauen seit langem warten. Denn betroffen sind ja nicht nur 500 Millionen Inderinnen, sondern Frauen überall. Sexuelle Gewalt ist Tages­gespräch. Denn Delhi ist überall. Es gibt kaum eine Frau, die nicht berichten kann, dass sie belästigt, geschlagen oder missbraucht worden ist. Weltweit sterben mehr Frauen im Alter zwischen 15 und 44 an den Folgen sexueller Gewalt als an Krebs.

Anzeige

Indien gilt als das drittgefährlichste Land für Frauen, nach Afghanistan und dem Kongo. Im Haus und auf der Straße, überall droht Lebensgefahr. Chili-Pulver ist ausverkauft; eine rechtsradikale Partei bewaffnet ihre Wählerinnen mit Messern; eine Freundin, Unternehmerin und Mutter zweier erwachsener Kinder, geht nur noch mit Revolver aus dem Haus.

Wie privilegiert sind wir hierzulande, dass wir Frauen uns meist noch unbeschadet auf den Straßen unserer Städte bewegen können. Doch machen wir uns nichts vor. Auch in Indien war das einmal so. Seit der Unabhängigkeit im Jahre 1947 ist die Zahl der Vergewaltigungen um fast 1.000 Prozent gestiegen. Der friedliche Mahatma Gandhi war ein Betriebsunfall. In Indien ist er fast vergessen. Denn dieses Land ist eines der gewalttätigsten der Welt. Seit Jahrtausenden geht es immer nur um eines: die alte Ordnung mit Gewalt wiederherzustellen, die Ordnung der Kasten und der Männerdominanz.

Da war es keine Überraschung, dass der Staat nach der Vergewaltigung der 23-jährigen Jyoti Singh Pandey die jungen Demonstrierenden in Delhi erst einmal in die Nähe von Terroristen rückte und sie ­gnadenlos niederknüppeln ließ. Die alte, verrottete Ordnung begreift noch immer nicht, dass die junge Generation ein anderes, ein neues Indien will. Doch solange es nur noch um den Erhalt von Männermacht und Männerprivilegien geht, solange es für Frauen keine Freiheit gibt, keine Gerechtigkeit, kein gleiches Recht und keine Sicherheit, solange die Hälfte der ­Bevölkerung in Furcht vor grenzenloser Gewalt lebt, wird es niemals ein modernes Indien mit Zukunft geben.

Massenvergewaltigungen waren und sind in Indien an der Tagesordnung. Aber offenbar war das bestialische Geschehen in Delhi für den Polizeichef ein „Kollateralschaden“, der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Deshalb sind die jungen Leute weiter dabei mit ihren Protesten, demonstrieren gegen die Diskriminierung von Frauen, gegen die Apathie des Staates und für Menschenrechte. Die sozialen Netzwerke von Twitter und Facebook haben auch in Indien die Demonstrationskultur verändert. Dies ist zwar keine Arabellion, aber doch eine Kampf­ansage an das Establishment. „Genug ist genug“, das schreien wütend auch die vielen jungen Männer, die zum allerersten Mal Frauenrechte zu ihrem eigenen Thema machen. Unerwartet seriös berichten die Medien mit wachsender Empörung über den windelweichen Staat. Eine landesweite Bewegung ist entstanden und das Bewusstsein, dass „people’s power“ Wandel schaffen kann.

„SOS – Save our Sisters“ fordern die demonstrierenden Frauen auf ihren Plakaten und fragen anklagend: „Soll dies mein Land sein, das mich nicht leben lässt?“ Hunderttausenden Mädchen wird jedes Jahr das Recht genommen, überhaupt geboren zu werden, der Ultraschall macht’s möglich. Hunderttausende Mädchen werden gleich nach der Geburt erstickt, vergiftet, erwürgt – von ihren eigenen Müttern. Sie machen sich zu Komplizinnen der Männer in der Hoffnung auf ein klein wenig Anerkennung und helfen, das pa­triarchalische System aufrechtzuerhalten. Mädchenmord ist nach Hindu-Auffassung schließlich nichts Verwerfliches, weil ein Kind erst nach einem rituellen Bad ein Mensch wird. Von den zwei Millionen Kleinkindern, die jedes Jahr sterben, sind Zweidrittel Mädchen. Grund: die Götzenverehrung ihrer Brüder. Mädchen bekommen zu wenig zu essen, zu wenig medizinische Versorgung, zu wenig Fürsorge.

Warum? Weil Mädchen und Frauen nichts wert sind, nutzlose Parasiten nur und eine Last, die bloß vorübergehend zur ­Familie gehören und die man nur unter ­Bezahlung einer heftigen Mitgift los wird. Das ist zwar, wie auch die Abtreibung weiblicher Föten, verboten, aber was soll’s. Frauen werden mit der Heirat Besitz des Ehemannes und seiner Familie, sie verlieren ihre alte Identität, denn sie müssen einen neuen Namen annehmen. Eine Scheidung ist so gut wie unmöglich. Wenn der, häufig viel ältere, Mann stirbt, jagt man die Witwe als Unglücksbringerin aus dem Haus oder setzt sie irgendwo am Ganges aus.

Da verbringt sie, in einen schmutzig-weißen Sari gehüllt, auf den Tempeltreppen bettelnd ihre Tage und als Besitz der Priester ihre Nächte. Jeder Hindu-Priester erklärt es gerne: Eine Frau ist ein Objekt, das erst als Mann wiedergeboren werden muss, um ins Nirwana zu kommen; während ein Mann nie so tief fallen kann, dass er als Frau wiedergeboren wird. Eher wird er ein Wurm.

Zwei Millionen Frauen fehlen pro Jahr in Indien, auf 1.000 Männer kommen nur noch 914 Frauen, in den überdurchschnittlich wohlhabenden Staaten Haryana und Punjab nördlich von Delhi sind es sogar nur noch 860. Immer öfter muss eine Frau allen männlichen Mitgliedern der Großfamilie auch sexuell zur Verfügung stehen. Indien ist das Zentrum von Pornografie und Menschenhandel, der größte Sklavenbazar für minderjährige Mädchen. Für ein paar Rupien werden diese wertlosen Dinger von ihren Eltern verkauft: als zu missbrauchende Arbeitstiere in die Haushalte, als Schwerstarbeiterinnen auf die Baustellen, als Organspender und Drogenkuriere an die Mafia, vor allem aber in die Prostitution. Zwei Millionen Kinderprostituierte gibt es nach konservativen Schätzungen in Indien, die jüngsten sind keine zwei Jahre alt. Über ein Drittel der Kinderbräute auf der Erde sind indische Mädchen, ein Drittel aller Inderinnen werden im Alter zwischen 10 und 15 Jahren verheiratet, gefragt werden sie nicht.

10.000 Frauen werden jeden Monat umgebracht, weil sie nicht genügend Mitgift mit in die Ehe gebracht haben. Sie werden mit Kerosin übergossen und angezündet – ein Küchenunfall! – oder man hängt sie einfach auf. 125.000 Frauen sterben jährlich an den Folgen häuslicher Gewalt. Die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher liegen. Indische Frauenverbände schätzen, dass jede Minute eine Frau, meistens eine sehr junge, vergewaltigt wird, die Vergewaltigung in der Ehe, die in Indien kein Straftatbestand ist, nicht mitgezählt.

Doch für viele indische Männer ist das alles kein Grund zur Beunruhigung. Schließlich beschreibt schon das Nationalepos Ramayana genüsslich, wie die Prinzen mit Lust Frauen demütigen und erniedrigen. Vedischen Schriften wie die Brihadarankya Upanishad geben sogar Anweisung, wie Frauen zu behandeln sind: „Wenn die Frau mit ihrer Periode durch ist und saubere Kleider angezogen hat, fordere sie zum Sex auf. Sollte sie sich weigern, schlage sie mit einem Stock oder mit der Faust und vergewaltige sie mit deiner männ­lichen Herrlichkeit.“

Ich selbst kann nach 20 Jahren als Korrespondentin ein Lied davon singen, wie es einer Frau besonders im Norden von Indien geht, ständig von Männern mit den Blicken ausgezogen, begrapscht und verfolgt zu werden. Ein Bambusknüppel war mein ständiger Begleiter und wurde häufig eingesetzt. Als eine Gruppe von Männern versuchte, mich mitten in Delhi in eindeutiger Absicht in eine dunkle Ecke des ­Connaught Circle zu drängen, bin ich nur deshalb davongekommen, weil ich den Anführer überraschend angriff und ihm die Nase blutig schlug. Aber welche indische Frau, deren Sozialisation darin besteht, untertänig und schweigend alles hinzunehmen, traut sich das schon?

Immerhin, Selbstverteidigungskurse werden nun in den Städten gut besucht. Aber was geschieht auf dem Land, dort wo die größte Gewalt gegenüber Frauen herrscht, in den 60.000 Dörfern, wo Zweidrittel der Bevölkerung leben, die noch fest in den verkrusteten, patriarchalischen Strukturen verhaftet sind? Dort, wo ein Angehöriger einer höheren Kaste es als sein selbstverständliches Recht ansieht, eine Frau, besonders eine niedrigkastigere oder, wie so oft, eine kastenlose zu vergewaltigen. Einfach, weil er Lust drauf hat, weil er ihr zeigen will, wo ihr Platz ist, oder weil er ihr, ihrem Mann oder ihrer Familie „eine Lektion“ erteilen will.

Denn eine vergewaltigte Frau ist für ihren Mann und ihre Familie wertlos geworden. Nicht ihre, sondern die Ehre des Mannes ist ja beschmutzt. Deshalb ist es für die Vergewaltigte das Beste, wenn sie sich umbringt oder vom Vergewaltiger umgebracht wird. So wie die junge Frau, die im Januar von mehreren Männern so lange missbraucht wurde, bis sie tot war und die dann einfach am nächsten Baum aufgehängt wurde. Auch die sechs Männer aus dem Slum in Delhi, die in einem fahrenden Bus die Studentin vergewaltigten, weil sie gerade Lust darauf hatten, gehören einer hohen Kaste an.

Es war ausgerechnet der Oberste Richter des Landes, ein Muslim, der darauf hinwies, dass bei einer Vergewaltigung nicht nur der Körper, sondern auch die Seele einer Frau beschädigt wird. Der Präsident Indiens dagegen, der zwar bei seiner Rede zum Nationalfeiertag das Verbrechen von Delhi erwähnte, beschwor abermals den Mythos der angeblich allseits verehrten indischen Frau und verkündete schwammig: „Jetzt ist die Zeit gekommen sicherzustellen, dass die Gleichheit der Geschlechter Wirklichkeit wird.“

Aber wie will man einen Bewusstseinswandel in einem Land mit 1,3 Milliarden Menschen schaffen, das sich in einer 5.000-jährigen frauenverachtenden Tradition eingerichtet hat? Auch im Parlament sitzen lauter alte Männer, deren Wähler die dörf­lichen Massen sind, die kaum an einer Befreiung der Frauen interessiert sind. Dass mächtige Mafia-Bosse, gegen die ein Verfahren wegen Vergewaltigung und Mord läuft, bei Wahlen aufgestellt werden, gilt als selbstverständlich. Dass Frauen wie Indira Gandhi in Indien, Benazir Bhutto in Pakistan, Sheikh Hasina und Khaleda Zia in Bangladesh oder Sirimavo Bandaranaike und ihre Tochter Chandrika Kumaratunge in Sri Lanka es ausgerechnet im frauenverachtenden Südasien in die höchsten Ämter schafften, hat nur damit zu tun, dass sie als Frauen, Witwen oder Töchter eines männlichen Vorgängers Karriere machten. Getan haben auch sie für die unterdrückte weib­liche Hälfte ihres Landes herzlich wenig.

Devaki Jain, heute fast 80 Jahre alt, ist eine der bekannten Feministinnen der 70er und 80er Jahre, die für Frauen die in der Verfassung festgeschriebenen Rechte einforderten und erste Gesetze im Sexualstrafrecht durchsetzten. Sie ist begeistert von dem jungen Gesicht Indiens, „das die ganze Regierungsmaschinerie dazu zwingt, angesichts des Verbrechens an einem unbekannten Mädchen endlich etwas für Frauenrechte zu tun.“ Völlig richtig sagt sie: „Dies ist eine noch nie dagewesene Chance für uns Frauen. Ich hoffe, sie wird genutzt.“ Denn mit Sorge verfolgte sie, wie die kämpferische Frauenbewegung ihrer Zeit mehr und mehr in der Versenkung verschwand. Auch weil die heutigen jungen Frauen glauben, sie nicht mehr zu brauchen; ein Phänomen, das auch in anderen Teilen der Welt zu beobachten ist. Die erfahrene Devaki Jain legt bei aller Begeisterung für die aufständische Jugend ihren Finger auf den wunden Punkt der neuen Bewegung: Es fehlt an Führungspersonal, an Koordination und Netzwerken.

Die Politik versucht unterdessen, sich mit geheucheltem Interesse zu profilieren. Schließlich finden 2014 Wahlen statt. Zehn Jahre lang hatte die Gesetzesvorlage zur Verschärfung des Sexualstrafrechts im Innenministerium vor sich hingeschmort. Aber nun geht es plötzlich Schlag auf Schlag. Anfang Februar wurde in großer Hast und offenbar in dem Bemühen, die aufgebrachte Öffentlichkeit zu beruhigen, das Strafrecht verschärft: 20 Jahre Mindeststrafe, statt bisher zehn, für Vergewaltigung, mit der Möglichkeit, auf die Todes­strafe zu erweitern, wenn das Opfer getötet wurde oder für immer ins Koma gefallen ist. Schnellgerichte für Vergewaltigungsfälle, die früher jahrelang liegenblieben, wenn sie überhaupt jemals verhandelt wurden. Strafen für Belästigung, Voyeurismus, Stalking, Säureattacken. Aber weiterhin nicht für die Vergewal­tigung in der Ehe, für vergewaltigende Polizisten und Soldaten. Groß ist auch die Empörung darüber, dass der sechste Vergewaltiger von Delhi, der Brutalste, wie die Polizei sagt, derjenige, der das Mädchen zweimal missbrauchte und ihm immer wieder eine Eisenstange in den ­Unterleib stieß, ja schließlich mit seinen Händen innere Organe herausriss, ehe er sie aus dem Bus warf, nach geltendem Jugendstrafrecht als Minderjähriger mit einer Höchststrafe von drei Jahren Heim davonkommt. Wenn er Glück hat, wird er sogar schon im Sommer, wenn er 18 wird, frei sein. Das gilt als „Rehabilitierungschance“.

Mehr weibliche Richter, mehr weibliche Polizei, das wird versprochen, eine ­Reform des völlig korrumpierten, sexistischen Polizeiapparats ist angekündigt. Beamte sollen lernen, dass sie Frauen schützen müssen, statt sie zu vergewaltigen, dass sie Anzeigen aufzunehmen haben, wenn Frauen Gewalt angetan wurde. Aber 181, die landesweit neu eingerichtete Hotline für bedrohte und missbrauchte Frauen, funktioniert nicht. Stattdessen werden Frauen an Nummern weiter verwiesen, die es überhaupt nicht gibt.

Viel wird darüber spekuliert, ob die Explosion der Gewalt in den Städten damit zu tun habe, dass hier der neue Turbokapitalismus auf 5.000-jährige Feudalstrukturen in den Dörfern der Außenbezirke und in den Slums trifft, wo eine wachsende Zahl arbeitsloser junger Männer ihre Klein-Dörfer eingerichtet haben. Diese Männer, so der indische Soziologe Dipankar Gupta, sehen, dass sie vom neuen Turbokapitalismus nicht profitieren und glauben, sich an den modernen jungen Frauen rächen zu müssen, weil sie ihnen angeblich jegliche Chance stehlen.

An diesen Überlegungen ist sicherlich etwas dran. Aber das eigentliche Problem ist das patriarchalische indische Dorf und die Frage: Wie schafft man dort einen Bewusstseinswandel? Die Schulen wären ein wichtiges Instrument. Aber wie es derzeit aussieht, sind sie nicht einmal in der Lage, den Kindern richtig Lesen und Schreiben beizubringen. Fernsehen und Bollywood könnten eine große Rolle spielen, wenn das eine ­Medium auf seine Heile-Welt-Serien und das andere auf die Darstellung von Gewaltorgien gegen Frauen verzichten würde.

Weil Männer auch in Indien kaum freiwillig auf ihre Privilegien verzichten werden, müssen Frauen die Sache in die Hand nehmen; Frauen, die gebildet und über ihre Rechte aufgeklärt sind; Frauen, die Führerqualitäten haben. Deshalb unterstütze ich zum Beispiel seit fast 20 Jahren einen indischen Nonnenorden, der genau solche Frauen, und zwar aus den am meisten benachteiligten Schichten, ausbildet. Unser neuestes Projekt heißt Anugraha, ein Heim für Mädchen aus weit abgelegenen Dörfern, die nach ihrem „empowerment“ gestählt in die Selbstständigkeit eines Berufs oder in ihre Dörfer entlassen werden und beginnen, ihre Umwelt zu verändern.

Die Autorin Gabriele Venzky war 20 Jahre lang Asien-Korrespondentin der Zeit mit Sitz in Indien. Sie ist Mitbegründerin von „LIFT e.V. – Zukunft für indische Mädchen“. Der Verein unterstützt das Heim Anugraha, wo Mädchen Schutz finden und Bildung. www.liftindien.de – Spenden an LIFT: Konto 1009 300 003, Haspa Hamburg, BLZ 200 505 50 (Name und Adresse für Spendenquittung angeben).

Artikel teilen
 
Zur Startseite