Irak: Girl-Blog aus dem Irak

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Sie nennt sich Riverbend, ist 24 Jahre alt und lebt in Bagdad. Irgendwann hat sie mal so gelebt wie die Girls in Europa oder Amerika. Wie jetzt ihr Alltag aussieht, erzählt sie in diesem Tagebuch.

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Sonntag, 17. August 2003

Der Anfang …
Das ist dann wohl der Anfang … Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal meinen eigenen Weblog

starten würde. Jedesmal, wenn ich drauf und dran war, es zu tun, kam mir die Frage in den Sinn: „Aber wer wird das lesen?“ Ich glaube, ich habe nichts zu verlieren. Ich warne euch – macht euch auf eine Menge Gejammer und Geschwafel gefasst. Eigentlich hatte ich nach einem rantlog gesucht, aber das hier war das Beste, was Google im Angebot hatte.
Ich bin weiblich und 24 Jahre alt. Ich habe den Krieg überlebt. Mehr braucht ihr nicht zu wissen. Außerdem ist das sowieso das einzige, was in diesen Tagen noch zählt.

Montag, 18. August 2003
Wieder ein Tag
War ein ganz normaler Tag heute. Wir sind sehr früh aufgestanden und haben den üblichen Haushaltskram erledigt, ihr wisst schon – nachsehen, ob der Wassertank voll ist, herausfinden, wann der Strom wohl ausfallen wird, nachsehen, ob noch genug Gas zum Kochen da ist …
Wisst ihr, was mich beim Schreiben im Internet, in den Chatrooms und Foren, wirklich nervt? Die erste Reaktion (meistens von Amerikanern) ist: „Du lügst, du bist keine Irakerin.“ Und warum bin ich keine Irakerin? Ganz einfach. Erstens: Ich habe Zugang zum Internet (Iraker haben kein Internet). Zweitens: Ich kann damit umgehen (Iraker wissen nicht, was ein Computer ist). Drittens: Ich muss Ausländerin sein (Iraker sprechen kein Englisch). Das soll mich nicht stören, aber es stört mich doch. Ich sehe die Armee in den Straßen und denke: „So ein Bild hatten sie von uns, bevor sie unser Land besetzt haben … und vielleicht haben sie es immer noch?“ Wie kommt es, dass man uns für ein zweites Afghanistan hält?

Mittwoch, 19. August 2003
Ich bin müde
Wie ist es möglich, müde aufzuwachen? Albträume, Ängste … Ich fühle mich, als hätte ich im Schlaf gekämpft und dabei immer auf den Lärm von Schüssen oder Panzern gelauscht. Ich bin heute so müde. Nicht die Sorte ‚müde‘, bei der man einfach nur Schlaf braucht – es ist die Sorte, bei der man am liebsten dichtmachen würde … auf standby bleiben, sozusagen. Ich glaube, in letzter Zeit wollen das alle.
Heute wurde ein Kind in Anbar getötet, einer Kommandatur nordwestlich von Bagdad. Der Junge hieß Omar Jassim, und er war nicht älter als zehn oder elf. Hat irgendjemand davon gehört? Ist es überhaupt noch von Bedeutung? Zeigen sie das auf Fox News oder CNN? Er kam während einer Razzia der Amerikaner ums Leben – keiner weiß, warum. Seine Familie ist am Boden zerstört. Sie haben nichts aus dem Haus mitgenommen, weil es da nichts mitzunehmen gab. Es war bloß eine Razzia.
Die Leute haben vor diesen Razzien schreckliche Angst. Man weiß nie, was passiert – wer falsch reagiert, wer erschossen wird – worin diese falsche Reaktion bestehen könnte. Es werden auch Sachen gestohlen – Gold, Uhren, Dollar. Ich will damit nicht behaupten, ALLE Soldaten würden stehlen. Das wäre unfair. Genausogut könnte man sagen, alle Iraker wären als Plünderer unterwegs. Aber es ist wirklich schwierig, wenn man sich ständig über Plünderer, Mörder, Gangs und Milizen Gedanken machen muss, und jetzt auch noch über amerikanische Soldaten.
Ich weiß, ich weiß … jetzt sagt ihr bestimmt: „Ihr undankbaren Iraker! Die machen das für EUCH … die Razzien sind für EUCH!“ Aber in Wahrheit wird mit den Razzien nur eins erreicht: Sie erinnern uns immer wieder daran, dass wir unter Besatzung leben, dass wir nicht unabhängig sind, nicht frei. Wir sind nicht befreit. Nicht mal in unseren eigenen Häusern sind wir sicher. Alles gehört jetzt den anderen.
Ich kann mir die Zukunft im Moment nicht vorstellen, vielleicht will ich das auch gar nicht. Vielleicht verdrängen wir sie, wie eine böse Vorahnung. Irgendwann wird sie uns aber einholen. In diesem Moment erleben wir die Zukunft, die wir uns vor sechs Monaten nicht vorstellen konnten. Ein Albtraum. Ich wünschte, sie würden einfach das Öl nehmen und verschwinden …

Freitag, 22. August 2003
Um etwas klarzustellen
Mein Vorschlag? Holt UN-Friedenstruppen ins Land und zieht die amerikanischen Soldaten ab. Lasst die Leute selbst entscheiden, wer sie repräsentiert. Lasst Iraker in den Regierungsrat, die die Sanktionen und die Kriege vor Ort erlitten haben. Die Menschen sind wütend und frustriert, und die amerikanischen Soldaten kriegen diese Wut aus einem einzigen Grund mit voller Wucht ab – weil die amerikanische Regierung die Fäden in der Hand hält und die Fehler macht.
Es macht mich jedesmal traurig zu sehen, wie jung die meisten der Soldaten sind. So ungerecht es ist, dass ich mein 24. Lebensjahr unter solchen Umständen zubringen muss, ist es ungerecht, dass die ihr 19. oder 20. Lebensjahr unter solchen Umständen zubringen müssen. Jedenfalls haben wir eins gemeinsam: Wir sind allesamt Opfer der Entscheidungen, die die Regierung Bush gefällt hat.
Auf der anderen Seite … Die sind in einem oder zwei oder drei oder sechs Monaten wieder zu Hause, in Sicherheit. Und wir sind immer noch hier und müssen irgendwie mit dem Chaos in unserem Vaterland zurechtkommen, das wir jetzt haben.

Samstag, 23. August 2003

We’ve only just begun
Frauen können nicht länger unbegleitet das Haus verlassen.

Jedes Mal, wenn ich nach draußen will, müssen E. oder irgendein Vater, Onkel oder Cousin mitgehen. Ich habe das Gefühl, als wären wir mit Beginn der Besatzung um 50 Jahre zurückgefallen. Eine Frau oder ein Mädchen, die allein auf die Straße gehen, müssen mit allem rechnen: von Beschimpfungen bis zur Entführung.
Ich gebe bekannt, dass ich etwas einkaufen muss oder jemanden besuchen möchte. Dann müssen zwei (vorzugsweise große) Männer gefunden und – da wir uns in einem absolut rechtsfreien Raum befinden – ‚Sicherheitsvorkehrungen‘ getroffen werden. Und immer wieder die Frage: „Aber musst du denn wirklich raus, um das zu kaufen? Kann ich es nicht für dich besorgen?“ Nein, kannst du nicht. Denn das Kilo Auberginen, die ich eigenhändig aussuchen muss, ist nur eine Ausrede dafür, das Tageslicht sehen und eine Straße entlangspazieren zu können. Für Frauen, die arbeiten oder zur Universität gehen, ist die Situation unglaublich frustrierend.

Mittwoch, 26. August 2003
Der Nationalfeiertag
Die neun Marionetten – Verzeihung; die rotierenden irakischen Präsidenten – suchte der ‚Regierungsrat‘, ein von der provisorischen Zivilverwaltung eingesetzter Übergangsrat, im Alleingang aus. Gleich mit seiner ersten Amtshandlung distanzierte sich der 25-köpfige Regierungsrat vom Volk: Er traf die fatale Entscheidung, den neuen irakischen Nationalfeiertag auf den 9. April zu legen. Die Leute konnten es nicht glauben, als Bahr Al-Uloom (einer der neun Strohmänner) den Entschluss verlas.
Der 9. April 2003 war ein Albtraum, so entsetzlich, dass niemand ihn beschreiben kann. An jenem Tag ging Bagdad in Rauch auf – überall Explosionen, überall robbende US-Soldaten, überall Flammen, Plünderungen, Schießereien und Tod. Zivilisten wurden von einem Stadtteil in den nächsten evakuiert, Panzer schossen auf Häuser, Apache-Helikopter setzten Autos in Brand. Am 9. April versank Bagdad in Tod und Zerstörung. Panzer in der eigenen Stadt sind ein verstörender Anblick, egal unter welchen Umständen. Aber ausländische Panzer in der eigenen Hauptstadt zu sehen, ist eine Katastrophe.
Der 9. April war ein Tag hysterischer Nachbarn, die an unsere Tür hämmerten, ihre Gesichter so verzerrt, dass wir sie kaum erkannten. „Müssen wir weg? Werden wir evakuiert? Es klingt so nah.“ Es war ein Tag schockierter, verschreckter Verwandter mit riesigen Pupillen und zitternden Lippen, die Unterschlupf suchten und Reisetaschen, Frauen und zu Tode verängstigte Kinder hinter sich her schleppten. Wir alle brauchten Trost, den niemand spenden konnte.
Es war der Tag, an dem wir, komplett angezogen, zu Hause auf unseren gepackten Koffern saßen und auf den Panzer oder das Geschoss lauschten, die uns nach draußen auf die Straße treiben würden. Wir saßen und wägten das Risiko einer Fahrt von einem Ende Bagdads zum andern ab gegen das Risiko, in unserem Viertel zu bleiben und das Unvermeidbare abzuwarten.
Es war der Tag, an dem ich „die Unterhaltung“ mit meiner Mutter führen musste. Der Tag, an dem ich mich vor sie hinsetzen und ihre „Anweisungen“ entgegennehmen musste – nur für den Fall. – „Für welchen Fall, Mama?“ – „Für den Fall, dass uns etwas zustößt.“ – „Was denn? Dass wir getrennt werden vielleicht?“ – „Ja, genau. Ja. Getrennt, zum Beispiel … Du weißt, wo das Geld ist; du weißt, wo die Papiere sind …“
Ja, das weiß ich. Aber das wird mir egal sein, falls dir oder Vater oder E. etwas zustößt.
Es war ein Tag, an dem die streunenden Hunde in den Straßen vor Angst heulten und die Vögel bei dem Versuch, dem Lärm und Rauch zu entkommen, in aufgebrachten Schwärmen am Himmel hin- und herstoben.
Es war ein Tag verkohlter Leichen in ausgebrannten Autos.
Es war ein gelblich-grauer Tag, der rot in meiner Erinnerung brennt. Ein Tag, der sich sofort an die Oberfläche drängt, wenn ich an die schlimmsten Tage meines Lebens denke.
Das war der ‚Nationalfeiertag‘ für mich. Den meisten Berichten zufolge haben ihn Millionen Iraker genauso erlebt. Am nächsten 9. April können Bremer und der Regierungsrat Bush ja im Weißen Haus besuchen, um Bagdads Fall mit ihm zu feiern … denn wir hier werden bestimmt nicht feiern.

Samstag, 30. August 2003
Der Ausflug zum Haus der Tante
Mein Bruder E. ist heute Morgen um acht losgegangen, um Benzin für das Auto zu holen. Um zwölf kam er übel gelaunt zurück. Er hatte drei Stunden lang mit lauter zornigen, feindseligen Irakern Schlange gestanden. Für Benzin Schlange zu stehen treibt die Leute in den Wahnsinn, denn vor dem Krieg war der Benzinpreis lächerlich niedrig. Nicht nur, dass Benzin jetzt mehr kostet, es ist auch schwierig zu bekommen. Ich glaube, das Benzin wird aus Saudi-Arabien und der Türkei importiert.
Wir kletterten in einen zerbeulten weißen VW (Baujahr 1984). Niemand fährt gerne in hübschen Autos herum, die die Räuber in Versuchung führen könnten (wobei ‚hübsch‘ alles nach Baujahr 1990 meint). Ich überlegte hin und her, ob ich eine Sonnenbrille aufsetzen sollte, entschied mich aber schließlich dagegen – besser kein unnötiges Aufsehen erregen. Ich betete kurz für unsere Sicherheit und kramte in meiner Tasche nach meiner ‚Waffe‘. Ich ertrage den Gedanken, mit einer Pistole herumzulaufen, nicht, deswegen trage ich immer ein großes, rotes Jagdmesser mit aufspringender Klinge bei mir. Hütet euch vor Riverbend!
Auf der Straße ist es wie in einem Tornado. Man muss die ganze Zeit hellwach und auf alles gefasst sein. Ich saß auf dem Rücksitz, blinzelte in die Sonne und überlegte bei jedem fremden Gesicht, ob es einem Plünderer, einem Entführer oder doch nur einem frustrierten Landsmann gehörte. Ich verrenkte mir den Hals nach dem blauen Geländewagen und versuchte zu entscheiden, ob er uns erst seit einem Kilometer oder schon länger folgte. Sobald mein Cousin wegen des Verkehrs abbremsen musste, hielt ich nervös den Atem an und wünschte mir, die Autos vor uns würden endlich weiterfahren.
Für die Strecke, die man im Vorkriegsirak in 20 Minuten fahren konnte, brauchten wir heute die doppelte Zeit. Manche Hauptverkehrsstraßen waren komplett durch Panzer versperrt. Aggressive Soldaten riegelten die Straßen rund um die Paläste ab. Die gehörten einst Saddam, jetzt sind es die Paläste der Amerikaner. An jedem Kontrollpunkt und an jeder Straßensperre diskutierten E. und mein Cousin über mögliche Alternativen.
Ich sagte nichts, weil ich mich in der Stadt nicht mehr auskenne. Heutzutage heißen die Orte „da wo der Krater von der Raketenexplosion ist“ oder „die Straße mit den verwüsteten Häusern“ oder „das kleine Haus neben dem, wo die Familie umkam“.
Als wir vor dem Haus meiner Tante ankamen, schmerzte jeder Muskel in meinem Körper. Meine Augen brannten vor Hitze und Erschöpfung. E’s Stirn war von den Szenen, die wir in den Straßen hinter uns gelassen hatten, zerfurcht, die Hände meines Cousins zitterten unmerklich, seine Fingerknöchel immer noch weiß vor Anspannung. Meine Mutter sprach ein Dankgebet für unsere sichere Ankunft, und die Frau meines Cousins schwörte, sie werde das Haus der Tante für die nächsten drei Tage nicht verlassen, und wenn wir vorhätten, heute noch zurückzufahren, könnten wir das gerne machen, aber ohne sie, denn Gott müsse sich heute auch noch um andere Menschen kümmern, nicht nur um uns.

Dienstag, 18. November 2003
Schwierige Tage …
Es hat auch in Bagdad eine Serie von Razzien gegeben, ganz besonders betroffen war Al-Adhamiya. Sie haben Dutzende von Leuten verhaftet mit der Begründung, sie besäßen mehr als eine Waffe. Wer besitzt denn weniger als zwei Waffen? Jeder hat mindestens eine Kalaschnikow und dazu ein paar Pistolen. Normalerweise ist jeder Mann im Haus bewaffnet, und manchmal auch die Frauen. Nicht, weil wir unsere Häuser gern als Waffenarsenale einrichten, sondern weil die Sicherheitslage so prekär war (und in manchen Vierteln immer noch ist) und niemand ein Risiko eingehen wollte.
Stellt euch folgende Szene vor: Ein blauer Minivan hält vor dem Haus. Zehn verdreckte, langhaarige Männer mit Kalaschnikows, Pistolen und Granaten klettern heraus und verlangen das Gold und die Kinder (für spätere Lösegeldforderungen). Und dann stellt euch vor, man wollte sich denen mit einer einzigen Handfeuerwaffe entgegenstellen. Wenn Bagdad SICHER wäre, würden die Leute ihre Waffen abgeben.
Ich hasse es, Waffen im Haus zu haben. Ich bin so müde. Die Belastungen der letzten Tage kann ich in jeder einzelnen Faser meines Körpers spüren. Drei Tage lang hatten wir keinen Strom, und trotz des angenehmen Wetters sind alle deprimiert.
Niemand weiß, warum der Strom ausfällt – man munkelt von Stürmen, von Schäden an den Generatoren, von Sabotage und Bestrafung. Aber eigentlich weiß niemand, was vor sich geht. Überall Explosionen. Gestern war es besonders schlimm. Heute klang eine riesige Detonation besonders nah, aber wir können es nicht mit Sicherheit sagen. Wie definiert man Krieg? Wenn das kein Krieg ist, was dann … kein Strom, Wasser nur tropfenweise, Kampfflugzeuge, Helikopter, Explosionen.

Montag, 5. Januar 2004
Frohes neues Jahr
Es ist schon seltsam, an welche Anblicke und Geräusche man sich gewöhnen kann. Das erste Mal ist immer am schlimmsten; die erste Streubombe, die man miterlebt; das erste Beben der Erde, das man nach einer Explosion unter den Füßen spürt; die ersten Panzer, die Nachbarhäuser beschießen; der erste Kontrollpunkt … die ersten zerbrochenen Fensterscheiben, einstürzenden Wände, aus den Angeln gehobenen Türen … der erste Bombenanschlag auf ein Restaurant, auf eine Botschaft … Es ist nicht so, dass man danach keine Wut oder Trauer mehr empfinden würde; aber irgendwann gehört es zum Leben dazu, und man rechnet damit, so wie man mit Regen im März und Sonnenschein im Juli rechnet.

Donnerstag, 15. Januar 2004
Scharia und Familienrecht
Am Mittwoch entschied unser niedlicher Marionettenrat, das säkulare irakische Familienrecht solle nicht länger säkular sein. Von nun an wird es sich an der islamischen Scharia orientieren. Die Nachricht tauchte in den westlichen und arabischen Nachrichten kaum auf; die irakischen Medien werden sich des Themas ganz gewiss nicht annehmen. Diese letzte Entscheidung ist katastrophal für alle Frauen.
Versteht mich nicht falsch – das reine islamische Gesetz nach dem Koran und dem Propheten sichert Frauen unabänderliche, unverhandelbare Rechte zu. Ein Problem gibt es nur dort, wo bestimmte Geistliche beschließen, die Gesetze in ihrem Sinne auszudeuten (und heutzutage darf sich fast jeder ‚Geistlicher‘ nennen). Ein noch größeres Problem ist, dass die Scharia sich von einem Geistlichen zum nächsten radikal unterscheidet. Tatsächlich gibt es zwischen den islamischen Gruppen (Methahib) fundamentale Unterschiede, die Scharia betreffend. Sogar innerhalb eines Methahib kann es Dutzende von Klerikern unterschiedlicher Meinungen geben. An das Chaos in den Straßen haben wir uns gewöhnt. Aber dazu noch Chaos in den Gerichten und im Justizsystem?!
Besonders für die Frauen ist das ungerecht. Vor dem irakischen Gesetz sind Männer und Frauen gleich. Unter unserem früheren, weltlichen Familienrecht (welches seit den 50er Jahren praktiziert wurde) hatten Frauen unanfechtbar das Recht auf Scheidung, das Recht auf die freie Wahl des Ehemannes, sie konnten erben, das Sorgerecht für die Kinder beanspruchen und Unterhalt verlangen. Das wird sich nun ändern.
Ein weiteres Beispiel ist die Ehe selbst. Nach den Stammesgesetzen und nach der Scharia braucht eine Frau die Einwilligung der Familie, wenn sie heiraten will – egal, wie alt sie ist. Im irakischen Recht braucht die Frau, solange sie über 18 ist, diese Einwilligung nicht. Sie kann vor Gericht heiraten, ganz legal und ohne, dass ihre Eltern zugegen sind. So etwas kam im Irak selten vor, aber es war möglich.
Nach irakischem weltlichen Recht kann eine Frau die Scheidung einreichen, wenn ihr Mann sie schlägt. Nach der Scharia wären Misshandlungen sehr viel schwieriger zu beweisen.
Weitere Fragen drängen sich auf – die Scharia ächtet Eheschließungen zwischen Minderjährigen nicht (solange diese die Pubertät erreicht haben). Nach säkularem irakischem Recht müssen minderjährige Mädchen mindestens 16 sein (glaube ich), Jungen mindestens 18 Jahre, um zu heiraten.
Mir fallen spontan Hunderte weiterer Beispiele ein, über die ich in Wut geraten könnte. Ich bin praktizierende Muslimin, aber will ich deswegen einen islamischen Staat? Nein!
Riverbends Weblog-Einträge sind Auszüge aus dem Buch Bagdad Burning, das Mitte März im Residenz Verlag erscheint. Und Riverbend schreibt täglich weiter, siehe

http://riverbendblog.blogspot.com Nachfolgend zwei Kostproben:

Donnerstag, 15. Dezember 2005
Die schwarzen Wahlen
Die letzte Woche wurden wir regelrecht überschwemmt mit Wahlpropaganda. Allawis Gesicht ist überall. Genauso wie Hakims Turban-Haupt. Es ist beunruhigend, auf einer Mauer plötzlich eine Reihe identischer Hakims zu entdecken, die auf dich herniederlächeln.
Vor ein paar Tagen sah ich im Fernsehen Hakims letzte Pressekonferenz. Das Publikum fiel mir besonders auf. Die Frauen saßen auf der einen Seite, die Männer auf der anderen, zwischen den Geschlechtern ein schmaler Gang. Alle Frauen trugen schwarze Kutten (Abbayas) und Kopftücher. Es hätte eine Szene aus Teheran sein können!

Donnerstag, 12. Januar 2006

Thank you for the Music …
Als ich von der Entführung der Journalistin Jill Caroll vor einer Woche hörte, war ich traurig. Es ist das Gefühl, dass ich immer habe, wenn ich von noch einem ermordeten oder entführten Journalisten erfahre. Wir hatten schon seit Tagen keine Internetverbindung mehr. Alles, was ich wußte war, dass eine Journalistin entführt worden war und man ihren irakischen Übersetzer ermordet hatte. Er wurde im Al Adil Bezirk erschossen. Es hieß, dass er nicht sofort tot war, sondern lange genug am Leben blieb, um mit der Polizei zu sprechen und dann starb.
Vor kurzem habe ich erfahren, dass der ermordete Übersetzer ein guter Freund von mir war – Alan, der Besitzer von Alan’s Melody. Ich habe die letzten beiden Tage geweint.
Er verkaufte Musik-Raubkopien. Sein Laden war nicht nur einfach ein Plattengeschäft – er war ein Zufluchtsort. Das waren meine glücklichsten Momente, wenn ich aus Alan’s Melody heraustrat, vollbepackt mit CDs und Kassetten. Alan konnte einem jeden Song besorgen. Man musste nur zu ihm gehen und sagen, „Alan – ich habe da was Großartiges im Radio gehört … das musst du für mich finden!“ Er saß dann ganz geduldig da und fragte weiter: Wer hat es gesungen? Weißt Du nicht? OK – Mann oder Frau? Gut. Erinnerst du dich an irgendeine Textzeile? Meistens hatte er schon davon gehört oder kannte sogar die Texte. Schon beim zweiten Besuch in seinem Laden würde er sich an dich und deine Musikvorlieben erinnern. Er war eigentlich gelernter Elektroingenieur – aber seine Leidenschaft galt der Musik. Er träumte davon, Musikproduzent zu werden. Aber es war nicht die Musik, die Alans Laden zu einem Zufluchtort machte – einem Ort, an dem man Probleme und Sorgen vergessen konnte – es war vor allem Alan selbst.
Adieu Alan …

http://riverbendblog.blogspot.com, Email:

baghdad.burning@gmail.com Riverbend: Bagdad Burning (Residenz Verlag, 22.90 €).
EMMA März/April 2006

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