Demokratie oder Gottesstaat?

Artikel teilen

Ein eisiger Wind pfeift über die Kölner Domplatte. Der Himmel ist bleiern, die Kathedrale dräut wie das Jüngste Gericht. Davor stehen zwei junge Frauen in knöchellangen Mänteln, grau wie dieser Wintertag. Ihre schwarzen Hidjabs haben sie nach iranischer Art gebunden, islamistisch-korrekt eng ums Gesicht, mit Stirnband unter dem Kopftuch, das auch noch das kleinste Haar verbirgt. So bemüht sind sie, sich unsichtbar zu machen, dass man sie glatt übersähe, wäre nicht das Schild, das sie in die Kamera halten: "Gleiches Recht für alle!" Jetzt schiebt sich eine größere Frauengruppe mit einem Transparent vor die beiden: "Kopftuch = GOTTES WILLE."

Anzeige

Wir schreiben den 24. Januar 2004 nach christlicher und den 1. Dul'l-Hijja 1424 nach islamischer Zeitrechnung.

Ausgerechnet unter dem einst von 68-ern provokant dem Grundgesetz entlehnten Motto "Die Würde des Menschen ist unantastbar" hat die "Muslimische Jugend Köln" (MJK) zu einer Pro-Kopftuch-Demonstration aufgerufen.

Unterstützt wird sie dabei von der "Grünen Jugend Köln", von "Linksruck" und "Human and Dignity Rights", die empört sind, dass die "aktuellen Gesetzentwürfe und -beschlüsse in Deutschland und Frankreich die Religionsfreiheit einschränken".

Der Demonstrationszug, der sich träge durch die Innenstadt schiebt, ist streng nach Geschlechtern getrennt. Doch ausnahmsweise bilden die Männer diesmal das Schlusslicht. In der Mitte gehen ältere Frauen, vorneweg die jungen. Manche in modischen Jeansjacken kombiniert mit gezurrtem Kopftuch à la Khomeini. Eine steckt im alles verhüllenden schwarzen Tschador. Und ein Mädchen sogar mit grünem Märtyrerband um die Stirn, das auf Islamistisch signalisiert: Ich bin bereit, für den Djihad, den heiligen Krieg, mein Leben zu opfern. Mit um den Bauch gebundenem Dynamit? Gleichzeitig skandieren dieselben Frauen von der Frauenbewegung abgeguckte Slogans. Zum Beispiel: "Mein Kopf gehört mir." Oder: "Ich bin frei, stolz und emanzipiert." Konfusion total?

Eine Woche zuvor - zeitgleich mit Paris - marschierte in Berlin die zentrale deutsche Pro-Kopftuch-Demo. Während an der Seine Zehntausende für das "Recht" von Musliminnen auf Verschleierung auch in Schulen und im Staatsdienst auf die Straße gingen, folgten dem nationalen Aufruf an der Spree gerade mal tausend. Zur straff organisierten Protestaktion in der Islamisten-Hochburg am Rhein erschienen drei mal so viele und schickten von der Kölner Domplatte aus als Gruß ins ferne Rom: "Auch die Mutter Jesu trug ein Kopftuch!" Hatte der Papst doch erst jüngst via Kardinal Ratzinger verlauten lassen: Der Vatikan sei gegen ein Kopftuchverbot im deutschen Schuldienst. Fürchten die christlichen Hardliner um ihre Kreuze an der Wand?

Seit einem Vierteljahrhundert, seit dem Aufbruch von Khomeinis Gotteskriegern, ist der Hidjab (der Schleier, das Kopftuch) das Symbol der Islamisten und ihr Ziel das Unsichtbarmachen der Frauen. In schwer betroffenen Ländern wie Iran, Algerien oder Afghanistan ist das schon lange schmerzlich klar. Aber auch in den meisten westeuropäischen Staaten, wie Frankreich oder Italien, wird das Problem der Radikalisierung des Islam seit Jahren als solches erkannt und diskutiert.

Nur Deutschland, das lange "die Drehscheibe des terroristischen Islamismus" war, hatte die Debatte 20 Jahre lang verschlafen.

Noch nicht einmal das Getöse der zusammenkrachenden Twin Towers konnte diesen selbstgerechten Schlaf einer falsch verstandenen Toleranz stören. Erst der lange Marsch einer einzelnen Frau, Fereshda Ludin, durch alle Instanzen und ihre Verfassungsklage schreckte das Land auf. Seit das Bundesverfassungsgericht im September 2003 den schwarzen Peter den Bundesländern zugespielt hat - die nun durch Landesgesetze regeln sollen, ob sie das Kopftuch für Lehrerinnen im Schuldienst zulassen wollen oder nicht - wird einer rasant größer werdenden Öffentlichkeit bewusst, dass die Kopftuchfrage vielleicht doch keine Glaubensfrage ist, sondern eine hoch politische. Und dass hinter der angeblich nur schlicht frommen Frau Ludin, dieser mit einem deutschen Konvertiten verheirateten Afghanin, in Wahrheit die vom Verfassungsschutz als hoch bedenklich eingestuften Bünde wie "Islamrat" und "Zentralrat der Muslime" stehen.

Jahrelang hatten sich diese beiden Dachorganisationen zu Wortführern der über drei Millionen MuslimInnen in Deutschland aufgeschwungen, obwohl sie nur eine verschwindend kleine Minderheit vertreten (ExpertInnen schätzen: maximal fünf Prozent). Diese Minderheit führte bisher quasi allein die "interreligiösen" und "interkulturellen Dialoge" mit Politik, Kirchen und Medien. Die muslimische Mehrheit schwieg. Schlechtgewissig und in falsch verstandener Solidarität; aus Angst vor dem Vorwurf, den "Rassismus" zu nähren.

Jetzt endlich meldet sich diese muslimische Mehrheit zu Wort. So bezog zum Beispiel Lale Akgün, in der Türkei geborene SPD-Bundestagsabgeordnete aus Köln, im September in EMMA erstmals öffentlich entschieden gegen das Kopftuch Stellung und lancierte im Dezember eine Anti-Kopftuch-Kampagne in Hürriyet. Damit trat sie eine Lawine los. Zwei Wochen lang, Tag für Tag, druckte das türkische Massenblatt auf der Titelseite seiner Europa-Beilage lange Listen mit Namen und Statements von in Deutschland lebenden TürkInnen: fast unisono contra Kopftuch, selten pro.

"Großartige Einheit!" jubelte Hürriyet in fetten Lettern neben einem Bild von Lale Akgün und vier türkischstämmigen Mitstreiterinnen aus dem Bundestag und dem Berliner Abgeordnetenhaus: Ekin Deligöz (Grüne), Dilek Kolat (SPD), Ülker Radziwill (SPD) und Evrim Baba (PDS) - die innerhalb ihrer Parteien bisher allerdings nur einer Minderheit angehören, der die Mehrheit der (christlichen!) BefürworterInnen des Kopftuches gegenüber stehen.

Nicht nur in Hürriyet, auch in deutschen Zeitungen distanzieren MuslimInnen sich neuerdings offensiv von der radikalen Minderheit der Islamisten. So Hakki Keskin, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland: "Das Tragen des Kopftuchs für Lehrerinnen ist ein Versuch zahlenmäßig kleiner, radikaler Gruppen, die Religion für ihre politisch-ideologische Gesinnung zu instrumentalisieren. Ihr Endziel ist ein Staat nach dem Gesetz der Scharia. Dies sollte jedem klar sein." (FAZ)

Oder Seyran Ates, Rechtsanwältin aus Berlin: "Lehrerinnen mit Kopftüchern wären eine Unterstützung fundamentalistischer Männer, die kopftuchtragende Frauen als sittsam und tugendhaft ansehen, Frauen ohne Kopftuch dagegen als unmoralisch." (Publik Forum)
Seyran Sates ist auch eine der ErstunterzeichnerInnen von "Becklash": ein offener Brief an Marieluise Beck, die grüne Integrationsbeauftragte. Mit ihrem "Aufruf wider eine Lex Kopftuch" machte Beck, die seit Monaten auf allen Kanälen für das Kopftuch auch im Schuldienst wirbt, Anfang Dezember Stimmung für "religiöse Vielfalt statt Zwangsemanzipation" (EMMA 1/04). Unterstützt wurde die Grüne dabei unter anderen von Rita Süssmuth (CDU), Barbara John (CDU), Renate Künast (Grüne) und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP).

Becks Pro-Kopftuch-Aufruf haben überwiegend Frauen christlicher Herkunft unterzeichnet.

Unter dem "Becklash" gegen das Kopftuch (mitinitiiert von der Filmemacherin Helke Sander) stehen vor allem Frauen mit muslimischem Hintergrund. Sie werfen Beck & Co vor, gegen das Gleichheitsgebot im Grundgesetz (Artikel 3, Absatz 2) zu verstoßen und im Namen der Religionsfreiheit die systematische Entrechtung von muslimischen Mädchen und Frauen zu tolerieren, wenn nicht gar zu betreiben: kein Sprach-, Sport- und Sexualkundeunterricht; weder Klassenfahrten noch Jugendfreizeiten; Ausgeh- und Berufsverbote; Entführungen und Zwangsverheiratungen etc.

"Becklash" - eine Kombination aus "Beck" (Marieluise) und "Backlash" (Rückschlag) - war nur eine von zahlreichen Reaktionen auf die deutschen Kopftuchsympathisantinnen. "Anscheinend sind Sie sich dessen nicht bewusst, dass die Mehrheit der Musliminnen in Deutschland kein Kopftuch trägt!" beschwerten sich "demokratisch gesinnte Migrantinnen", darunter die Sozialdemokratin Dilek Kolat sowie die Autorinnen Azu Toker und Cherifa Magdi.

Und bei EMMA hagelte es Kopien der wütenden Proteste bei Beck & Co, Becks Aktion wurde zum Bumerang. Trockener Kommentar des Berliner Junge-Union-Chefs Peters: "Die Damen stellen aus falsch verstandener Liberalität nützliche Idioten des fundamentalistischen Islam dar."

FDP-Chef Westerwelle hatte schon im September nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts unmissverständlich für Laizismus plädiert: "Die religiöse Neutralität an den Schulen ist eine ganz entscheidende Voraussetzung dafür, dass kein Kind in eine Richtung gedrängt wird, in die es selbst nicht gedrängt werden will, und in die auch die Eltern nicht wollen."

Von wenigen AbweichlerInnen (wie Ex-Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger) abgesehen steht die FDP in der Kopftuchfrage an der Seite der CDU/CSU, die (Rita Süssmuth und Barbara John ausgenommen) geschlossen gegen das Kopftuch im Schuldienst ist. Obwohl die ChristdemokratInnen fürchten, dass, wenn es aus dem Klassenzimmer verbannt wird, das Kruzifix ebenfalls verschwinden muss. Die Konservativen scheinen auch das Spiel mit der falschen Toleranz klarer durchschaut zu haben als die Linken. Die Bundesvorsitzende der Frauen-Union Maria Böhmer: "Unabhängig davon, ob man das Kopftuch als religiöses oder auch politisches Symbol betrachtet, verstößt es gegen die im Grundgesetz verankerte Gleichberechtigung, weil es die dienende Funktion der Frau betont."

Auch SPD-Bundesinnenminister Schily hat dem Islamismus in Deutschland seit dem 11. September 2001 den Kampf angesagt. So boxte er - auch gegen den Widerstand der Kirchen - eine Novellierung des Vereinsgesetzes durch, unter dessen Schutzmantel sich islamistische Antidemokraten als unpolitisch Religiöse tarnten.
Der Kanzler allerdings hat auffallend lange gewartet. Erst kurz vor Weihnachten 2003 äußerte Schröder sich erstmals öffentlich zur Kopftuchfrage: "Kopftücher haben für Leute im staatlichen Auftrag, also auch für Lehrerinnen, keinen Platz."

Er schränkte jedoch im gleichen Atemzug ein: "Einem jungen Mädchen, das mit Kopftuch zur Schule gehen will, kann man es nicht verbieten." In Frankreich sieht man das anders.

Der Gefahr des Islamismus auch mitten in Deutschland hat das Bundesinnenministerium jüngst ein ganzes Buch (u.a. mit Studien über junge MuslimInnen) gewidmet, das jedeR kostenlos bestellen oder downloaden kann. Aufklärung ist angesagt gegen die allgemeine Verwirrung. Otto Schily im Vorwort: "Die gesellschaftliche Integration des Islam wird nur auf der Grundlage eines politisch säkularen Selbstverständnisses gelingen, das ein eindeutiges, vorbehaltloses Bekenntnis zur freiheitlichen Demokratie des Grundgesetzes einschließt."

Dennoch sind nicht wenige SozialdemokratInnen noch immer zögerlich oder gar pro Kopftuch, wie in Nordrhein-Westfalen. Dort hat der SPD-Justizminister Wolfgang Gerhards nicht nur nichts gegen Lehrerinnen mit Kopftuch - ihn stört auch nicht, wenn sogar Staatsanwältinnen und Richterinnen ihr Haupt verhüllen. Die sozialdemokratische NRW-Schulministerin Ute Schäfer hingegen würde das Kopftuch im öffentlichen Dienst inzwischen gerne ganz verbieten. Doch da sind die Grünen vor, die in Düsseldorf mitregieren.

Die "Multikulti"-Partei ist bundesweit offensiv für das Kopftuch im Staatsdienst, Begründung: "Niemand darf wegen der Ausübung religiösen Glaubens bei der Ausübung seines Berufs benachteiligt werden." Damit spielt Omid Nouripur vom grünen Bundesvorstand auf die Berufsverbote der 70er gegen kommunistische LehrerInnen an. Auch in Baden-Württemberg - dem Land, das durch alle Instanzen von Ludin verklagt wurde - sollen muslimische Lehrerinnen, ginge es nach den Grünen, das Kopftuch "in angemessener, nicht provokativer Form" tragen dürfen. Käme das durch, fiele der Unterricht vermutlich ganz flach, weil die Zeit dafür drauf ginge, in jedem Einzelfall Tag für Tag neu zu entscheiden, was "angemessen" und was "provokativ" ist ...

In Berlin, wo die SPD das Kopftuch im Schuldienst verbieten will, profilieren sich die KoalitionärInnen von der PDS als BedenkenträgerInnen. Sie lassen sich auch nicht davon irritieren, dass eine überwältigende Mehrheit der Berliner Bevölkerung für ein Kopftuchverbot in der Schule ist. Auf die infratest-dimap-Frage "Sollten Frauen muslimischen Glaubens im Staatsdienst Kopftuch tragen dürfen?" antworten Zwei Drittel: "Nein!" - darunter 60 Prozent der traditionell atheistischen PDS-AnhängerInnen. Doch die Parteiführung pocht edel auf die "verfassungsrechtlich garantierte Freiheit des Glaubens". Da kommt es zu seltsamen Koalitionen. So erklärte Katharina Schubert, innenpolitische Sprecherin des PDS-Bundesvorstandes: "Rau hat Recht!"

Anfang Januar hatte der bekennend-evangelische SPD-Bundespräsident und Pastorensohn "Bruder Johannes" kund getan: Alle religiösen Symbole - das christliche Kreuz, die katholische Mönchskutte wie das muslimische Kopftuch - hätten in einem demokratischen Schulsystem "das Anrecht auf Gleichbehandlung".
Und ausgerechnet in Niedersachsen, wo die christlich-liberale Koalition unter Führung von CDU-Ministerpräsident Wulff Ende März ein Anti-Kopftuch-Gesetz verabschieden will, setzte der Bundespräsident am 22. Januar noch mal eins drauf. Ein Kopftuchverbot, sagte Rau in Wolfenbüttel, sei "der erste Schritt in einen laizistischen Staat": "Ich will das nicht."

CDU-Mann Wulff klatschte, wenn auch nur verhalten. Laut applaudierte Rebecca Harms, Fraktionsvorsitzende der Grünen im niedersächsischen Landtag. Zwar sei sie kein Kirchenmitglied, erklärte sie der Welt, aber gegen "strikten Laizismus". Also gegen eine strikte Trennung von Staat und Religion - was, mit Verlaub, aus dem Munde links-liberaler PolitikerInnen dann doch überrascht.

Während so manche Ungläubige immer frommer werden, quälen einige Gläubige zunehmend die Zweifel. Allen voran den neu gewählten Chef der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) Wolfgang Huber, der früher gegen ein Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst war und inzwischen dafür ist. Denn: "Die Kopftuchpflicht stammt nicht aus dem Koran, sondern gehört in den Entwicklungszusammenhang des Islamismus."

Ob der in Sozialtheologie habilitierte Berliner Bischof damit für eine Minderheit in der evangelischen Kirche steht oder für eine sich formierende Mehrheit - das ist noch offen.

Auch Antje Vollmer, evangelische Pastorin und Vizepräsidentin des Bundestages, bekennt heute selbstkritisch: "Ich meine, wir waren zu blauäugig. Selbst in Berlin, wo man das Kopftuch immer häufiger sieht, haben wir es als kulturelle Folklore abgetan. Dabei handelt es sich um massive politisch-ideologische Veränderungen, die im Kopftuch ein Symbol finden - für die vollständige Unterstellung der Frau unter die Autorität des Mannes."

Das sieht der katholische Parlamentspräsident Wolfgang Thierse (SPD) neuerdings genauso. Im Gegensatz zum "Zentralkomitee der deutschen Katholiken" (ZdK), in dem er Mitglied ist. ZdK-Präsident Meyer befürchtet, dass manche KopftuchgegnerInnen "das partnerschaftliche Verhältnis von Staat und Kirche" durch eine "laizistische Kultur" ersetzen wollen. Dem hält Thierse entgegen: "Das Christentum hat die klare Trennung von Religion und Staat respektiert, während im Islam genau dies nicht der Fall ist. Ein Kreuz ist kein Symbol von Unterdrückung, das Kopftuch für viele muslimische Frauen schon. Deshalb glaube ich, man muss hier Unterschiede machen."

Das Thierse-Interview stand am 4. Januar im Berliner Tagesspiegel, der sich der Kopftuchdebatte neuerdings um Erhellung bemüht. Prompt fuhr die traditionell im Verhüllen geübte SPD-nahe Frankfurter Rundschau vier Tage später schwere Geschütze auf: in Gestalt von zwei "christlichen Religionswissenschaftlern". Der eine, Hans-Michael Haußig, klagte, Thierse habe keine Ahnung von muslimischen "Kleidungs- und Speiseregeln". Der andere, Christoph Bochinger, behauptete - wider alle Fakten -, dass Ludin schon deshalb "nicht zu den islamischen Fundamentalistinnen" gehöre, weil "die, die mit dem Kopftuch in der Öffentlichkeit auftreten, vermitteln wollen : Die Orthodoxen würden zu Hause bleiben."

Dabei hatte der Verfassungsschutz im November 2003 öffentlich enthüllt, was gut Informierte schon lange wissen: Fereshda Ludin, die so gerne verbeamtete Lehrerin mit Kopftuch wäre, hat von 1997 bis 1999 im Vorstand der "Muslimischen Jugend" gesessen. Dieser vom Bundesfamilienministerium mitfinanzierte Jugendclub soll seit Jahren "organisatorische und personelle Berührungspunkte" mit einschlägig verdächtigen Organisationen haben: der militanten Muslimbruderschaft (arabisch), dem in Deutschland verbotenen Al-Aksa-Verein (palästinensisch) und der islamistischen Milli Görüs (türkisch).

Und so schließt sich mal wieder der Kreis: Wer hat zu den Pro-Kopftuch-Demos in Berlin und Köln aufgerufen? - Die "Muslimische Jugend", lange angeführt von Ludin.

Es ist nicht mehr zu übersehen, dass eine kleine, gut geschulte Elite vorgeschickt wird, um - wie in Köln - pseudofeministische Propaganda für die Verhüllung von Frauen zu machen: Wir tragen das Kopftuch und sind trotzdem emanzipiert! Manchmal wissen diese Propagandistinnen genau, was sie tun; manchmal auch nicht - wie in dem Fall des Mädchens, dass mit dem Märtyrerband seine Bereitschaft zum "Märtyrertod" signalisiert.

Anscheinend ist Anfang des neuen Jahrtausend in Deutschland angekommen, was Mitte des letzten Jahrhunderts in Ägypten begann. Dort standen in den 1950er Jahren universell denkende muslimische Feministinnen wie Doria Shafik kurz davor, sich durchzusetzen. Aber dann traten scheinfeministisch agitierende islamistische Differentialistinnen gegen sie an - an vorderster Front Zaynab Ghazali. Der Islamwissenschaftler Hans-Peter Raddatz nennt in seinem neuen Buch "Allahs Schleier" die eine Richtung den "Doria-Typ" und die andere den "Zaynab-Typ".

Doria Shafik, die an der Pariser Sorbonne studiert hatte, gab ab 1945 in Kairo das Frauenrechts-Magazin Die Niltochter heraus. Der von ihr zusammengetrommelte Nationalrat ägyptischer Frauen organisierte Großdemonstrationen für Demokratie und Gleichberechtigung - vergeblich. 1957 wurde Die Niltochter verboten und ihre Herausgeberin unter Hausarrest gestellt. Die frühe Pionierin beging später Selbstmord.

Im Gegensatz zu Doria Shafiks emanzipiertem Frauenprogramm, das wirkliche Gleichberechtigung wollte, kam das differenzialistische von Zaynab Ghazali, das den Unterschied betonte, bei den tonangebenden Männern in Ägypten gut an. Ende der 50er Jahre assoziierte die Muslimschwester ihre 1936 gegründete "Muslim Women's Association" mit der Muslimbruderschaft, der ideologischen Urzelle des heutigen weltweiten islamistischen Terrors. Die Muslimbrüder brauchten gebildete Missionarinnen für die globale Verbreitung des "Islamischen Aufrufs." Ob als Pädagogin, Juristin oder Journalistin - "im Prinzip" genoss diese "neue muslimische Frau", die nicht gleichberechtigt war, sondern als "gleichwertig" galt, neue Freiheiten, das allerdings nur in einem fest abgesteckten Rahmen.

Der erschloss ihr zwar öffentlichen Bewegungsraum, aber nur unter der Voraussetzung, dass "nach wie vor Ehe und Mutterschaft die unverzichtbare Basis ihrer Existenz" bleibt und "der Mann ihr Maßstab". Muslimschwestern dieses Typs marschierten auch auf der Demo in Köln im Jahre 2004 vorneweg, beseelt von ihrem Vorbild Saynab Ghazali, die vor 50 Jahren schrieb: "Wir Muslime tragen Waffen, nur um Frieden zu verbreiten. Wir wollen die Welt reinigen vom Unglauben und Atheismus."

In Berlin waren einige Wochen zuvor 70 Exil-IranerInnen gegen die Übermacht der 1.000 Pro-Kopftuch-DemonstrantInnen angetreten: zur "Verteidigung der Frauenrechte". Wie ihre Schwestern im Sommer 2003, die sich vor der iranischen Botschaft in Frankfurt am Main das Kopftuch demonstrativ vom Kopf rissen. Weil es eben nicht bloß ein "Stückchen Stoff" oder ein "religiöses Symbol" ist.

Und noch eine gute Nachricht. Am 19. Januar entschied das Hamburger Verwaltungsgericht, dass auch muslimische Mädchen in Hamburg am Sexualkundeunterricht teilnehmen müssen, da das Schulgesetz alle SchülerInnen dazu verpflichtet.

Keine Ausnahmegenehmigung für die türkische Mutter, die im Namen der Religionsfreiheit gefordert hatte, dass ihre beiden Töchter nicht aufgeklärt werden, Begründung: "Im Islam findet Sexualität nur in der Ehe statt." Das "Bündnis Türkischer Einwanderer" begrüßte das Urteil als "eine Rechtsauffassung, die sich durchsetzen sollte", denn: "Es darf nicht hingenommen werden, wenn Fundamentalisten versuchen, die Grundwerte des liberalen Rechtsstaats außer Kraft zu setzen."

Endlich beginnt der Dialog. Der echte.

Artikel teilen
 
Zur Startseite