In der aktuellen EMMA

Mitgefühl für Juden & Palästinenser

Viele Israelis halten den Ministerpräsidenten Netanjahu für mitverantwortlich für das Nichtverhindern des Hamas-Überfalls. - Foto: IMAGO
Artikel teilen

Die tiefe Krise, in der Israel sich befindet, kann man von außen kaum verstehen – einfach, weil diese Krise nichts von dem gleicht, was man außerhalb Israels kennt. Länder können ihren Namen ändern (etwa als Rhodesien Simbabwe geworden ist) oder ihr politisches Regime (etwa als 1917 die russischen Zaristen von leninistischen Revolutionären ersetzt wurden, oder als ein Putsch Chile 1973 umstürzte, oder als die Sowjetunion nach 1989 zusammenbrach). Obwohl auch diese Veränderungen einen Schock darstellten, bedrohten sie kaum die Existenz der Länder. Es ist jedoch Israels schiere Existenz, die auf dem Spiel steht – durch Bedrohungen an mehreren Fronten zugleich.

Russland kann eine Demokratie oder eine Autokratie sein. Deutschland kann nationalsozialistisch sein oder nicht. Sie überleben beide. Für Israel ist das nicht der Fall, weil es mit den komplexesten Problemlagen der Welt konfrontiert ist. Ich habe nicht gesagt, dass Israel die schlimmsten Probleme der Welt hat (die Probleme von Sierra Leone oder Eritrea sind viel schlimmer), aber es hat die vielschichtigsten. Kein Land teilt so viele Grenzen mit Feinden, die es vom Angesicht der Erde tilgen wollen; in keinem Land gibt es so viele widerstreitende Gruppen; kein Land kontrolliert zwei Millionen Menschen, indem es ihnen seit fast 50 Jahren die grundlegenden Menschenrechte vorenthält. In keinem Land gibt es ein so großes Aufgebot an antidemokratischen Extremisten. 

Und schließlich gibt es kein Land, das von gutmütigen Linken und wohlmeinenden Antisemiten auf der ganzen Welt in seinem Existenzrecht infrage gestellt wird.

Die erste Bedrohung Israels ist die unmittelbare militärische Gefährdung, die von sechs Sei ten ausgeht: der Hisbollah, der Hamas, den Palästinensern in der Westbank, dem Jemen, Iran und Syrien. Der Kreis an Israel-Gegnern hat sich ausgedehnt, aber nicht nur das: Israels Feinde haben sich auch wesentlich besser organisiert, mit der Unterstützung des Iran, Russlands und Chinas, die die westliche Welt insgesamt und Israel im Besonderen destabilisieren wollen. 

Dass Israel eine zentrale regionale Macht darstellt, die Unterstützung der USA genießt und koloniale Herrschaft über Palästinenser ausübt, sollte nicht von der Tatsache ablenken, dass seine Gegner entschlossener denn je sind, Israel zu schaden und, wenn möglich, es gänzlich zu vernichten. Kein Land würde solche genozidalen Absichten seiner Nachbarstaaten an seinen Grenzen auf die leichte Schulter nehmen. 

Die zweite existenzielle Bedrohung Israels ist eine innere Bedrohung. Auch sie findet an mehreren Fronten statt und ist nicht weniger beunruhigend. Eine große Gruppe machthungriger Messianisten (religiöse Fundamentalisten, die an die Wiederkehr des Messias glauben, Anm. d. Red.) möchte Palästinenser aus Israel vertreiben. Sie sehen die Kinder jener Generation, die Israel aufbaute, als Verräter, und sie wollen hier ein Regime unter jüdischer Vorherrschaft errichten. Um dieses Ziel zu erreichen, beabsichtigen sie, Israels Demokratie zu zerstören. Sie haben bereits in der Vergangenheit Gewalt angewendet, um politische Ziele zu erreichen (Jigal Amir, der Mörder von Jitzchak Rabin, Architekt des Osloer Friedensabkommens, zählt zum messianistischen Lager). 

Eine weitere innere Front entsteht durch die wachsende ultraorthodoxe Bevölkerung die quasi-feudale Privilegien genießt: Ultraorthodoxe Juden erhalten staatliche Förderung, weil sie es ablehnen, zu arbeiten. Sie leisten keinen Wehrdienst und ihre politischen Parteien schließen Frauen grundsätzlich aus, ohne dass der Staat etwas dagegen unternehmen würde. Die meisten Ultraorthodoxen sind antidemokratisch und stehen daher in einem Bündnis mit den Messianisten. 

Beide Gruppen sind glückliche Nutznießer staatlicher Gelder, die schmerzlichst von säkularen Bürgern Israels benötigt würden, etwa von den Familien, die nun von ihrem Zuhause im Süden vertrieben wurden. Beide Gruppen wären aber noch glücklicher, wenn sie in einem theokratischen Staat leben würden, was sie auf Konfrontationskurs mit dem Pro-Demokratie-Lager bringt. 

Die letzte innere Bedrohung geht vom „Bibismus“ aus, eine Form des Personenkults um Benjamin „Bibi“ Netanjahu. So, wie in der Vergangenheit mehrfach geschehen (siehe Lenin oder Mussolini), können Massen von einer böswilligen politischen Figur hypnotisiert werden und dabei deren Rücksichtslosigkeit, Egoismus und Fähigkeit, die Nation in einen Abgrund zu stürzen, leugnen. Netanjahus Böswilligkeit ist mittlerweile klar ersichtlich: Er kidnappte den Staatsapparat für seine politischen Interessen, spätestens als er die katastrophale Justizreform initiierte. Er ignorierte Sicherheitswarnungen, um seine Reformen fortzusetzen, die Israel tief gespalten und in unmittelbare Gefahr gebracht haben. 

Netanjahu besaß nicht den Anstand, Verantwortung für die schrecklichen Folgen seiner Sicherheitspolitik zu übernehmen. Er hat weder getröstet, noch hatte er einen Funken menschlicher Wärme übrig für die Opfer und ihre Familien nach den Massakern des 7. Oktober. Er stachelt weiter an, mitten in einem Krieg, in dem jeden Tag israelische Soldaten sterben und 100.000 Israelis noch nicht zu ihrem Zuhause zurückkehren konnten. Er ist bereit, Israel den internationalen Gerichten auszusetzen, weil er sich weigert, die Rassisten Itamar Ben-Gyir und Bezalel Smotrich zu feuern. Netanjahu scheint die Psychologie eines Sektenführers zu haben, der bereit ist, alle mit sich zu opfern.

In Israel und Gaza sterben Tausende. Der Philosoph Slavoj Žižek sagt: Es sind die Hardliner auf beiden Seiten, die diesen Krieg führen. Frieden kann nur erreicht werden, wenn Palästinenser und Israelis gleichermaßen eine Zukunft haben. 

Die dritte Bedrohung ist am schwierigsten zu beschreiben. Die Israelis verwenden das Wort „mehdal“, um das Versagen ihrer Sicherheitsdienste zu beschreiben, die nackte Wehrlosigkeit der Dörfer, die an der gefährdeten Grenze zu Gaza lagen, die quälend lange Zeit, die die Armee brauchte, um sich in die Lage zu versetzen, zu agieren. Aber „mehdal“ bezeichnet einen punktuellen Fehler, der von einem Ausschuss untersucht werden kann, um die Schuld bei einzelnen Personen zu finden. Solch ein „mehdal“ ist nicht das, was passiert ist. Das hier war kein militärischer Fehltritt wie im Jom-Kippur-Krieg 1973.

Was am 7. Oktober und danach geschah, würde ich als zivilisatorischen Zusammenbruch bezeichnen. Als Kollaps des gesamten gesellschaftlichen Apparats. Wo beginnt der Kollaps? Mit Netanjahus Gleichgültigkeit gegenüber den Warnungen? Sicherlich setzt er sich fort mit der spektakulären Desorganisation der Armee, die auf einen derartigen Notfall nicht vorbereitet war. Die Soldaten wurden nicht von einem zentralen Kommando geleitet, sondern mussten die sozialen Medien nutzen, um ihren Weg zu den Einsatzorten in den Dörfern im Süden zu finden. Der Kollaps endete mit der schockierenden Abwesenheit des Staates und seiner Unfähigkeit, den traumatisierten Familien Unterstützung zu bieten. Das „mehdal“ war kein „mehdal“. Das Ausmaß des Versagens ist so massiv, dass es eine kaum sichtbare längere Entwicklung offenbart: den Zusammenbruch von grundlegenden Werten innerhalb der israelischen Gesellschaft.

Nach jahrzehntelanger Herrschaft der Likud-Partei werden die staatlichen Institutionen von mittelmäßigen Persönlichkeiten geführt, die wenig Professionalität an den Tag legen, sich nicht am öffentlichen Gemeinwohl orientieren und von schierer Machtgier beseelt sind. Das beginnt an der Spitze. Wie alle populistischen Führer hat Netanjahu seine Kumpels auf Schlüsselpositionen gesetzt und den Staat in den Dienst seiner persönlichen Interessen gestellt. Er ist darin wohl kaum schlimmer als Viktor Orbán, Donald Trump oder Jair Bolsonaro – allerdings war Netanjahu länger im Amt als sie und konnte den Institutionen weitaus mehr Schaden zufügen. Der andere, noch entscheidendere Unterschied ist, dass Israel nicht in der Position Ungarns, der Vereinigten Staaten oder Brasiliens ist. Dort bedroht ein eigennütziger Führer nicht die Existenz des Landes. Aber in Israel kann eine schlechte Führung in diesem Ausmaß, wie es am 7. Oktober ans Licht kam, den Tod bedeuten.

Diese katastrophale Führung setzt sich auch in dem Krieg fort, den Israel gegen die Hamas in Gaza führt. Es fällt schwer, darin ein strategisches Ziel zu erkennen. Was wir stattdessen sehen, ist die Zerstörung von palästinensischen Häusern, Infrastrukturen und vielen wertvollen Menschenleben. Für diese Palästinenser wird es kein Land mehr geben, in das sie zurückkehren können. 

Israel hat Tunnel und Waffenlager aufgedeckt, Hunderte von Hamas-Soldaten getötet und den Abschuss von Hunderten von Raketen pro Tag gestoppt, aber diese Erfolge stehen in keinem Verhältnis zur Zahl der getöteten Zivilisten, zur Vertreibung und zum Hunger von Hunderttausenden. Da dieser Krieg also nicht von sorgfältiger Überlegung getragen scheint, wirkt er auch nach außen rücksichtslos. Die Anklage vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Völkermords ist nur eine Folge. Der Krieg hat Israel international auf eine Art und Weise geschwächt, die das Land noch gar nicht begreift.

Er hat bereits die Wirtschaft des Landes untergraben und viele Geschäftsinhaber, die an der Front gekämpft haben, mit ihren wirtschaftlichen Verlusten allein gelassen. Er hat viel zu viele unserer Soldaten getötet, die meisten der Entführten nicht zurückgebracht und demoralisiert jeden Tag mehr Zivilisten. Dazu kommt das schändliche Schauspiel der Schlammschleuderei durch die derzeitigen Minister der Regierung.

Diese drei Fronten sind tief miteinander verwoben und bilden den Kern einer ernsthaften existenziellen Bedrohung für Israel.

Yahya Sinwar, der Anführer der Hamas, ist ein brillanter, mörderischer Psychopath. Er und die Iraner verstehen etwas, was die Israelis nicht ganz begreifen: Israels militärische Stärke hängt von seiner inneren Stärke ab. Für Israel ist die Demokratie kein moralischer oder politischer Luxus. Sie ist eine Sicherheitsfrage. Israel wird nicht überleben, wenn es keine Demokratie ist.

Ohne Demokratie, die eine politische Lösung der Besatzung beinhaltet, wird Israel zu einem rassistischen Schurkenstaat, der von der Welt geächtet wird (ich würde nicht auf die Populisten zählen, um Israel zu retten); das Humankapital wird abwandern und seine militärischen Kapazitäten werden schwinden. Die Demokratie ist das einzige stabile politische System, das in der Lage ist, so viele unterschiedliche Gruppen und widerstreitende Interessen zusammen halten zu können. Sie ist das einzige System, das in der Lage ist, Vertrauen in die Institutionen und damit in das Human- und Wirtschaftskapital zu schaffen. Und genau dieses Vertrauen ist in Israel verloren gegangen, weil die populistische Herrschaft von Netanjahu die wichtigsten Institutionen des Staates von innen heraus verfaulen ließ. 

Sinwar ist sich dieser Widersprüche bewusst und hat einen langen Atem. Seine Ziele sind nicht militärischer Natur. Oder zumindest nicht ausschließlich. Er setzt darauf, dass ein oder mehrere solcher Massaker die Spaltung Israels verschärfen und Netajnahu ihm durch seine spalterische Politik weiter in die Hände spielt.

Die Menschen in Gaza verdienen das Mitgefühl der Welt und ihr Engagement, sie beim Wiederaufbau ihrer Gesellschaft zu unterstützen, und das trotz der Tatsache, dass eine Mehrheit von ihnen die Hamas unterstützt. Und auch das israelische Volk verdient das Mitgefühl der Welt, und zwar aus anderen Gründen: Iran, die Hisbollah und die Hamas wollen es vernichten; sein Anführer hat es an den 

Abgrund geführt; seine Bürger leben unter einem unerträglichen Gesellschaftsvertrag mit Ultraorthodoxen und Messianisten; und schließlich wird seine Existenz durch eine seltsame Allianz von Linken und Islamisten in der ganzen Welt in Frage gestellt. 

Angesichts der Bedrohungen kann das israelische Volk nur auf sich selbst zählen. Es muss sich seiner Souveränität und seiner Rechte als Staatsvolk bewusst werden: in der Wahl seiner Führung und in der Verpflichtung, die zivilen Grundlagen der Gesellschaft wiederherzustellen. 

Dazu müssen sich die Israelis von dem Bann der „Einheit und Solidarität“ befreien, der sie gefangen hält. Es gibt keine Solidarität mit Gruppen, die auf die Zerstörung Israels hinarbeiten. Eine Bevölkerung braucht einen Willen. Doch für einen Willen muss es Hoffnung geben, und Hoffnung gibt es nur, wenn der Politiker, der Israel an den Abgrund geführt hat, geht. Die physische Sicherheit und moralische Integrität Israels hängen von der Fähigkeit der israelischen Gesellschaft ab, einen neuen Gesellschaftsvertrag aufzusetzen. Ich war mir noch nie einer Sache so sicher wie in diesem Punkt.

Eine breite sozialdemokratische Bewegung der Mitte ist notwendig, um den Gesellschaftsvertrag zu erneuern, der die Bürger an den Staat bindet. Nur eine solche Bewegung kann Israel die Kraft geben, die ihm genommen wurde.

Übersetzung: Elsa Koester, Jerrit Schloßer. Der Text erschien zuerst im Freitag.

Ausgabe bestellen
Anzeige
'

Anzeige

 
Zur Startseite