Zauberhafte Zeiten

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EMMA: Im Mai 1949, als der historische Satz "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" ins Grundgesetz geschrieben wurde, waren Sie 16 Jahre alt. Haben Sie die Zeit bewusst erlebt?
Lore Maria Peschel-Gutzeit: Oh ja! Unsere Mutter war eine politisch sehr interessierte Frau, die auch an der Volkshochschule Politikkurse gab. Und die hat natürlich mit meiner Schwester und mir die gesamte Verfassung erörtert, die ja die erste demokratische Verfassung war, die wir Kinder erlebten. Zu diesen Diskussionen gehörte selbstverständlich auch der Kampf um die Gleichberechtigung, über den auch die Zeitungen ausführlich berichteten. Interessanterweise stand in den Zeitungen allerdings kaum etwas darüber, dass so viele Männer dagegen waren.

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In der Weimarer Reichsverfassung hieß es wörtlich: "Männer und Frauen haben grundsätzlich die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten."
Genau. Unsere Mutter erklärte uns, dass die Gleichberechtigung in der Weimarer Verfassung zwar ein sogenanntes Staatziel war, der Artikel 3 aber ein echtes Grundrecht ist, auf das sich jeder – und vor allem jede – berufen kann. Leider gab es in der weiblichen Bevölkerung kein Bewusstsein dafür, was die Frauen durch den Artikel an Stärke hinzugewonnen hatten.

Dabei hatten sie während des Krieges die Männerberufe übernommen und als "Trümmerfrauen" das Land wieder aufgebaut.
Ich habe selbst in den Trümmern Steine behauen, damit man sie wieder verwenden konnte. Aber die Frauen wurden ja wieder zurückgedrängt. Die Mutter meiner besten Freundin zum Beispiel war Schaffnerin, die im Krieg Straßenbahnfahrerin wurde, weil die Männer ja im Feld waren. Als die Männer aus der Gefangenschaft zurückkamen, wurden die Straßenbahnführerinnen bei der Hamburger Hochbahn wie selbstverständlich von heute auf morgen entlassen. Die sollten dann wieder als Schaffnerinnen mitfahren. Die Mutter meiner Freundin war außer sich und sagte: "Das ist doch nicht zu glauben! Wir haben im Krieg bei Bombenhagel die Straßenbahnen geführt und jetzt werden wir degradiert und die Männer an die Kurbel gestellt!" Ich habe viele solcher Beispiele erlebt. Eine gelernte Juristin hatte die Kanzlei ihres Mannes während des Krieges weitergeführt. Als er nach Hause kam, verlor sie sofort die Zulassung, in der Kanzlei auch nur mitzuarbeiten. Die Frauen hatten zurückzutreten – da gab es überhaupt kein Vertun.

Die Wut der Frauen muss groß gewesen sein.
Ich habe es eher als Resignation erlebt. Und da viele Männer krank und versehrt aus dem Krieg zurückgekommen waren, da es kaum Wohnungen gab, da die Versorgungslage immer noch sehr schlecht war, hatten die Frauen so viel mit der Existenzsicherung zu tun, dass viele wohl nicht mehr die Kraft hatten, auf die Barrikaden zu gehen.

Auch die Gesetzgebung, die Frauen zu Bürgern zweiter Klasse machte, blieb zunächst weiterhin bestehen.
Im damaligen Familienrecht war noch die "alleinige ehemännliche Verwaltung und Nutznießung des gesamten Familienvermögens" verbrieft. Der Mann konnte also über das gesamte Einkommen und Vermögen der Frau verfügen und bestimmen. Außerdem gab es das Recht des Ehemannes, über alle Fragen, die die Kinder betrafen, allein zu entscheiden. Die Mutter hatte, bis auf ein bisschen persönlicher Fürsorge, überhaupt nichts zu sagen zur Entwicklung des Kindes. Das waren natürlich zauberhafte Zeiten.

Dann kam die neue Verfassung mit dem Gleichberechtigungs-Grundsatz.
In der Verfassung, die am 23. Mai 1949 verabschiedet wurde, stand nun, dass der neu zu wählende Bundestag eine Legislaturperiode, also vier Jahre, Zeit hat, um dieses Familienrecht, das ja massiv gegen den Artikel 3 verstieß, entsprechend anzupassen. Und weil die Väter und vier Mütter des Grundgesetzes schon ahnten, dass der Bundestag dies überhaupt nicht vordringlich finden würde, haben sie festgelegt: Nach dieser ersten Wahlperiode tritt das frauenfeindliche Familienrecht, sollte es nicht geändert sein, automatisch außer Kraft. Sie haben also von vornherein ein Verfallsdatum eingesetzt, was ja die schärfste Waffe ist, die eine Verfassung nutzen kann.

Diese Waffe musste ja dann tatsächlich eingesetzt werden.
Ja, denn diesem Bundestag ist zwar ein Gesetzentwurf zur Änderung des Familienrechts vorgelegt worden. Aber er hat darüber so heftig und mit vor allem von konservativer Seite so unglaublichen Argumenten gestritten, dass man sich bis zum Stichtag am 31. März 1953 nicht hat einigen können. Die Protokolle über diese Debatten sind übrigens eine wahre Fundgrube.

Der zweite Bundestag unter der Ägide von Kanzler Adenauer brauchte dann aber noch mal einige Jahre.
Dem Bundestag war eigentlich klar, dass es so nicht geht. Außerdem bekam er Druck vom Juristinnenbund ...

... dem Sie seit 1956 angehören ...
... der sinngemäß sagte: "Das kann ja wohl nicht wahr sein, dass ihr es in vier Jahren nicht geschafft habt, ein verfassungsmäßiges Familien-Gesetz hinzukriegen. Jetzt aber avanti in der zweiten Legislaturperiode!" Und wieder wurden die interessantesten Entwürfe vorgelegt, und wieder war es so, dass einem die Haare zu Berge standen.

Im Juli 1957 wurde dann aber schließlich doch das sogenannte Gleichberechtigungsgesetz verabschiedet, das am 1. Januar 1958 in Kraft trat. Neun Jahre nach Schaffung des Artikel 3 ...
Ja, man hat sich geradezu abgehastet.

Verfassungsgemäß war das neue Familienrecht aber nun immer noch nicht.
Nein, denn zwar hatte man die männliche Verfügungsgewalt über das Familienvermögen abgeschafft und dafür die Zugewinngemeinschaft eingeführt. Aber der Vater behielt immer noch das Letztentscheidungsrecht über die Kinder und war auch der einzige, der die Kinder gesetzlich vertrat. Natürlich gab es damals Abgeordnete, die sagten, dass ein Blinder mit Krückstock sehe, dass das gegen den Artikel 3 verstößt. Aber die Konservativen dachten überhaupt nicht daran, den Frauen eine gleichberechtigte Position einzuräumen. Auch diese Debatten sind eine wahre Freude. Da lesen Sie dann so schöne Sätze wie: "Es mag ja sein, dass die Frauen jetzt gleichberechtigt sind, aber sie können das eben einfach nicht. Deshalb ist es zu ihrem eigenen Vorteil, wenn man ihnen die Entscheidungsgewalt über die Kinder nicht überträgt."

Dann trat der Juristinnenbund auf den Plan ...
Ja, denn wir hatten ja schon kommen sehen, dass das Gesetz so verabschiedet würde, und deshalb längst einen Gang nach Karlsruhe vorbereitet. Wir haben eine Mutter gefunden, die bereit war, das durchzukämpfen. Und wir haben einen Gutachter spitz gemacht, der vor dem Bundesverfassungsgericht vortrug, dass dieser sogenannte Stichentscheid und die alleinige gesetzliche Vertretung des Vaters verfassungswidrig sind. Und so waren diese Teile des Gesetzes schon im Juli 1959, also für juristische Verhältnisse blitzartig, wieder vom Tisch.

In dieser für Ehefrauen quasi rechtlosen Zeit sind Sie selber in den Stand der Ehe getreten und haben auch drei Kinder bekommen. Woher hatten Sie das Gottvertrauen?
Ich habe nach Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgesetzes geheiratet, also unter der Herrschaft der noch heute geltenden Zugewinngemeinschaft. Das reichte aus meiner Sicht. Unterhalt wollte und brauchte ich nicht, da ich selbst voll berufstätig war.

Später haben Sie sich scheiden lassen. Hatten auch Sie ganz persönlich rechtliche Nachteile durch die Tatsache, dass sie verheiratet waren?
Allenfalls indirekt. Damit meine ich die Tatsache, dass ich drei Kinder bekam. Und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie war noch nicht thematisiert, geschweige denn gelöst. Ich selbst habe dann im Rahmen der Arbeit des Deutschen Juristinnenbundes das Gesetz zu Einführung von Teilzeitarbeit und Familienurlaub für Beamtinnen und Richterinnen ausgearbeitet, das schließlich 1968 vom Deutschen Bundestag verabschiedet worden ist. Seither gibt es im Öffentlichen Dienst Teilzeitarbeit und Familienurlaub. Ich selbst habe davon allerdings nie Gebrauch gemacht.

Die nächste große Reform war dann die Familienrechtsreform von 1977, die, sechs Jahre nach dem Aufbruch der Frauenbewegung, das bisherige Scheidungsrecht kippte.
Auch diese Reform ist zunächst 20 Jahre lang diskutiert worden. Die Diskussionen begannen bereits in den 50ern, denn es waren einfach so viele Ehen durch den Krieg kaputtgegangen, die dennoch nicht geschieden werden konnten, weil die Frauen keine Versorgung gehabt hätten. Und so haben SPD und FDP schon damals ein ganz anderes Scheidungsrecht gefordert. Eins, das das "Zerrüttungsprinzip" an die Stelle des "Schuldprinzips" stellt. Das trat dann am 1. Juli 1977 in Kraft. Seither kann jede Ehe nach Ablauf einer bestimmten Frist geschieden werden. Außerdem haben wir seither den Versorgungsausgleich, also das Splitten der Rentenansprüche, das ja fast ausschließlich den Frauen zugute kommt, weil sie fast immer die geringeren Renten-Anwartschaften haben. Und wir haben das nacheheliche Unterhaltsrecht. 

Ab wann war denn die Eheschließung für Frauen nicht mehr mit einer Diskriminierung verbunden? War die Vergewaltigung in der Ehe, die 1997 endlich strafbar wurde, das letzte Gesetz, das Ehefrauen benachteiligt hatte?
Das Familienrecht ist immer wieder reformiert worden, und das geschieht bis heute. Im letzten Jahr ist die umstrittene Unterhaltsrechtsreform in Kraft getreten, die ältere Ehefrauen großen Existenz-Risiken aussetzt. In diesem Jahr werden der Versorgungsausgleich und das Zugewinnrecht reformiert – ob zu Gunsten oder Lasten von Frauen, wird sich zeigen.

Sehr oft hat ja das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber dazu zwingen müssen, frauendiskriminierende Gesetze zu ändern. Zum Beispiel das Nachtarbeitsverbot für Frauen ...
... oder die Leichtlohngruppen. Das war allerdings das Bundesarbeitsgericht, nachdem es festgestellt hatte, dass sich in diesen Gruppen ausschließlich Frauen befanden. Auch die Obersten Gerichtshöfe haben immer wieder einzelne Gesetze, die Frauen betrafen, für verfassungswidrig erklärt. Die neue Definition von Familie kam allerdings vom Bundesverfassungsgericht. Jahrzehntelang hatte man ja den Artikel 6, Absatz 1 "Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung" so interpretiert, dass Ehe und Familie identisch waren. Dann erklärten die Bundesverfassungsrichter Anfang der 70er, dass Familie ist, wenn mehrere Generationen zusammenleben. Das war ein Riesenschritt, denn das bedeutete, dass zum Beispiel eine Alleinerziehende mit ihrem Kind denselben verfassungsrechtlichen Schutz genießt. Es stürzte die Monopolstellung der Ehe vom Sockel.  

Das Gericht folgte damit der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung. Zum Beispiel erklärten die Verfassungsrichter 1961 die Frau noch zur "Gehilfin des Mannes", 1974 sprachen sie dann schon von "Partnerschaft". Und 1979 stellte das Gericht fest, es gehöre "nicht zu den geschlechtsbedingten Merkmalen der Frau, Hausarbeit zu verrichten".
Ja, es war wirklich schön zu hören, dass wir nicht mit einem Putzlappen geboren werden.

Es fällt auf, dass all diese fortschrittlichen höchstrichterliche Neudefinitionen auf dem Höhepunkt der Frauenbewegung getroffen wurde. Da gibt es natürlich einen Zusammenhang.
Das Hochinteressante daran ist in der Tat, dass auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eben nicht in Erz gehauen ist. Inzwischen sitzen auf den Richterbänken überall Menschen, die mit denen der ersten Stunde nichts mehr zu tun haben. Die bringen eine ganz andere Sozialisation und politische Überzeugungen mit. Aber man darf sich nicht vertun. Die Schlüsselfrage ist weiterhin der berühmt-berüchtigte § 218. Ich habe die beiden Verfahren um den § 218 in Karlsruhe miterlebt. Im ersten Verfahren 1974 waren die Richter in der Mehrheit gegen die Fristenlösung und der Ansicht, dass es bei einer Indikationslösung bleiben sollte. Zwei Richter hatten allerdings eine abweichende Meinung und formulierten die auch in einem Minderheitenvotum: Das waren Helmut Simon und Wiltraut Rupp-von Brünneck, die einzige Richterin; die erklärten, die Indikationslösung sei mit der Würde der Frau nicht zu vereinbaren. Rund 20 Jahre später, 1993, stellten die Verfassungsrichter zum § 218 immer noch unglaubliche Fragen, zum Beispiel die, ob "die Promiskuität von Frauen nicht nur über ein restriktives Abtreibungsgesetz verhindert werden" könne. Ich vertrat in dem Verfahren das Land Hamburg als Justizsenatorin, Brandenburg wurde durch die Sozialministerin Regine Hildebrandt vertreten. Irgendwann reichten Hildebrandt die Fragen so, dass sie nach vorne stürmte, die Hände in die Hüften stemmte, sich zweimal um sich selbst drehte und im schönsten Berlinerisch schimpfte: "Ick gloobe, ick kieke nicht richtich. Wo bin ick hier eigentlich jelandet? Vor einem Jericht oder vor einem Sammelsurium alter Männer oder wat?" Uns allen stockte der Atem. Ich will damit sagen: Sicher wird die Rolle der Frau vom Bundesverfassungsgericht inzwischen anders definiert. Aber ob die RichterInnen wirklich anders denken, das können wir immer an der Handhabung des § 218 ablesen. Der ist der Prüfstein: Wie viel an Emanzipation, wie viel an Gleichwertigkeit und Gleichstellung der Frauen ist tatsächlich in der politischen Wirklichkeit angekommen? Und wenn man jetzt sieht, dass der § 218 schon wieder am Wackeln ist, dann weiß man: Das ist das Einfallstor.

Alice Schwarzer hat erzählt, dass Sie beide hinter verschlossenen Türen anno 1978 nicht nur die berühmt-berüchtigte Stern-Klage gegen sexistische Titelbilder ausgeheckt haben, sondern zehn Jahre später anno 1988 auch zusammen den Gesetzentwurf gegen Pornografie formuliert haben.
Das stimmt. Wir haben versucht, Frauen gegen pornografische Darstellungen zivilrechtlich zu schützen. Zwar gab und gibt es einen gewissen strafrechtlichen Schutz. Aber der hängt von so vielen Voraussetzungen ab, dass er praktisch leerläuft. Unser Ziel war es deshalb, nicht die einzelne dargestellte Frau zu schützen, sondern Frauen als Gruppe gegen die allgegenwärtige Pornografisierung und Diskriminierung in der Öffentlichkeit wirksam zu schützen. Dafür wollten wir Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche gegen die Produzenten und Vertreiber solcher Machwerke schaffen. Zu unserem Gesetzentwurf von 1988 hat es auch eine Anhörung im Deutschen Bundestag gegeben. Zwar haben wir für unseren Vorschlag – erwarteterweise – keine Mehrheit gefunden, aber wir haben ein gewisses Bewusstsein geschaffen. Heute zeigt sich, dass der Deutsche Bundestag damals sehr gut beraten gewesen wäre, dieses heiße Eisen nicht fallen zu lassen, sondern zu schmieden. Denn inzwischen hat die Pornografisierung unserer Gesellschaft Formen angenommen, auf die frau damals auch mit viel Phantasie nicht gekommen wäre.

Sie haben 1990 auch höchstpersönlich in der Verfassungskommission dafür gesorgt, dass Elisabeth Selberts Artikel 3 noch einmal ergänzt wurde.
Unsere Aufgabe war es laut Einigungsvertrag, die Verfassung der DDR, die die frei gewählte Volkskammer sich gegeben hatte, und das Grundgesetz der BRD so weit wie möglich aneinander anzunähern. Ich war zuständig für Artikel 3 und Artikel 6, und zwar gemeinsam mit Jutta Limbach, die damals noch Berliner Justizsenatorin war, sowie Christine Hohmann-Dennhardt, damals hessische Justizministerin und später Bundesverfassungsrichterin, plus Heidi Merk als Justizministerin von Niedersachsen. Und wir vier, alles sehr kampferprobte Frauen, sagten: So geht es nicht weiter! Wir brauchen einen richtigen Gleichstellungsauftrag in der Verfassung! Diesen Auftrag haben wir formuliert. Aber für die Verabschiedung hätten wir die Zweidrittel-Mehrheit der Verfassungskommission gebraucht, und die kriegten wir nicht zusammen, weil die Konservativen und die FDP strikt dagegen waren. Der Vorsitzende der Kommission, der spätere Verteidigungsminister Rupert Scholz, sagte immer, wenn wir mit diesem Thema anfingen: "Frau Kollegin, lassen Sie es doch! Sie wissen doch, dass es verfassungswidrig ist, was Sie da machen wollen."

Wovon Sie sich, wie wir unserer heutigen Verfassung entnehmen, nicht haben beeindrucken lassen.
Nein. Das ist eine unter Juristen übliche Keule: Wenn man etwas nicht will, behauptet man erst mal, es sei verfassungswidrig. Das habe ich dann auch Herrn Scholz gesagt: "Sie wissen, dass das nur eine Behauptung ist, die nicht stimmt." Eines Tages erklärten sich die CDU-Mitglieder dann zu unserer Verblüffung plötzlich doch bereit, einen Gleichstellungsauftrag in die Verfassung aufzunehmen. Was war passiert? Es stellte sich heraus, dass Kohl himself ein Machtwort gesprochen hatte. Er hatte die Kommissionsmitglieder darauf aufmerksam gemacht, dass die nächsten Wahlen bevorstanden und die Frauen schließlich die Mehrheit hätten. Damit war der Kampf aber noch nicht zu Ende. Es wurde um jedes Wort gefeilscht.

Aber, mit Verlaub, so viele Worte hat der Zusatz in Artikel 3 doch gar nicht: "Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin."
Das reichte aber, um an jedem zweiten Wort zu zweifeln, weil es entweder verfassungswidrig sei oder aber in keine Verfassung gehöre. Wenn ich nur mal den zweiten Halbsatz nehmen darf: Da wollten sie die "Beseitigung" nicht und stattdessen auf die "Milderung" oder die "Verminderung" der Nachteile hinwirken. Ich habe aber gesagt: "Nichts da! Wenn ich von einer Mauer, die zehn Meter hoch ist, einen Meter abtrage, bleiben immer noch neun Meter. Diese Mauer muss aber ganz fallen. Deshalb muss sie ‚beseitigt‘ werden." Dann sollte das Wort "bestehende" Nachteile weg, weil angeblich für Frauen gar keine Nachteile bestanden. Und dann haben wir schließlich diesen – wie ich zugeben muss, sprachlich nicht sehr eleganten – Satz den Herren und den wenigen Damen abgerungen, so dass er tatsächlich 1994 vom Bundestag verabschiedet wurde. Seither steht er in der Verfassung.

Und was hat er dort bewirkt?
Seither muss die Politik tatsächlich etwas tun, um die Gleichstellung durchzusetzen. Alle Gleichstellungsgesetze, die seitdem auf Bundes- und Länderebene beschlossen wurden, gehen zurück auf diesen Verfassungszusatz. Und jetzt ist der nächste Schritt, dass wir die Wirtschaft angehen: Was tut die denn eigentlich, um Frauen in Führungspositionen zu bringen? Unter Bundeskanzler Schröder ist ja damals nur eine Selbstverpflichtung für die Wirtschaft beschlossen worden, die natürlich nichts gebracht hat. Deshalb gibt es jetzt eine Initiative: "Frauen in die Aufsichtsräte!"

Bei der Sie natürlich dabei sind ...
Ja. Ich bin Erstunterzeichnerin einer Resolution für ein Gesetz nach norwegischem Vorbild. Wir fordern, dass 40 Prozent der Posten in den Aufsichtsräten bis zum Jahr 2013 mit Frauen besetzt werden müssen. Es ist ja, wie man jetzt an der Finanzkrise sieht, so viel schief gegangen in der Wirtschaft – wenn Frauen in den Aufsichtsräten gesessen hätten, wäre das vielleicht anders gelaufen. Wir haben diese "Nürnberger Resolution" kürzlich Franz Müntefering übergeben, der uns seine volle Unterstützung zugesagt und unterschrieben hat. Wir waren auch bei Frau von der Leyen, die sich ebenfalls sehr interessiert gezeigt hat. Und wenn jetzt wieder jemand behauptet: "Das geht nicht, das ist ja verfassungswidrig!" dann stehe ich, wenn gewünscht, natürlich helfend zur Seite.

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Alice Schwarzer schreibt

Konventionell unkonventionell

Eine prägende Juristin dieses Landes: Lore Maria Peschel-Gutzeit. - © Bettina Flitner
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Sie pflegt keine Zeit zu verlieren. Mit fünf konnte sie lesen, mit 27 wurde sie Richterin in Hamburg und bis heute fasst die inzwischen 80-Jährige als Anwältin in Berlin „keinen Vorgang zweimal an“: „Alles wird sofort erledigt.“

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Lore Maria Peschel-Gutzeit, geschiedene Peschel und geborene Gutzeit, war in den vergangenen fünfzig Jahren eine der prägenden Juristinnen dieses Landes. Ab 1956 engagierte sie sich im Juristinnenbund, dessen Vorsitzende sie später war. Und wenig später erreichte die Mutter von drei Kindern mit der nach ihr benannten „Lex Peschel“, dass Frauen im Öffentlichen Dienst nicht länger automatisch Berufsverbot bekamen, wenn sie heirateten und ein Recht auf Teilzeit wie Familienurlaub hatten. In den 1990er Jahren war die 1988 in die SPD Eingetretene dann zwei Mal Justizsenatorin: zunächst in Hamburg, dann in Berlin. Und es mangelte in dieser Zeit nicht an öffentlichen ­Auf­regern mit der konventionell aussehenden und so unkonventionell agierenden Frau Senatorin.

Ich habe Peschel-Gutzeit anno 1978 in der EMMA-Redaktion kennengelernt. Zusammen mit ihrer Kollegin, der Medienanwältin Gisela Wild, war sie nach einem Juristinnentreffen in Bonn nach Köln gekommen, um mit mir den so genannten „Stern-Prozess“ auszutüfteln. Wir drei saßen auf den zeitüblichen Blumenkissen auf dem Boden und bereiteten eine Klage vor, von der wir nur zu gut wussten, dass wir sie nicht gewinnen konnten. Denn das, was wir wollten, gab es ja noch nicht: ein zivilrechtliches Gesetz, das die Herstellung und Verbreitung von Pornografie verbietet und so Frauen und Kinder davor schützt. Wir verloren erwartungsgemäß den Prozess, gewannen ihn jedoch moralisch – und lösten eine Debatte aus, die über Monate die ganze Nation ­beschäftigte.

Der frühere Chef von Peschel-Gutzeit, Richter Engelschall, erklärte im Urteil unser Anliegen für berechtigt. Doch gäbe es leider kein Gesetz, auf dessen Grundlage solche Bilder verboten werden könnten. Das sei hoffentlich in 20, 30 Jahren anders, so der Vorsitzende Richter. Es gibt das ­Gesetz bis heute nicht.

Zehn Jahre später hockten Peschel-Gutzeit und ich uns wieder zusammen, diesmal auf ihrem Sofa in Hamburg. Hinter verschlossenen Türen brüteten wir einen Gesetzesvorschlag aus, der es erlaubt hätte, ­Porno­grafie endlich zu verbieten – Pornografie definiert als „die Verknüpfung sexueller Lust mit Lust an Erniedrigung und Gewalt“. Wir erreichten zwar, dass die SPD ein Hearing in Bonn zur Problematik veranstaltete – ­allerdings mit dem Resultat, dass alle Vorschläge in der Schublade verschwanden, ­inklusive unseres Gesetzesvorschlages.

Die Ironie der Geschichte wollte, dass ausgerechnet einige SPD-nahe Juristinnen unser „Anti-Porno-Gesetz“ herabwürdigten mit dem Argument, das sei „juristisch laienhaft und männerfeindlich“. Nun, mit unserer juristischen Kompetenz mussten wir leider hinterm Berg halten, da die ­Fami­lienrechtlerin Peschel-Gutzeit zu der Zeit Richterin war und sich nicht aktiv an solchen Kampagnen beteiligen konnte, sondern neutral sein musste. Und auch die „Männerfeindlichkeit“ war in dem Fall ­besonders absurd, reagiert doch bis heute niemand so empfindlich, wenn man, wie ich schon mal versehentlich, nur die zwei Töchter grüßen lässt und den Sohn vergisst! Nein, es geht Peschel-Gutzeit einfach nur um Gerechtigkeit. Auch für Frauen.

Warum und wie gerade sie zu mehr Rechten für Frauen beigetragen hat, lässt sich jetzt in ihrer Autobiografie ­nach­lesen: „Selbstverständlich gleichberechtigt“. Und selbstverständlich ­thema­tisiert die allzeit besonnene, aber unermüdliche Kämpferin darin auf ihren letzten, im Sommer 2012 geschriebenen Seiten auch ihr aktuellstes Anliegen: ihre große Sorge wegen der herannahenden dramatischen ­Alters­armut von Frauen und ihr uneingeschränktes Ja zur Quote! Und: Wir ­erfahren etwas, was selbst mir, der langjährigen politischen Weggefährtin, bisher unbekannt war. Erstens wäre Lore Maria beinahe Sängerin geworden (und hätte auch als solche zweifellos unüberhörbar ihre Stimme erhoben). Und zweitens fuhr sie jahrelang mit Freundinnen Autorallyes. Denn Gas hat sie immer schon gerne gegeben.

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Lore Maria Peschel-Gutzeit (mit Nele-Marie Brüdgam): Selbstverständlich gleichberechtigt. Eine autobiografische Zeitgeschichte (Hoffmann und Campe)

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