Adieu, Marthe Gosteli!

Foto: Marco Zanoni
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Marthe Gosteli sitzt in der Bibliothek ihres Hauses in Worblaufen bei Bern und lässt ihren wachen Blick über die Wände schweifen. Um sie herum füllen graue Pappschachteln die Gestelle vom Boden bis zur Decke. Das ganze verwinkelte Anwesen mit den knarrenden Böden ist voll von Büchern, Zeitungen und anderen historischen Dokumenten. Hier lagert, fein säuberlich in beschrifteten Archivboxen abgelegt, das Gedächtnis der Schweizer Frauenbewegung.

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Marthe Gosteli ist 94 Jahre alt und sie erinnert sich genau: an die Namen ihrer MitstreiterInnen und GegnerInnen im Kampf um die Frauenrechte; an die Worte, die in den erbitterten Debatten fielen; an die Daten der vielen verlorenen Abstimmungen, bis die Schweizer Männer am 7. Februar 1971 endlich mehrheitlich für das Frauenwahlrecht stimmten. Gosteli selbst hat als Präsidentin der „Arbeitsgemeinschaft der Schweizerischen Frauenverbände für die politischen Rechte der Frau“ maßgeblich zu diesem historischen Sieg beigetragen.

Vergesslich ist Marthe Gosteli kein bisschen. Im Gegenteil, sie hat auch im hohen Alter, was sie ihr Leben lang antrieb: „Drive!“ sagt sie, und klopft sich auf die Brust. Dennoch wusste sie, dass es nicht reicht, wenn das Wissen über die „größte unblutige Revolution des letzten Jahrhunderts“, die Frauenbewegung, nur in den Köpfen ihrer Aktivistinnen festgehalten ist. Deshalb hat sie 1982 das „Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung“ ins Leben gerufen. Denn: „Ohne Kenntnis der Geschichte gibt es keine Zukunft.“

Zu Marthe Gostelis Geschichte gehört ihr Schlüsselerlebnis: „Ich weiß noch genau, wie ich als junge Frau in einen Kinderwagen schaute und einen Buben dort liegen sah. Ich dachte: Wenn du 20 bist, darfst du abstimmen und wählen. Ich nicht.“ Das ärgerte die junge Marthe, das wollte sie nicht hinnehmen. Genau so wenig wie die Behauptung einiger Männer, Frauen seien „bildungsunfähig“. Die Bauerstochter
bewies das Gegenteil. Nach einer kaufmännischen Ausbildung und  Sprachaufenthalten im Ausland arbeitete sie während des Zweiten Weltkriegs bei der Presse- und Rundfunkabteilung des Armeestabs, danach leitete sie die Filmabteilung der amerikanischen Botschaft.

1940 schloss sich Marthe Gosteli der Frauenbewegung an. Auch ihre Mutter hatte schon in einem Frauenstimmrechtsverein für das Wahlrecht der Schweizer Bürgerinnen gekämpft. Vater Gosteli war Mitglied bei der BGB, der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei, aus der später die SVP hervorging, und er nahm seine Töchter ernst. Mit Marthe und ihrer Schwester diskutierten die Eltern am Esstisch oft über Politik. Aber als der Vater starb und die drei Gosteli-Frauen den Betrieb weiterführen wollten, holte die Realität sie wieder ein: „Man sah es gar nicht gern, dass drei Frauen einen Hof besitzen, und versuchte ihn uns wegzunehmen.“ Wieder Unmut, noch mehr Drive für die kämpferische Marthe. Der Hof blieb in Frauenhand.

1964 wurde Marthe Gosteli Präsidentin des bernischen Frauenstimmrechtsvereins. Sie und ihre Gesinnungsgenossinnen gingen sanft, aber hartnäckig vor. Die große Herausforderung: Die Männer mussten überzeugt werden. „Das funktionierte nicht mit dem Holzhammer“, erzählt Gosteli, „sondern nur mit viel Feingefühl.“ Sie redet sich in Fahrt, zückt da eine Broschüre und klopft dort auf ein Buch. In ländlichen Gegenden mussten selbst Frauen sachte an die Idee der Gleichberechtigung herangeführt werden. „Wir konnten den Bäuerinnen nicht sagen, dass wir vom Frauenstimmrechtsverein kamen.“ Also sagte man: „Es geht um die Mitarbeit der Frauen in den Gemeinden.“

1967 wurde Marthe Gosteli Vizepräsidentin des Bundes Schweizerischer Frauenorganisationen, der heutigen Alliance F. Der Bund verfügte über eine große Sammlung an Büchern, Zeitschriften und Broschüren über die Schweizer Frauenbewegung, die zum Teil noch aus dem 19. Jahrhundert stammten, „wahre Schätze“. Aber der erste Versuch, einen Ort für diese bedeutenden Dokumente zu schaffen, scheiterte – am Geld und am Unverständnis der Behörden. 1982 sah das schon besser aus.

Marthe Gosteli, die seit den 1960er Jahren von den Landverkäufen des elterlichen Hofes lebte, gründete die „Gosteli Foundation“. Ihr Ziel: „Das Selbstvertrauen der Frauen durch die Kenntnis der gemeinsamen Geschichte festigen.“ Das Archiv wuchs und wuchs. Schenkungen und Nachlässe kamen hinzu, außerdem Fotos, Plakate, Karikaturen. Die Bestände wurden katalogisiert und über den Informationsverbund Deutschschweiz (IDS), der fünf Millionen Titel aus 200 Bibliotheken erfasst, elektronisch zugänglich gemacht. Schließlich bestätigte der Leiter der Stadt- und Universitätsbibliothek Bern: „Große Teile Ihrer Sammlung sind in der Schweiz einzigartig.“

Die Entrüstung, die sie jahrzehntelang für die Gleichstellung der Frau kämpfen ließ, treibt die Kämpferin noch heute an. Verfolgt sie das politische Geschehen noch? „Ja, leider“, sagt sie lachend. Meist im Fernsehen, nachts, wenn sie nicht schlafen kann. Es gefällt ihr vieles nicht, was sie dort sieht: „Die Frauenbewegung hat einen schmerzhaften Rückschritt erlitten“, sagt sie. Und das liege auch am „katastrophalen Bildungsnotstand bei Frauenfragen“ im Schulunterricht. „Ich führe viele Missstände darauf zurück, dass die Frauen keine Ahnung haben, was ihre Vorfahrinnen geleistet haben“, sagt Marthe Gosteli. „Sie könnten nämlich etliches von ihnen lernen.“

Zum 40-jährigen Jubiläum des Frauenstimmrechts hat die Gosteli-Stiftung deshalb ein Themenheft für die Sekundarstufe II herausgegeben. Titel: „Gerechtigkeit erhöht ein Volk“. Keine Frage: Marthe Gosteli hat immer noch Drive.

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www.gosteli-foundation.ch

Aktualisiert am 11.4.2017

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