Millet über Beauvoir: Der Abschied

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Simone de Beauvoir ist tot. Das ist mehr als der Verlust der bedeutendsten Theoretikerin des neuen Feminismus und einer integren Intellektuellen, deren Werk und Leben fast ein halbes Jahrhundert mitgeprägt haben. Für die Frauen in der ganzen Welt ist mit ihr der einzige international bekannte weibliche Mensch verschwunden, der ihnen Ermutigung und Herausforderung zugleich war.

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Beauvoir war ein Anti-Star. Ihre Art zu denken und zu leben und die Schonungslosigkeit, mit der sie sich selbst mitgeteilt hat, verbot jede Idealisierung. Ein Grund mehr, sie umso selbstverständlicher als Vorbild anerkennen zu können. Wäre der Begriff "Mutter" nicht so belastet, so wäre sie die Mutter des neuen Feminismus zu nennen. Ihre Töchter stehen jetzt an vorderster Front.
Sie öffnete die Tür. Sie öffnete uns die Tür. Uns allen. Den vielen Frauen, überall auf der Welt, deren Leben sie auf immer bewegt und erleuchtet hat. Auch für die Frauen, die nie von ihr gehört hatten, änderte sich durch sie Charakter und Qualität des Lebens. Von nun an war nichts mehr dasselbe. Die Hälfte der Menschheit. Wer hätte je ein Buch geschrieben, das das Schicksal aller Menschen verändern würde? Fanon, Marx vielleicht. Es wird Zeit brauchen, voll und ganz zu ermessen, welche Auswirkungen 'Das andere Geschlecht' auf die Sozialgeschichte gehabt hat, auf das Privatleben, das Alltagsbewusstsein und die Wahrnehmung.
Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen wurde unumstößlich verändert. Sie hat es benannt. Endlich so klar und unvoreingenommen beschrieben, dass die Ungerechtigkeit der intellektuellen Fassade des Patriarchats einfach zerbröckelte: Angesichts einer mühelosen Logik, mit der sie äußerst sorgfältig, detailliert und differenziert beobachtete, wie der Mann die Menschheit nach seinem eigenen Bilde formte. Und dann die Frau dazu verurteilte, das "Andere", Fremde, der Untermensch zu sein.
Das war der Auftakt. Beauvoir ging weiter als die frühen Feministinnen, wie zum Beispiel Wollstonecraft und Mill, deren Gedanken auf den Prinzipien von Gleichheit, Gerechtigkeit und Menschen- rechten beruhten. Stattdessen wagte sie sich vor bis in das Zentrum, in die verborgenen Tiefen patriarchalischer Denkstrukturen, patriarchalischen Unterbewusstseins, sogar in die patriarchalische Mythenbildung. Es war die letzte, notwendige Untersuchung, die endgültige, unwiderlegbare Wahrheit, die sie uns darbot. Jetzt war der Weg frei, es war nur noch eine Frage der Zeit. Und so lange dauerte es auch gar nicht, wenn wir zurückblicken auf die Jahrhunderte und die Millionen von Frauen.
Nun brauchten wir nur noch zu kämpfen, denn die Waffen hatten wir jetzt. Beauvoir, die 1949 'Das andere Geschlecht' veröffentlicht hatte, war uns weit voraus. Da stand sie und wartete auf uns. Mit unendlicher Großzügigkeit und Geduld widmete sie ein Großteil ihrer letzten Lebensjahre den Feministinnen, deren Veranstaltungen und Kampagnen. Stets war sie gastfreundlich und aufmerksam gegenüber jüngeren Feministinnen und Studentinnen. Man konnte sie einfach anrufen, sie hatte keine Sekretärin, war meistens daheim.
Die Person Beauvoir und ihre Präsenz in der Welt standen für ein Ideal, sie war die lebendige Verkörperung des Prinzips Freiheit in unserer Zeit. Makellos, prinzipientreu, gelassen: solche Integrität war beispiellos für eine Figur der Öffentlichkeit. Das alles bedeutete sie mir. Und noch mehr. Was dieses "mehr" ist, muss vielleicht noch entschlüsselt werden.
In dem Sinne, wie ihr restliches Oeuvre - literarische Meisterwerke wie "Eine gebrochene Frau" oder große gesellschaftspolitische Dokumentationen wie ihre Bücher über das Alter und den Tod - immer noch überschattet wird von der gigantischen Leistung "Das andere Geschlecht", so sind viele andere Konturen ihrer Lebenswirklichkeit der Allgemeinheit weniger bekannt.
Sie öffnete die Tür nicht nur für uns - die Frauen meiner : Generation, die ihr auf diesem Weg folgten - durch ihre autobiographischen Lebens-Zeugnisse; sie lehrte, ja, führte uns am eigenen Beispiel vor, wie wir als freie Frauen zu leben vermöchten. Wie wir uns zum Risiko und zur Kühnheit bekennen könnten. Bei ihrem Lebensentwurf entschied sich Beauvoir für das Glück, für "le bonheur", wie sie es nannte.
Ein seltsamer Entschluss, so könnte man meinen, für eine Person, die so hart arbeitete, so viel produzierte, so häufig öffentliche  Verantwortlichkeit einem literarischen Rückzug vorzog. Aber für sie bedeutete dieser Entschluss wahres Leben. Teilzuhaben am Lebensnerv ihrer Zeit, an den Ursachen, Krisen, Gefahren und Wagnissen. Während ihrer langjährigen Beziehung zu Sartre flüchtete sie nie in die Ehe. Der inneren Logik dieser großen Zuneigung entsprach die Bejahung anderer Liebesbeziehungen,   befristete wie die zu Nelson Algren, dauerhafte wie die zu Claude Lanzmann oder Sylvie Le Bon.
Immer gab es diese großartige Integrität. Eine einfache Wohnung, ein großer Raum - das war alles. Sie besaß nichts. Bei der ersten Begegnung mit ihr traf ich den Inbegriff meiner ganzen Hoffnungen. "Ja, sie ist das Wahre", dachte ich. Das war erkennbar in ihrer Höflichkeit, ihrem Wohlwollen, in der Moralität jeder Äußerung, in ihrem literarischen Scharfsinn, in ihrer unerschütterlichen Standfestigkeit. Hier stand das Gewissen Frankreichs, ja, des Westens. Eine große Feministin und eine große Humanistin. In ihrer Person verband sich beides.

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