Münster: Wie konnte das passieren?

Die Gartenlaube, in der Adrian V. seinen Stiefsohn und weitere Jungen missbrauchte. Foto: David Inderlied/Kirchner-Media/imago images
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Adrian V., der IT-Fachmann, der Männer in die Gartenlaube seiner Mutter einlud, um dort mit ihnen seinen zehnjährigen Stiefsohn und weitere Jungen zu missbrauchen, sitzt in Haft. Die Polizei war ihm auf die Spur gekommen, weil die Experten ein Netzwerk durchsucht hatten, auf dem der 27-jährige Adrian V. mit anderen Pädosexuellen kinderpornografisches Material getauscht hatte.

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Sie stießen dabei auf eine IP-Adresse, die zu dem landwirtschaftlichen Betrieb führte, in dem Adrian V. Biogasanlagen steuerte. Die Ermittlungen waren extrem aufwändig, es dauerte Monate, die hochprofessionell verschlüsselten Daten zu entschlüsseln.

Das alles war möglich, weil NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) nach dem Skandal von Lügde den Kampf gegen Kindesmissbrauch zur Chefsache erklärt und die Ressourcen der Polizei massiv aufgestockt hatte. Gerade forderte der Missbrauchsbeauftragte Johannes-Wilhelm Rörig, dass „die 15 anderen Innenminister jetzt dringend nachziehen müssen“. Die Polizei brauche „mehr Personal und muss mit modernster Technik ausgestattet werden“. Das ist richtig und lange überfällig.

Die Daten des Netzwerkes
waren professionell verschlüsselt

Aber der Fahndungserfolg der Polizei, der – wieder einmal – ein ganzes Netzwerk von Tätern aufdeckte, sollte nicht verhindern, die folgende Frage zu stellen: Wie konnte es überhaupt soweit kommen? Adrian V. war schon 2016 und 2017 in zwei Verfahren wegen Besitz und Verbreitung von kinderpornografischem Material verurteilt worden. Zu Bewährungsstrafen. Das ist das erste Problem. Auch der Missbrauchsbeauftragte kritisierte scharf, dass der Besitz von Kinderpornografie „oft nur am unteren Rand der Kriminalität eingestuft“ werde. Rörig forderte, endlich „den Strafrahmen voll auszuschöpfen“. Der liegt bei bis zu fünf Jahren.

Problem Nummer zwei: Trotz der Verurteilungen von Adrian V. sah das Familiengericht keinen Anlass, den zehnjährigen Stiefsohn seinem Einfluss zu entziehen. Im Gegenteil: Im Jahr 2017 wies das Gericht das Jugendamt an, sich aus der Familie zurückzuziehen. Wie kann das sein?

Der Fall erinnert beklemmend an den Fall Staufen. Auch hier entschied das Amtsgericht Freiburg, dass der Sohn von Berrin T., die mit dem verurteilten Kindesmissbraucher Christian L. zusammenlebt, in der Familie bleiben soll. Auflage: Die Mutter soll ihren Sohn von Christian L. „fernhalten“. Die Folgen sind bekannt: Christian L. vergeht sich an dem Jungen, gemeinsam „verkauft“ das Paar das Kind an andere Männer. Auch das Jugendamt schreitet nicht ein, als der misshandelte Junge sich einem Mitschüler anvertraut, weil es den Hinweis für zu „vage“ hält. Erst nach jahrelangem Martyrium des Kindes werden Mutter und Stiefvater verhaftet.  

Mütter, die wissentlich mit Pädokriminellen zusammenleben, schützen die Kinder nicht

Wann begreifen RichterInnen und Jugendämter endlich, dass der Besitz von Kinderpornografie kein Kavaliersdelikt ist, sondern eine schwere Straftat, weil diese Bilder reale und schwere sexuelle Gewalt an Kindern zeigen? Aus Worten werden bekanntlich Taten, aus Bildern auch. Und: Wann verstehen sie endlich, dass Mütter, die wissentlich mit pädokriminellen Tätern zusammenleben, ihre Kinder nicht schützen (können)? Diese Frauen, oft selbst Missbrauchsopfer, sind in psychischen Abhängigkeitsverhältnissen verstrickt, die sie wegschauen oder, wie im Fall Staufen, schlimmstenfalls mitmachen lassen.  

Eine gute Ausstattung der Polizei mit Personal, Ausrüstung und Befugnissen ist extrem wichtig. Mindestens genauso wichtig ist aber, dass die zuständigen Behörden Opferschutz endlich vor Täterschutz stellen. Und dass sie begreifen, dass und warum Mütter zu Mittäterinnen werden. Dann könnten viele Taten von vornherein verhindert werden. Auch der Missbrauch in Münster.

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TV-Doku: Die Kinder von Lügde

„Für die Würde der Kinder“ - diese Installation aus Schuhen erinnert an die Opfer.
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Das kleinste Paar Schuhe ist himmelblau und hat Schuhgröße 22. Die Schühchen würden einer Dreijährigen passen. Das kleinste Kind, an dem sich Andreas V. in seiner Bruchbude auf dem Campingplatz von Lügde verging, ist gerade mal ein Jahr älter. Ein vierjähriges Mädchen war das jüngste Opfer des Serientäters und seiner Komplizen, das älteste 13.

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Man kann und mag sich kaum vorstellen, was auf diesem Campingplatz passiert ist. Aber wenn man auf diese 50 Paar Schuhe schaut, die mitten in der Hamelner Fußgängerzone vor der Marktkirche St. Nikolai aufgestellt sind, rückt das Grauen beklemmend nah. Blaue Gummistiefel mit Dinosauriern drauf, kleine rosa Crocs, noch kleinere weiße Ballerinas, lila Schläppchen mit schielenden Stoffaugen. Und in jedem dieser Schuhpaare steckt ein Kind. Das zu begreifen, ganz konkret, darum geht es hier bei dieser Aktion.

Als die Kirchenglocke fünf schlägt, ergreift eine kleine, zarte Frau um die fünfzig das Wort. „Wenn von sexuellem Missbrauch die Rede ist, geht es häufig um die Täter“, sagt sie, so laut sie kann, in Richtung der vorbei­eilenden Passanten. „Uns geht es um die Kinder.“ Und dann schweigen die rund 30 Frauen und Männer, die sich um die Schuhe herum aufgestellt haben. Ihre Transparente bilden die Außenwände dieser ungewöhnlichen Installation. „Entsetzen, Trauer, Scham“ steht darauf, „Für die Würde der Kinder“ und „Schweigen für die Kinder von Lügde“.

Ina und Andreas Tolksdorf. Foto: Clara Fischlein
Ina und Andreas Tolksdorf. Foto: Clara Fischlein

An jedem ersten Mittwoch im Monat stehen sie hier und schweigen eine halbe Stunde lang. Warum Schweigen? Haben die Kinder, die Opfer von Andre­as V. geworden sind, nicht viel zu lange geschwiegen? Und erst recht die Leute auf dem Campingplatz, die vom Treiben des Täters doch etwas mitbekommen haben müssen? Ist es nicht gerade das Schweigen, sei es aus Angst oder aus Gleichgültigkeit, das Aufklärung verhindert? Ja, eigentlich.  

Aber nachdem der Fall Lügde im Januar 2019 bekannt wurde, wurde pausenlos geredet. Eine Schlagzeile jagte die nächste, eine Pressekonferenz folgte der anderen, NRW-Innenminister Reul gab hastig Statement nach Statement ab. Es war ja auch schockierend, was da alles ans Tageslicht kam. Das Hamelner Jugendamt, das diesem verwahrlosten Mann ohne eigenes Einkommen allen Ernstes ein Pflegekind anvertraut und anschließend die Akten frisiert hatte; zig Hinweise auf sexuellen Missbrauch, die alle zwischen Jugendamt und Polizei versandet waren; der Koffer mit 155 CDs, der aus dem Polizeirevier verschwunden war; weitere CDs, die Bauarbeiter erst bei den Abbrucharbeiten entdeckten. Über all das wurde geredet. Nur über eins nicht: die Kinder.

„Die Kinder sind aus dem Fokus gerutscht“, sagt Ina Tolksdorf, eine der InitiatorInnen der Schuh-­Aktion. Wie geht es den Kindern jetzt? Bekommen sie Unterstützung, zum Beispiel eine Therapie? Werden sie von der Polizei einfühlsam und kindgerecht befragt? Müssen sie im Prozess, der jetzt beginnen soll, noch einmal aus­sagen?

Es wurde über alles geredet: das Jugendamt, die Polizei, die CDs. Nur nicht über die Kinder.

An einem Samstagabend im März saßen Ina Tolksdorf, ihr Mann Andreas und FreundInnen zusammen. Sie fragten sich: Was wäre eigentlich, wenn das unseren Kindern passieren würde? Die würden doch was sagen. Ganz sicher. Oder? Sie redeten darüber, was sie über die Eltern vom Campingplatz gehört hatten. Dass sich eine Mutter von vier Kindern, die alle Opfer geworden waren, vor lauter Scham nicht mehr aus dem Haus traut, weil sie es nicht verhindert hat. Dass es den Kindern immer schlechter geht. Und sie überlegten sich, was sie tun könnten.

Am nächsten Mittwoch, dem 27. März, standen sie zum ersten Mal mit den Kinderschuhen in der Hamelner Fußgängerzone und schwiegen. Zuerst an jedem Mittwoch, zehn Wochen lang, seit Juni dann an jedem ersten des Monats. Ihr Schweigen sollte Raum schaffen, um über etwas anderes zu sprechen als über Suspendierungen und Rücktrittsforderungen. Sie nannten ihre Initiative „Die Kinder von Lügde“.

Eine, die sich zu ihnen stellte und endlich sprach, ist Michaela Vandieken. Auch sie ist ein Opfer von Andreas V.. Sie war elf, als er sie zum ersten Mal betatschte und 16, als er sie zum ersten Mal vergewaltigte. Im Jahr 1991 war das, und es zeigt, wie lange der heute 56-Jährige schon Kinder missbraucht. Michaela ist heute 39, und wenn das jüngste der 46 aktuell bekannten Opfer von Andreas V. heute 18 ist, stellt sich eine weitere Frage: Wie viele gibt es eigentlich noch, aus der Zeit dazwischen?

Michaela ist heute 39. Sie war 16, als Andreas V. sie im Jahr 1991 zum ersten Mal vergewaltigte.

Michaela Vandieken, geschiedene Mutter von vier Kindern, hat gehört, dass die Polizei die Kinder teilweise mehrfach vernommen hat, weil die Aussagen nicht per Video aufgenommen wurden. „Wie kann das sein?“ fragt sie. Sie selbst hat fünf Stunden lang ausgesagt. „Dreimal bin ich in der Zeit abgekippt“, erzählt sie. Sie weiß, wie das ist, wenn man alles wieder hochholen muss, „was ich die ganze Zeit verdrängt hatte“.

Ihr Vater war ein Freund von Andreas V. gewesen, der Missbrauch und später die Vergewaltigungen passierten in ihrem Elternhaus. Freund Andreas, genannt Addi, übernachtete dort des öfteren, am liebsten im Zimmer der Tochter. „Er hat immer gesagt, mir würde sowieso keiner glauben.“ Da hatte Addi recht.

Als die Tochter erzählte, der Addi würde sie anfassen und dass sie nicht mehr wolle, dass er in ihrem Zimmer schläft, tat der Vater das ab. Alles Quatsch. In Wahrheit wusste er, was los war. 28 Jahre später gibt er es zu, vor den laufenden Kameras von Stern-TV. Ein lallender, offensichtlich betrunkener Mann im Unterhemd mit Bierbauch, der kaum einen geraden Satz auf die Reihe bekommt.

"Mir hat es mein Leben kaputtgemacht. Beziehungen halten einfach nicht."

Michaela Vandieken ist heute klar, dass sie das, was nach ihr kam, theoretisch hätte verhindern können. Doch sie weiß auch, dass sie praktisch keine Chance gehabt hätte. Eine 16-Jährige gegen den 28-jährigen Kumpel ihres Vaters, die beide alles abgestritten hätten. Aussage gegen Aussagen. Mitte der 1990er, auf dem Höhepunkt des „Missbrauch des Missbrauchs“-Backlash, bei dem „fortschrittliche“ PädagogInnen gemeinsam mit einschlägigen GutachterInnen und JournalistInnen Missbrauchs-Opfer und ihre UnterstützerInnen als hysterisch diffamierten und fehlgeleiteten „feministischen Aufklärungseifer“ beklagten. „Das wäre doch im Winde verweht“, sagt Michaela Vandieken, und höchstwahrscheinlich hat sie recht.

Auch drei Jahrzehnte später erklärt die Polizei, die die Ermittlungen gegen Michaelas Vater gerade eingestellt hat: „Anhaltspunkte dafür, dass der Hauptbeschuldigte bei den von der Zeugin geschilderten sexuellen Handlungen Gewalt oder Drohungen anwandte, haben die Ermittlungen nicht ergeben.“ Anno 2019 hat so mancher Staatsanwalt offenbar immer noch nicht verstanden, was „Gewalt“ ist und was Gewalt mit Macht zu tun hat.

„Mir hat es mein Leben kaputtgemacht“, erzählt Michaela Vandieken. „Beziehungen halten einfach nicht. Da kommen die Bilder wieder hoch. Man sieht immer den Täter, nicht den Menschen, den man eigentlich liebt.“

Was sie jetzt noch tun kann und will, ist, die Tortur der Aussage vor Gericht noch einmal über sich ergehen zu lassen. Damit klar wird, „wie lange das System Andreas V. schon angelegt ist“, wie Vandiekens Rechtsanwalt Roman von Alvensleben erklärt.

Manche Kinder wurden viermal vernommen, weil die Polizei keine Videoausrüstung hatte.

Michaela hat gehört, dass die Polizei den Eltern der Kinder davon abrät, schon jetzt mit einer Therapie anzufangen, weil das angeblich die Aussage verfälschen könne. Sie hat auch gehört, dass einige Kinder schon in die Psychiatrie eingewiesen wurden. „Wo kriegen die Kinder Hilfe?“, fragt Michaela.

Diese Frage stellt sich auch Rechtsanwalt Roman von Alvensleben. Er vertritt das Mädchen, dessen Mutter mit ihrer Anzeige den Fall Lügde im Oktober 2018 endlich ins Rollen brachte. „Meine Mandantin“, sagt der Hamelner Rechtsanwalt und meint damit ein zehnjähriges Mädchen. Daran, wie mit seiner Mandantin verfahren wurde, hat der Anwalt einiges zu kritisieren. Eigentlich, sagt er, müsse die Vernehmung eines Kindes in Fachkommissariaten erfolgen, durch geschulte PolizistInnen, in speziellen Zimmern mit Spielzeug, Puppen und Malsachen, damit sich das Kind kindgerecht ausdrücken kann. Die Vernehmung müsse per Video aufgenommen werden, um dem Kind weitere Aussagen zu ersparen. Doch all das sei bei den ersten Vernehmungen nicht passiert. „Die in Detmold und Bad Pyrmont haben mir auf meine Nachfrage nach so einem Zimmer gesagt: Haben wir nicht!“ Erst als die Ermittlungen an die Polizei Bielefeld abgegeben wurden, stand ein entsprechender Raum zur Verfügung. Bis dahin war aber so manches Kind bis zu viermal vernommen worden.

Und dann ist da noch die Sache mit der Therapie. Zwar hat die NRW-Opferschutzbeauftragte Elisabeth Auchter-Mainz, die 2017 erstmalig eingesetzt wurde, ab Februar 2019 sukzessive alle Eltern von Lügde-Opfern angeschrieben und sie informiert: Wer ist zuständig für einen Antrag nach dem Opferentschädigungsgesetz? Wo kann die Familie eine psychosoziale Prozessbegleitung bekommen, also jemanden, der Eltern und Kind erklärt, was laut Strafprozessordnung bei einer Gerichtsverhandlung auf sie zukommt und sie im Gerichtssaal begleitet? Wie lautet die Anschrift und Durchwahl der Trauma-Ambulanz des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe?

Die Polizei riet von einer Therapie für die missbrauchten Kinder vor Prozessende ab.

Das alles ist neu und mehr, als noch vor ein paar Jahren in Sachen Opferschutz passiert wäre. Aber reicht es? Funktioniert das für Familien, die eine, auf Soziologendeutsch formuliert, „niedrigschwelligere Ansprache“ bräuchten? „Ich hätte erwartet, dass die Landkreise, in deren Verantwortung das alles passiert ist, zwei Psychologen direkt zu den Familien nach Hause schicken“, sagt Rechtsanwalt von Alvensleben. „Anstatt ihnen zu sagen: ‚Hier haben wir ein paar Broschüren!’“

Tatsächlich rückte die NRW-Opferschutzbeauftragte am 2. und 3. Mai in Lügde an, um die Familien noch einmal persönlich zu beraten. Es ist wohl nicht allzu verwegen zu vermuten, dass dieser Besuch zu diesem Zeitpunkt kein Zufall war: Fünf Wochen zuvor hatte die Schuh-Aktion in der Hamelner Fußgängerzone begonnen. Die Lokalpresse stieg ein und zwei Wochen später auch der WDR, der sein donnerstägliches „Stadtgespräch“ nach Lügde holte.

Dort meldete sich auch Ina Tolksdorf zu Wort und erinnerte die TeilnehmerInnen, darunter auch die NRW-Opferschutzbeauftragte, an die vergessenen Opfer.

Doch auch die Bielefelder Polizei hätte es erklärtermaßen am liebsten, wenn die Missbrauchsopfer mit ihrer Therapie warten würden, bis der Prozess vorbei ist. „Ein Therapieeinstieg ist aus ermittlungstaktischen Gründen vor dem letzten Gerichtstermin eher ungünstig, da die Glaubwürdigkeit der Aussage angezweifelt werden könnte“, heißt es aus dem Polizeipräsidium. Und das ist kein Bielefelder Hirngespinst. Tatsächlich haben es sich Verteidiger in Missbrauchs-Prozessen längst zur Strategie gemacht, die Aussage der Opfer zu zerpflücken, indem sie so genannte Suggestionen unterstellen. Eine Frau, die als Mädchen missbraucht wurde, spricht in einer Selbsthilfegruppe über ihre Erlebnisse und erfährt von denen der anderen Frauen? Suggestion! Eine andere Frau liest Fachliteratur über sexuellen Missbrauch inklusive Fallbeispiele? Suggestion! Ein Mädchen vertraut eine orale Vergewaltigung durch einen Mitschüler ihren Schulfreundinnen an und tauscht sich darüber aus, ob sie Anzeige erstatten soll? Suggestion!

Offenbar sind die Strategien skrupelloser Strafverteidiger im System angekommen.

EMMA berichtete über solche Fälle erstmals im Jahr 2011, und offenbar sind diese Strategien skrupelloser Verteidiger inzwischen so weit ins System gedrungen, dass selbst in einem Fall wie dem von Lügde dringend zur Vorsicht in Sachen Therapie geraten wird. In einem Fall mit 46 potenziellen ZeugInnen plus Videoaufnahmen, die die Taten dokumentieren.

Anwalt von Alvensleben hat für seine zehnjährige Mandantin einen Therapieplatz plus Kostenübernahme durch den Landkreis erkämpft. Er hat einschlägige Erfahrung: Er hat Kader K. vertreten, jene kurdische Frau, die von ihrem Mann mit seinem Auto an einem Seil durch Hameln geschleift wurde und die nur durch ein Wunder überlebt hatte. Er weiß, wen er anrufen muss. Andere Eltern in Lügde, die einen weniger erfahrenen und resoluten Beistand haben, sind hingegen ratlos. „Meine Kinder schlafen nur noch mit Licht. Sie fangen an, sich selber zu verletzen, schlagen auf sich ein“, erzählt eine Mutter anonym im Fernsehen. Anstelle einer Therapie hat sie ihnen „ein Tagebuch gekauft, da sollen sie reinschreiben. Die schlechten Tage oder die schlechten Gedanken, die sie haben.“

Ab und zu, das haben Ina Tolksdorf und ihre MitstreiterInnen erreicht, wird jetzt eben doch über die Kinder gesprochen. Auch an diesem Mittwochmittag. Ina Tolksdorf und ihre MitstreiterInnen sind heute zunächst in die Landeshauptstadt Hannover gefahren, um ihre Schuh-Installation direkt vor dem niedersächsischen Landtag aufzubauen. Am Fuße der imposanten Treppe zum ehrwürdigen Landtag auf dem Hannah-Arendt-Platz. Die „Banalität des Bösen“ wütete auch auf dem Campingplatz von Lügde. Was Addi V. getan hat, mag monströs erscheinen. Aber es ist entsetzlich normal.

„Lügde ist überall“, sagt auch Markus Diegmann, der heute mit seinem Wohnmobil vor dem Landtag Halt gemacht hat. Seit drei Jahren fährt Diegmann auf seiner „Tour 41“ durch Deutschland, stellt sich auf Plätze und sammelt Unterschriften für die Abschaffung der Verjährungsfristen bei sexuellem Missbrauch. 41, das ist die Zahl der Missbrauchsfälle, die Tag für Tag in Deutschland angezeigt werden, rund 14.000 pro Jahr. Von der viel, viel höheren Dunkelziffer ganz zu schweigen. Markus Diegmann ist auch so ein Dunkelziffer-Fall. Drei Täter, vom Schießbudenmann auf der Kirmes bis zum Untermieter der Eltern, und keine einzige Anzeige, weil er es entweder nicht erzählt hat oder ihm keiner glaubte. Als er endlich soweit war, waren die Taten verjährt. Jetzt kämpft er um Zahlungen nach dem Opferentschädigungsgesetz. Aber weil es nie einen Gerichtsprozess gegeben hat, hat er so gut wie keine Chance.

Ein Verdacht in einem Aktenordner in Stadt A kann in Stadt B nicht abgerufen werden

Auch der Missbrauch von Michaela Vandieken sei verjährt, erklärt die Staatsanwaltschaft. Ihrem Anwalt stellen sich da allerdings gewisse Fragen, denn seit 2015 beginnt die Verjährung bei „schweren Sexualstraftaten“ erst mit dem 30. Lebensjahr. Bewertet die Staatsanwaltschaft das, was Michaela angetan wurde, womöglich nicht als „schwer“? Anwalt von Alvensleben, der bei Redaktionsschluss noch keine Akteneinsicht hatte, will dem nachgehen. Vorsorglich hat er Beschwerde eingelegt.

Weil Lügde überall ist, sind die Tolksdorfs und ihre Initiative heute Mittag hier auf dem Hannah-Arendt-Platz vor dem Landtag. Sie wollen, dass die PolitikerInnen ihnen Rede und Antwort stehen. Dass sie sagen, welche Lehren sie aus der Katastrophe ziehen und was sie ändern wollen. Und die Abgeordneten kommen, von den Grünen bis zur AfD. Es sind zu viele Kameras hier, um sich wegzuducken.

„Es hat uns alle sehr bewegt, dass das in diesem Ausmaß möglich war“, sagt Landtagspräsidentin Gabriele Andretta, die als erste den Weg zu der Initiative findet. „Es muss jetzt konkrete Maßnahmen geben, guter Wille allein reicht nicht.“

Uwe Schwarz, sozial- und gesundheitspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, wird konkreter. „Die Jugendämter sind personell unterbesetzt und gnadenlos überfordert“, sagt er. Die Grüne Anja Piel stimmt ihm zu. „Wir müssen etwas an den Fallzahlen tun“, sagt sie. „Kein Mitarbeiter eines Jugendamts dürfte mehr als 80 Fälle bearbeiten.“ Hinzu kommt: Die Jugendämter sind untereinander nicht vernetzt. Ein Verdacht, der in einem Aktenordner in Stadt A landet, kann in der Nachbarstadt B nicht abgerufen werden. Wenn dann noch zwei verschiedene Bundesländer im Spiel sind wie im Fall Lügde – der Campingplatz liegt in NRW, das Jugendamt in Niedersachsen – dann geht gar nichts mehr.

Kein Mitarbeiter eines Jugendamts dürfte eigentlich mehr als 80 Fälle bearbeiten.

Eine weitere Baustelle: die Schulen. Die Kinder von Lügde, zumindest die, die schon alt genug waren, haben in Schulklassen gesessen. Doch offensichtlich hat keine Lehrerin, kein Schulsozialarbeiter etwas bemerkt. Und falls doch, nichts unternommen. „Jede Schule muss einen 10-Punkte-Plan haben, wie sie im Fall eines Missbrauchs zu reagieren hat“, sagt die Grüne Piel.

Theoretisch gibt es einen solchen Plan schon längst. Der Missbrauchs-Beauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, hat im September 2016 im Rahmen seiner Kampagne „Schule gegen sexuelle Gewalt“ begonnen, alle Schulen mit einem Präventions-Paket auszustatten. Nur muss das Wissen darüber, wie PädagogInnen sexuellen Missbrauch erkennen, und was genau sie dann tun können, den LehrerInnen auch vermittelt werden. Aber da hakt es, und zwar nicht nur am Geld, das die Schule für Schulungen durch Fachleute ausgeben müsste, aber in der Regel gar nicht hat.

„Sexueller Missbrauch war vor Lügde gar kein Thema für mich“, gibt Ulrike Lüthgen-Frieß zu. Es ist die kleine zarte Frau, die ein paar Stunden später, um Punkt 17 Uhr, in Hameln die Schweigeaktion mit ihrer Ansprache eröffnen wird. Ulrike Lüthgen-Frieß ist Lehrerin und kann verstehen, warum ihre KollegInnen sich nicht auch noch mit diesem harten Thema belasten wollen. „Wir haben inzwischen 30 bis 50 Prozent verhaltensauffällige Kinder in den Klassen“, erzählt sie. Die zu schlichtenden Konflikte würden immer härter, die Elternarbeit immer schwieriger, der Verwaltungskram immer aufwändiger. „Die Bereitschaft der Kollegen sich fortzubilden, tendiert gegen Null.“

Die Bereitsschaft der Lehrer, sich in Sachen Missbrauch fortzubilden, ist gering

Das will Ulrike Lüthgen-Frieß jetzt ändern. Sie wird im Präventionsrat sitzen, der im Landkreis Hameln-Pyrmont als Folge des Skandals gegründet wurde. LehrerInnen, ErzieherInnen, SozialarbeiterInnen, PolizistInnen und auch Opfer werden gemeinsam ein Konzept erarbeiten. Ziel: „Jedes Kind muss im Kindergarten und in der Schule immer wieder altersangemessen und in vertrauensvoller Atmosphäre über sexuellen Missbrauch aufgeklärt werden: Was ist normal – und wo werde ich gegen meinen Willen angefasst?“, sagt Lüthgen-Frieß.

Als die Lehrerin später, zusammen mit den anderen Frauen und Männern der Initiative, vor der Hamelner St. Nicolai-Kirche steht und schweigt, stellen sich zwei ältere Frauen dazu. Die Schweigeaktion hat dafür gesorgt, dass sie jetzt sprechen können. Sabine war elf, als sie vergewaltigt wurde. Es war ein fremder Mann, aber vorher war schon der Vater übergriffig geworden, hatte sie betascht und ihr seine Zunge in den Mund geschoben. Später, in ihrer Lehrzeit, „gab es viele sexuelle Übergriffe und ich dachte: Hört das denn nie auf?“

Sabine, heute 61, hat von der Schuh-Aktion in der Zeitung gelesen, zum dritten Mal ist sie heute dabei. Hier hat sie Lisa kennengelernt. Bei Lisa war es ein Cousin, sie war sechs, er 16. Damals hat sie noch in Kirgisistan gelebt, in einer streng katholischen Familie. Sie war 33, als sie es ihren Eltern erzählte. Reaktion des Vaters: Man solle die Sache ruhen lassen, es sei schließlich Familie.

Heute spricht Lisa, auch über 60, mit Sabine darüber, warum es einen nie in Ruhe lässt. Das kaputte Urvertrauen, das kaputte Selbstwertgefühl, die kaputten Beziehungen. Der Chef, gegen den man sich nicht wehren kann, wie man sich damals als Kind nicht wehren konnte.

„Ich kann mich in die Kinder reinversetzen“, sagt Sabine. „Ich will die Leute und die Politik darauf aufmerksam machen, dass diese Kinder Hilfe brauchen,“ sagt Lisa. Dann stellen sie sich wieder zu den anderen und schweigen sehr laut.

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