TV-Doku: Die Kinder von Lügde

„Für die Würde der Kinder“ - diese Installation aus Schuhen erinnert an die Opfer.
Artikel teilen

Das kleinste Paar Schuhe ist himmelblau und hat Schuhgröße 22. Die Schühchen würden einer Dreijährigen passen. Das kleinste Kind, an dem sich Andreas V. in seiner Bruchbude auf dem Campingplatz von Lügde verging, ist gerade mal ein Jahr älter. Ein vierjähriges Mädchen war das jüngste Opfer des Serientäters und seiner Komplizen, das älteste 13.

Anzeige

Man kann und mag sich kaum vorstellen, was auf diesem Campingplatz passiert ist. Aber wenn man auf diese 50 Paar Schuhe schaut, die mitten in der Hamelner Fußgängerzone vor der Marktkirche St. Nikolai aufgestellt sind, rückt das Grauen beklemmend nah. Blaue Gummistiefel mit Dinosauriern drauf, kleine rosa Crocs, noch kleinere weiße Ballerinas, lila Schläppchen mit schielenden Stoffaugen. Und in jedem dieser Schuhpaare steckt ein Kind. Das zu begreifen, ganz konkret, darum geht es hier bei dieser Aktion.

Als die Kirchenglocke fünf schlägt, ergreift eine kleine, zarte Frau um die fünfzig das Wort. „Wenn von sexuellem Missbrauch die Rede ist, geht es häufig um die Täter“, sagt sie, so laut sie kann, in Richtung der vorbei­eilenden Passanten. „Uns geht es um die Kinder.“ Und dann schweigen die rund 30 Frauen und Männer, die sich um die Schuhe herum aufgestellt haben. Ihre Transparente bilden die Außenwände dieser ungewöhnlichen Installation. „Entsetzen, Trauer, Scham“ steht darauf, „Für die Würde der Kinder“ und „Schweigen für die Kinder von Lügde“.

Ina und Andreas Tolksdorf. Foto: Clara Fischlein
Ina und Andreas Tolksdorf. Foto: Clara Fischlein

An jedem ersten Mittwoch im Monat stehen sie hier und schweigen eine halbe Stunde lang. Warum Schweigen? Haben die Kinder, die Opfer von Andre­as V. geworden sind, nicht viel zu lange geschwiegen? Und erst recht die Leute auf dem Campingplatz, die vom Treiben des Täters doch etwas mitbekommen haben müssen? Ist es nicht gerade das Schweigen, sei es aus Angst oder aus Gleichgültigkeit, das Aufklärung verhindert? Ja, eigentlich.  

Aber nachdem der Fall Lügde im Januar 2019 bekannt wurde, wurde pausenlos geredet. Eine Schlagzeile jagte die nächste, eine Pressekonferenz folgte der anderen, NRW-Innenminister Reul gab hastig Statement nach Statement ab. Es war ja auch schockierend, was da alles ans Tageslicht kam. Das Hamelner Jugendamt, das diesem verwahrlosten Mann ohne eigenes Einkommen allen Ernstes ein Pflegekind anvertraut und anschließend die Akten frisiert hatte; zig Hinweise auf sexuellen Missbrauch, die alle zwischen Jugendamt und Polizei versandet waren; der Koffer mit 155 CDs, der aus dem Polizeirevier verschwunden war; weitere CDs, die Bauarbeiter erst bei den Abbrucharbeiten entdeckten. Über all das wurde geredet. Nur über eins nicht: die Kinder.

„Die Kinder sind aus dem Fokus gerutscht“, sagt Ina Tolksdorf, eine der InitiatorInnen der Schuh-­Aktion. Wie geht es den Kindern jetzt? Bekommen sie Unterstützung, zum Beispiel eine Therapie? Werden sie von der Polizei einfühlsam und kindgerecht befragt? Müssen sie im Prozess, der jetzt beginnen soll, noch einmal aus­sagen?

Es wurde über alles geredet: das Jugendamt, die Polizei, die CDs. Nur nicht über die Kinder.

An einem Samstagabend im März saßen Ina Tolksdorf, ihr Mann Andreas und FreundInnen zusammen. Sie fragten sich: Was wäre eigentlich, wenn das unseren Kindern passieren würde? Die würden doch was sagen. Ganz sicher. Oder? Sie redeten darüber, was sie über die Eltern vom Campingplatz gehört hatten. Dass sich eine Mutter von vier Kindern, die alle Opfer geworden waren, vor lauter Scham nicht mehr aus dem Haus traut, weil sie es nicht verhindert hat. Dass es den Kindern immer schlechter geht. Und sie überlegten sich, was sie tun könnten.

Am nächsten Mittwoch, dem 27. März, standen sie zum ersten Mal mit den Kinderschuhen in der Hamelner Fußgängerzone und schwiegen. Zuerst an jedem Mittwoch, zehn Wochen lang, seit Juni dann an jedem ersten des Monats. Ihr Schweigen sollte Raum schaffen, um über etwas anderes zu sprechen als über Suspendierungen und Rücktrittsforderungen. Sie nannten ihre Initiative „Die Kinder von Lügde“.

Eine, die sich zu ihnen stellte und endlich sprach, ist Michaela Vandieken. Auch sie ist ein Opfer von Andreas V.. Sie war elf, als er sie zum ersten Mal betatschte und 16, als er sie zum ersten Mal vergewaltigte. Im Jahr 1991 war das, und es zeigt, wie lange der heute 56-Jährige schon Kinder missbraucht. Michaela ist heute 39, und wenn das jüngste der 46 aktuell bekannten Opfer von Andreas V. heute 18 ist, stellt sich eine weitere Frage: Wie viele gibt es eigentlich noch, aus der Zeit dazwischen?

Michaela ist heute 39. Sie war 16, als Andreas V. sie im Jahr 1991 zum ersten Mal vergewaltigte.

Michaela Vandieken, geschiedene Mutter von vier Kindern, hat gehört, dass die Polizei die Kinder teilweise mehrfach vernommen hat, weil die Aussagen nicht per Video aufgenommen wurden. „Wie kann das sein?“ fragt sie. Sie selbst hat fünf Stunden lang ausgesagt. „Dreimal bin ich in der Zeit abgekippt“, erzählt sie. Sie weiß, wie das ist, wenn man alles wieder hochholen muss, „was ich die ganze Zeit verdrängt hatte“.

Ihr Vater war ein Freund von Andreas V. gewesen, der Missbrauch und später die Vergewaltigungen passierten in ihrem Elternhaus. Freund Andreas, genannt Addi, übernachtete dort des öfteren, am liebsten im Zimmer der Tochter. „Er hat immer gesagt, mir würde sowieso keiner glauben.“ Da hatte Addi recht.

Als die Tochter erzählte, der Addi würde sie anfassen und dass sie nicht mehr wolle, dass er in ihrem Zimmer schläft, tat der Vater das ab. Alles Quatsch. In Wahrheit wusste er, was los war. 28 Jahre später gibt er es zu, vor den laufenden Kameras von Stern-TV. Ein lallender, offensichtlich betrunkener Mann im Unterhemd mit Bierbauch, der kaum einen geraden Satz auf die Reihe bekommt.

"Mir hat es mein Leben kaputtgemacht. Beziehungen halten einfach nicht."

Michaela Vandieken ist heute klar, dass sie das, was nach ihr kam, theoretisch hätte verhindern können. Doch sie weiß auch, dass sie praktisch keine Chance gehabt hätte. Eine 16-Jährige gegen den 28-jährigen Kumpel ihres Vaters, die beide alles abgestritten hätten. Aussage gegen Aussagen. Mitte der 1990er, auf dem Höhepunkt des „Missbrauch des Missbrauchs“-Backlash, bei dem „fortschrittliche“ PädagogInnen gemeinsam mit einschlägigen GutachterInnen und JournalistInnen Missbrauchs-Opfer und ihre UnterstützerInnen als hysterisch diffamierten und fehlgeleiteten „feministischen Aufklärungseifer“ beklagten. „Das wäre doch im Winde verweht“, sagt Michaela Vandieken, und höchstwahrscheinlich hat sie recht.

Auch drei Jahrzehnte später erklärt die Polizei, die die Ermittlungen gegen Michaelas Vater gerade eingestellt hat: „Anhaltspunkte dafür, dass der Hauptbeschuldigte bei den von der Zeugin geschilderten sexuellen Handlungen Gewalt oder Drohungen anwandte, haben die Ermittlungen nicht ergeben.“ Anno 2019 hat so mancher Staatsanwalt offenbar immer noch nicht verstanden, was „Gewalt“ ist und was Gewalt mit Macht zu tun hat.

„Mir hat es mein Leben kaputtgemacht“, erzählt Michaela Vandieken. „Beziehungen halten einfach nicht. Da kommen die Bilder wieder hoch. Man sieht immer den Täter, nicht den Menschen, den man eigentlich liebt.“

Was sie jetzt noch tun kann und will, ist, die Tortur der Aussage vor Gericht noch einmal über sich ergehen zu lassen. Damit klar wird, „wie lange das System Andreas V. schon angelegt ist“, wie Vandiekens Rechtsanwalt Roman von Alvensleben erklärt.

Manche Kinder wurden viermal vernommen, weil die Polizei keine Videoausrüstung hatte.

Michaela hat gehört, dass die Polizei den Eltern der Kinder davon abrät, schon jetzt mit einer Therapie anzufangen, weil das angeblich die Aussage verfälschen könne. Sie hat auch gehört, dass einige Kinder schon in die Psychiatrie eingewiesen wurden. „Wo kriegen die Kinder Hilfe?“, fragt Michaela.

Diese Frage stellt sich auch Rechtsanwalt Roman von Alvensleben. Er vertritt das Mädchen, dessen Mutter mit ihrer Anzeige den Fall Lügde im Oktober 2018 endlich ins Rollen brachte. „Meine Mandantin“, sagt der Hamelner Rechtsanwalt und meint damit ein zehnjähriges Mädchen. Daran, wie mit seiner Mandantin verfahren wurde, hat der Anwalt einiges zu kritisieren. Eigentlich, sagt er, müsse die Vernehmung eines Kindes in Fachkommissariaten erfolgen, durch geschulte PolizistInnen, in speziellen Zimmern mit Spielzeug, Puppen und Malsachen, damit sich das Kind kindgerecht ausdrücken kann. Die Vernehmung müsse per Video aufgenommen werden, um dem Kind weitere Aussagen zu ersparen. Doch all das sei bei den ersten Vernehmungen nicht passiert. „Die in Detmold und Bad Pyrmont haben mir auf meine Nachfrage nach so einem Zimmer gesagt: Haben wir nicht!“ Erst als die Ermittlungen an die Polizei Bielefeld abgegeben wurden, stand ein entsprechender Raum zur Verfügung. Bis dahin war aber so manches Kind bis zu viermal vernommen worden.

Und dann ist da noch die Sache mit der Therapie. Zwar hat die NRW-Opferschutzbeauftragte Elisabeth Auchter-Mainz, die 2017 erstmalig eingesetzt wurde, ab Februar 2019 sukzessive alle Eltern von Lügde-Opfern angeschrieben und sie informiert: Wer ist zuständig für einen Antrag nach dem Opferentschädigungsgesetz? Wo kann die Familie eine psychosoziale Prozessbegleitung bekommen, also jemanden, der Eltern und Kind erklärt, was laut Strafprozessordnung bei einer Gerichtsverhandlung auf sie zukommt und sie im Gerichtssaal begleitet? Wie lautet die Anschrift und Durchwahl der Trauma-Ambulanz des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe?

Die Polizei riet von einer Therapie für die missbrauchten Kinder vor Prozessende ab.

Das alles ist neu und mehr, als noch vor ein paar Jahren in Sachen Opferschutz passiert wäre. Aber reicht es? Funktioniert das für Familien, die eine, auf Soziologendeutsch formuliert, „niedrigschwelligere Ansprache“ bräuchten? „Ich hätte erwartet, dass die Landkreise, in deren Verantwortung das alles passiert ist, zwei Psychologen direkt zu den Familien nach Hause schicken“, sagt Rechtsanwalt von Alvensleben. „Anstatt ihnen zu sagen: ‚Hier haben wir ein paar Broschüren!’“

Tatsächlich rückte die NRW-Opferschutzbeauftragte am 2. und 3. Mai in Lügde an, um die Familien noch einmal persönlich zu beraten. Es ist wohl nicht allzu verwegen zu vermuten, dass dieser Besuch zu diesem Zeitpunkt kein Zufall war: Fünf Wochen zuvor hatte die Schuh-Aktion in der Hamelner Fußgängerzone begonnen. Die Lokalpresse stieg ein und zwei Wochen später auch der WDR, der sein donnerstägliches „Stadtgespräch“ nach Lügde holte.

Dort meldete sich auch Ina Tolksdorf zu Wort und erinnerte die TeilnehmerInnen, darunter auch die NRW-Opferschutzbeauftragte, an die vergessenen Opfer.

Doch auch die Bielefelder Polizei hätte es erklärtermaßen am liebsten, wenn die Missbrauchsopfer mit ihrer Therapie warten würden, bis der Prozess vorbei ist. „Ein Therapieeinstieg ist aus ermittlungstaktischen Gründen vor dem letzten Gerichtstermin eher ungünstig, da die Glaubwürdigkeit der Aussage angezweifelt werden könnte“, heißt es aus dem Polizeipräsidium. Und das ist kein Bielefelder Hirngespinst. Tatsächlich haben es sich Verteidiger in Missbrauchs-Prozessen längst zur Strategie gemacht, die Aussage der Opfer zu zerpflücken, indem sie so genannte Suggestionen unterstellen. Eine Frau, die als Mädchen missbraucht wurde, spricht in einer Selbsthilfegruppe über ihre Erlebnisse und erfährt von denen der anderen Frauen? Suggestion! Eine andere Frau liest Fachliteratur über sexuellen Missbrauch inklusive Fallbeispiele? Suggestion! Ein Mädchen vertraut eine orale Vergewaltigung durch einen Mitschüler ihren Schulfreundinnen an und tauscht sich darüber aus, ob sie Anzeige erstatten soll? Suggestion!

Offenbar sind die Strategien skrupelloser Strafverteidiger im System angekommen.

EMMA berichtete über solche Fälle erstmals im Jahr 2011, und offenbar sind diese Strategien skrupelloser Verteidiger inzwischen so weit ins System gedrungen, dass selbst in einem Fall wie dem von Lügde dringend zur Vorsicht in Sachen Therapie geraten wird. In einem Fall mit 46 potenziellen ZeugInnen plus Videoaufnahmen, die die Taten dokumentieren.

Anwalt von Alvensleben hat für seine zehnjährige Mandantin einen Therapieplatz plus Kostenübernahme durch den Landkreis erkämpft. Er hat einschlägige Erfahrung: Er hat Kader K. vertreten, jene kurdische Frau, die von ihrem Mann mit seinem Auto an einem Seil durch Hameln geschleift wurde und die nur durch ein Wunder überlebt hatte. Er weiß, wen er anrufen muss. Andere Eltern in Lügde, die einen weniger erfahrenen und resoluten Beistand haben, sind hingegen ratlos. „Meine Kinder schlafen nur noch mit Licht. Sie fangen an, sich selber zu verletzen, schlagen auf sich ein“, erzählt eine Mutter anonym im Fernsehen. Anstelle einer Therapie hat sie ihnen „ein Tagebuch gekauft, da sollen sie reinschreiben. Die schlechten Tage oder die schlechten Gedanken, die sie haben.“

Ab und zu, das haben Ina Tolksdorf und ihre MitstreiterInnen erreicht, wird jetzt eben doch über die Kinder gesprochen. Auch an diesem Mittwochmittag. Ina Tolksdorf und ihre MitstreiterInnen sind heute zunächst in die Landeshauptstadt Hannover gefahren, um ihre Schuh-Installation direkt vor dem niedersächsischen Landtag aufzubauen. Am Fuße der imposanten Treppe zum ehrwürdigen Landtag auf dem Hannah-Arendt-Platz. Die „Banalität des Bösen“ wütete auch auf dem Campingplatz von Lügde. Was Addi V. getan hat, mag monströs erscheinen. Aber es ist entsetzlich normal.

„Lügde ist überall“, sagt auch Markus Diegmann, der heute mit seinem Wohnmobil vor dem Landtag Halt gemacht hat. Seit drei Jahren fährt Diegmann auf seiner „Tour 41“ durch Deutschland, stellt sich auf Plätze und sammelt Unterschriften für die Abschaffung der Verjährungsfristen bei sexuellem Missbrauch. 41, das ist die Zahl der Missbrauchsfälle, die Tag für Tag in Deutschland angezeigt werden, rund 14.000 pro Jahr. Von der viel, viel höheren Dunkelziffer ganz zu schweigen. Markus Diegmann ist auch so ein Dunkelziffer-Fall. Drei Täter, vom Schießbudenmann auf der Kirmes bis zum Untermieter der Eltern, und keine einzige Anzeige, weil er es entweder nicht erzählt hat oder ihm keiner glaubte. Als er endlich soweit war, waren die Taten verjährt. Jetzt kämpft er um Zahlungen nach dem Opferentschädigungsgesetz. Aber weil es nie einen Gerichtsprozess gegeben hat, hat er so gut wie keine Chance.

Ein Verdacht in einem Aktenordner in Stadt A kann in Stadt B nicht abgerufen werden

Auch der Missbrauch von Michaela Vandieken sei verjährt, erklärt die Staatsanwaltschaft. Ihrem Anwalt stellen sich da allerdings gewisse Fragen, denn seit 2015 beginnt die Verjährung bei „schweren Sexualstraftaten“ erst mit dem 30. Lebensjahr. Bewertet die Staatsanwaltschaft das, was Michaela angetan wurde, womöglich nicht als „schwer“? Anwalt von Alvensleben, der bei Redaktionsschluss noch keine Akteneinsicht hatte, will dem nachgehen. Vorsorglich hat er Beschwerde eingelegt.

Weil Lügde überall ist, sind die Tolksdorfs und ihre Initiative heute Mittag hier auf dem Hannah-Arendt-Platz vor dem Landtag. Sie wollen, dass die PolitikerInnen ihnen Rede und Antwort stehen. Dass sie sagen, welche Lehren sie aus der Katastrophe ziehen und was sie ändern wollen. Und die Abgeordneten kommen, von den Grünen bis zur AfD. Es sind zu viele Kameras hier, um sich wegzuducken.

„Es hat uns alle sehr bewegt, dass das in diesem Ausmaß möglich war“, sagt Landtagspräsidentin Gabriele Andretta, die als erste den Weg zu der Initiative findet. „Es muss jetzt konkrete Maßnahmen geben, guter Wille allein reicht nicht.“

Uwe Schwarz, sozial- und gesundheitspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, wird konkreter. „Die Jugendämter sind personell unterbesetzt und gnadenlos überfordert“, sagt er. Die Grüne Anja Piel stimmt ihm zu. „Wir müssen etwas an den Fallzahlen tun“, sagt sie. „Kein Mitarbeiter eines Jugendamts dürfte mehr als 80 Fälle bearbeiten.“ Hinzu kommt: Die Jugendämter sind untereinander nicht vernetzt. Ein Verdacht, der in einem Aktenordner in Stadt A landet, kann in der Nachbarstadt B nicht abgerufen werden. Wenn dann noch zwei verschiedene Bundesländer im Spiel sind wie im Fall Lügde – der Campingplatz liegt in NRW, das Jugendamt in Niedersachsen – dann geht gar nichts mehr.

Kein Mitarbeiter eines Jugendamts dürfte eigentlich mehr als 80 Fälle bearbeiten.

Eine weitere Baustelle: die Schulen. Die Kinder von Lügde, zumindest die, die schon alt genug waren, haben in Schulklassen gesessen. Doch offensichtlich hat keine Lehrerin, kein Schulsozialarbeiter etwas bemerkt. Und falls doch, nichts unternommen. „Jede Schule muss einen 10-Punkte-Plan haben, wie sie im Fall eines Missbrauchs zu reagieren hat“, sagt die Grüne Piel.

Theoretisch gibt es einen solchen Plan schon längst. Der Missbrauchs-Beauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, hat im September 2016 im Rahmen seiner Kampagne „Schule gegen sexuelle Gewalt“ begonnen, alle Schulen mit einem Präventions-Paket auszustatten. Nur muss das Wissen darüber, wie PädagogInnen sexuellen Missbrauch erkennen, und was genau sie dann tun können, den LehrerInnen auch vermittelt werden. Aber da hakt es, und zwar nicht nur am Geld, das die Schule für Schulungen durch Fachleute ausgeben müsste, aber in der Regel gar nicht hat.

„Sexueller Missbrauch war vor Lügde gar kein Thema für mich“, gibt Ulrike Lüthgen-Frieß zu. Es ist die kleine zarte Frau, die ein paar Stunden später, um Punkt 17 Uhr, in Hameln die Schweigeaktion mit ihrer Ansprache eröffnen wird. Ulrike Lüthgen-Frieß ist Lehrerin und kann verstehen, warum ihre KollegInnen sich nicht auch noch mit diesem harten Thema belasten wollen. „Wir haben inzwischen 30 bis 50 Prozent verhaltensauffällige Kinder in den Klassen“, erzählt sie. Die zu schlichtenden Konflikte würden immer härter, die Elternarbeit immer schwieriger, der Verwaltungskram immer aufwändiger. „Die Bereitschaft der Kollegen sich fortzubilden, tendiert gegen Null.“

Die Bereitsschaft der Lehrer, sich in Sachen Missbrauch fortzubilden, ist gering

Das will Ulrike Lüthgen-Frieß jetzt ändern. Sie wird im Präventionsrat sitzen, der im Landkreis Hameln-Pyrmont als Folge des Skandals gegründet wurde. LehrerInnen, ErzieherInnen, SozialarbeiterInnen, PolizistInnen und auch Opfer werden gemeinsam ein Konzept erarbeiten. Ziel: „Jedes Kind muss im Kindergarten und in der Schule immer wieder altersangemessen und in vertrauensvoller Atmosphäre über sexuellen Missbrauch aufgeklärt werden: Was ist normal – und wo werde ich gegen meinen Willen angefasst?“, sagt Lüthgen-Frieß.

Als die Lehrerin später, zusammen mit den anderen Frauen und Männern der Initiative, vor der Hamelner St. Nicolai-Kirche steht und schweigt, stellen sich zwei ältere Frauen dazu. Die Schweigeaktion hat dafür gesorgt, dass sie jetzt sprechen können. Sabine war elf, als sie vergewaltigt wurde. Es war ein fremder Mann, aber vorher war schon der Vater übergriffig geworden, hatte sie betascht und ihr seine Zunge in den Mund geschoben. Später, in ihrer Lehrzeit, „gab es viele sexuelle Übergriffe und ich dachte: Hört das denn nie auf?“

Sabine, heute 61, hat von der Schuh-Aktion in der Zeitung gelesen, zum dritten Mal ist sie heute dabei. Hier hat sie Lisa kennengelernt. Bei Lisa war es ein Cousin, sie war sechs, er 16. Damals hat sie noch in Kirgisistan gelebt, in einer streng katholischen Familie. Sie war 33, als sie es ihren Eltern erzählte. Reaktion des Vaters: Man solle die Sache ruhen lassen, es sei schließlich Familie.

Heute spricht Lisa, auch über 60, mit Sabine darüber, warum es einen nie in Ruhe lässt. Das kaputte Urvertrauen, das kaputte Selbstwertgefühl, die kaputten Beziehungen. Der Chef, gegen den man sich nicht wehren kann, wie man sich damals als Kind nicht wehren konnte.

„Ich kann mich in die Kinder reinversetzen“, sagt Sabine. „Ich will die Leute und die Politik darauf aufmerksam machen, dass diese Kinder Hilfe brauchen,“ sagt Lisa. Dann stellen sie sich wieder zu den anderen und schweigen sehr laut.

Artikel teilen

Die Hatz gegen Traumatologen

Links: Strafverteidiger Johann Schwenn, rechts: Psychiater Max Steller. Fotos: Ronald Wittek/dpa, Alina Novopashina/dpa
Artikel teilen

Die Jura-StudentInnen lauschen gebannt. Kein Wunder, gilt doch der grauhaarige Herr am Rednerpult des Hörsaals als Koryphäe seines Fachs. Bis 2009 Professor für Forensische Psychologie an der renommierten Charité und, das kann man mit Fug und Recht behaupten, Deutschlands bekanntester Verfasser von Glaubhaftigkeitsgutachten. Also hängen die rund 350 jungen Menschen, die an diesem Abend in den Hörsaal II der Kölner Uni gekommen sind, an den Lippen von Prof. Max Steller.

Anzeige

Das Thema des Abends: „Das Problem der Aussage gegen Aussage-Situation“. Es geht um Sexualstraftaten. Zum Beispiel: Eine Frau beschuldigt einen Mann, sie vergewaltigt zu haben. Der aber erklärt, der Geschlechtsverkehr sei einvernehmlich gewesen. Oder: Ein Junge erzählt zu Hause, der Erzieher im Kindergarten habe ihm den Finger in den Po gesteckt. Doch der Erzieher behauptet, der Junge bilde sich das ein. Oder: Eine Frau zeigt ihren Vater an, weil der sie als Kind sexuell missbraucht habe. Der Vater versichert, seine Tochter nie angefasst zu haben.

Es steht Aussage gegen Aussage.

In einem solchen Fall ist es vor deutschen Gerichten üblich, dass sich die mutmaßlichen Opfer auf ihre Glaubwürdigkeit hin begutachten lassen müssen, häufig auf Antrag der Verteidigung des Beschuldigten. Die mutmaßlichen Täter müssen das nicht. Sie dürfen das ganze Verfahren hindurch schweigen. Aber das ist ein anderes Thema.

Wenn es jedenfalls darum geht, zu beurteilen, ob das mutmaßliche Opfer gelogen hat, ist das ein Fall für Max Steller. Und folgt man den Ausführungen des Aussagepsychologen, könnte man zu dem Schluss kommen, dass Frauen, die Männer der Vergewaltigung oder des sexuellen Missbrauchs beschuldigen, ziemlich oft lügen. Er mache, erklärt Prof. Steller den StudentInnen, in Sexual-Strafprozessen „besorgniserregende Beobachtungen“. Es komme dort nämlich zu einer „beachtlichen Zahl von Fehlurteilen“.

Meint der Professor die Tatsache, dass nur jede zwölfte angezeigte Vergewaltigung mit einer Verurteilung endet, in manchen Bundesländern gar nur jede 25., wie das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen herausfand? Ist er womöglich besorgt, weil die Staatsanwaltschaften bereits im Vorfeld bei drei von vier Anzeigen das Verfahren einstellen, weil sie es für aussichtslos halten, dem Täter die Tat nachzuweisen, wenn es außer der Aussage des mutmaßlichen Opfers keine weiteren Beweise gibt? Befürchtet er gar, dass deshalb zu viele Vergewaltiger gar nicht erst angeklagt oder, falls doch, aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden?

Aussagepsychologe Steller konstatiert einen "Übereifer beim Aufdecken von Sexualdelikten".

Aber nein. Deutschlands Aussagepsychologe Nr. 1 sorgt sich nicht so sehr um die mutmaßlichen Opfer – sondern vor allem um mutmaßliche Täter. Denn die sind aus Stellers Sicht immer wieder die tatsächlichen Opfer. Der Titel seines Vortrags lautet folgerichtig: „Nichts als die Wahrheit? Warum jeder unschuldig verurteilt werden kann.“ Ein ganzes, gleichnamiges Buch hat Prof. Steller kürzlich zu diesem Thema geschrieben.

Es gäbe nämlich, so erklärt er den künftigen StaatsanwältInnen und RichterInnen im Kölner Hörsaal, „einen Übereifer beim Aufdecken von Sexualdelikten“. Und der führe zwangsläufig zu Falschaussagen, will heißen: Falschbeschuldigungen, und damit zu den besagten Fehlurteilen. Zahlen oder Statistiken dazu kann der Professor zwar keine vorlegen, aber eins weiß er ganz genau: „Die Zahl ist größer als bisher angenommen.“

Was hat der Aussagepsychologe an den Therapeutinnen und Therapeuten zu kritisieren, die mit traumatisierten Opfern von Sexualstraftaten an deren Heilung arbeiten? Ganz einfach: Dass die Traumatologen „behaupten, es gäbe so etwas wie fragmentarisches Erinnern an ein Trauma oder gar vollständige Verdrängung“. Ein typisches Falschbeschuldigungs-Szenario sehe dann so aus: Eine erwachsene Frau kommt mit der Diagnose Burn-out in eine Klinik und glaubt sich im Laufe der Therapie plötzlich zu erinnern: „Vati war’s!“ So etwas sei höchstwahrscheinlich eine „Scheinerinnerung“, denn Gutachter Steller weiß: „Das kann nicht sein.“ Denn: „Sexuellen Missbrauch vergisst man nicht.“

Szenenwechsel. Eine Fachtagung für angehende JuristInnen in Halle. Titel: „Sex und Recht – Freiheit, Regulierung, Strafverfolgung“. Hier referiert ein ebenfalls hochrenommierter Strafverteidiger zum Thema „Strafverfolgung von Sexualdelikten“. Auch er klagt über Falschbeschuldigungen, denen „unschuldige Männer“ ausgesetzt seien, schlägt aber einen noch schärferen Ton an als der Aussagepsychologe in Köln. Fachberatungsstellen wie Zartbitter oder Wildwasser diffamiert er als „zwielichtige“ und „vulgärfeministisch geprägte Vereine“. Solche Vereine, wettert er, „sind des Teufels“.

Der Strafverteidiger, der gegenüber den Opferschutz-Organisationen so ausfallend wird, dass zwei Teilnehmerinnen anschließend Beschwerde bei der Rechtsanwaltskammer einlegen, heißt Johann Schwenn. Jörg Kachelmann dürfte sein bekanntester Mandant sein. Aber Rechtsanwalt Schwenn hat schon öfter mit Freisprüchen von sich reden gemacht, in denen er Männer rauspaukte, die aus seiner Sicht keineswegs Sexualstraftäter, sondern „Justizopfer“ waren.

Aus einem solchen Fall kennen sich Johann Schwenn und Max Steller. Gemeinsam holten Verteidiger und Gutachter in einem Wiederaufnahmeverfahren einen Vater aus dem Gefängnis, den dessen Tochter des sexuellen Missbrauchs beschuldigt hatte. Steller diagnostizierte eine Borderline-Störung und verwies die Anschuldigungen der verstörten Frau ins Reich der Phantasie.

Sind hier etwa "hochideologisierte Feministinnen" und "unwissenschaftliche Traumatologen" am Werk?

Und ganz wie Gutachter Steller, hält auch Strafverteidiger Schwenn nichts, aber auch gar nichts von der Psychotraumatologie. So sei die Posttraumatische Belastungsstörung ein „interessengesteuertes Modekonstrukt“, das gar nicht existiere. Die Schockstarre als Reaktion auf ein traumatisches Einwirken – gibt es gar nicht! Das Borderline-Syndrom als Traumafolgestörung? Alles Quatsch! Bei einem ande ren Vortrag behauptete der Jurist schlichtweg: „Die Psychotraumatologie ist keine Wissenschaft!“ Da ist sich Schwenn einig mit einer Frau, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Welt wissen zu lassen, was die Herren Schwenn und Steller zum Thema Falschbeschuldigungen und Scheinerinnerungen zu sagen haben: die Journalistin Sabine Rückert.

Die stellvertretende Chefredakteurin der Zeit hatte im Kachelmann-Prozess engagiert dazu beigetragen, dass der aus ihrer Sicht unfähige Kölner Verteidiger Reinhard Birkenstock durch Johann Schwenn ersetzt wurde. Über Schwenn wie Steller hatte Rückert in der Zeit begeisterte Pamphlete verfasst: „Da, wo Schwenn Gerade steht, ist das Recht“, jubelte sie.

Kurz zuvor war ein Buch erschienen, das Rückert gemeinsam mit Schwenn verfasst hatte: „Unrecht im Namen des Volkes“. Es ging darin um eine Frau, die Onkel und Vater des sexuellen Missbrauchs beschuldigt hatte. Natürlich zu Unrecht, natürlich ein „Justizirrtum“.

Inzwischen ist Johann Schwenn Kolumnist bei der Zeit. Und als Max Steller 2008 emeritierte, beklagte Rückert den Abgang des in Sachen Glaubhaftigkeitspsychologie „kompetentesten Fachmannes im Land“ als „Untergang des Sachverstandes“. Allerdings: Um diesen Sachverstand ist es womöglich nicht allzu gut bestellt.

An diesem Abend an der Uni Köln, an dem Max Steller über „Scheinerinnerungen“ referiert und die angehenden JuristInnen vor „übertriebenem Opferschutz“ warnt, sitzt die Journalistin Rückert an der Seite des Gutachters auf dem Podium und erklärt: „Die herrschende Meinung wird heute von hochideologisierten Feministinnen dominiert, die Frausein mit Opfersein gleichsetzen.“ Auch sie hat, neben den „hochideologisierten Feministinnen“, einen zentralen Feind ausgemacht: die Traumatologie. Die gesamte „Zunft der Traumatologen“, schwadronierte sie in einem Artikel, sei nichts weiter als eine „Glaubensgemeinschaft“. Will heißen: Keine Profis, sondern eine Art Sekte.

VertreterInnen der attackierten Zunft sind über die diffamatorischen Angriffe irritiert, ja empört. Denn der Gutachter Steller, der Jurist Schwenn und die Journalistin Rückert sind zwar die medial präsentesten, aber bei weitem nicht die einzigen in Deutschland, die der Psychotraumatologie öffentlichkeitswirksam den Krieg erklärt haben. Und diese Kriegserklärung ist kein Zufall. Denn die Frontlinie verläuft zwischen Tätern und Opfern.

Die Psychotraumatologie begann mit der Erforschung von Holocaust-Überlebenden und Vietnam-Veteranen

International ist die Psychotraumatologie eine hoch anerkannte Disziplin, die sich seit ihrer Konstituierung für die Opfer interessiert. Das begann mit den Holocaust-Überlebenden und ging weiter mit den Vietnam-Veteranen. Sie hätten als Helden zurückkehren sollen, aber kamen als Wracks. Nach allem, was sie erlitten und getan hatten, waren oft nicht nur ihre Körper, sondern auch ihre Seelen zerstört. Zurück in der Heimat, vergifteten weitgehend unbekannte Symptomatiken das Leben der Überlebenden. Aber auch Menschen, die zum Beispiel Opfer von Zugunglücken oder Naturkatastrophen geworden waren, gerieten zusehends ins Visier der TraumaforscherInnen.

1980 wurde die „Posttraumatische Belastungsstörung“ (PTSB) in das „Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorders“, kurz DSM, aufgenommen. Das DSM wird seit 1952 von der „American Psychiatric Association“ herausgegeben und ist seither der internationale – ständig aktualisierte – Standard für die Klassifizierung psychischer Krankheiten.

Die PsychologInnen und PsychiaterInnen, die sich mit traumatisierten Menschen beschäftigten und an ihnen forschten, stellten verschiedene Phänomene fest. Zum Beispiel, dass manche Traumaopfer sich völlig in sich zurückzogen und verstummten, andere aber unter permanenter Hypererregung litten. Dass die Betroffenen oft zwar keine konstante Erinnerung an das hatten, was ihnen passiert war, aber an so genannten „Flashbacks“ litten. Dass sie also immer wieder plötzlich und – manchmal unvermittelt, manchmal durch bestimmte Erinnerungs-Reize „angetriggert“ – schlaglichtartige Rückblenden erlebten.

Man fand heraus, dass die totale Ohnmachtserfahrung eines Traumas dazu führt, dass durch die schwallartige Ausschüttung der Stresshormone Adrenalin und Cortisol der normale Speichervorgang im Gehirn gestört wird. Der Hippocampus, der normalerweise erlebte Ereignisse mit einer Art Orts- und Datumsstempel versieht und sie auch sprachlich abrufbar macht, versagt. Das Ereignis wird zwar abgelegt, aber chaotisch und oft ohne Verknüpfung mit Sprache.

Hinzu kommt, dass der Organismus sich vor Unaushaltbarem schützen will und es manchmal ganz oder teilweise vergräbt, bis die oder der Betroffene das Grauen in geschütztem Rahmen, wie zum Beispiel einer Therapie, behutsam betrachten und bearbeiten kann.

Während sich die Traumaforschung zunächst den Opfern des Holocaust, von Krieg, Verkehr und Naturkatastrophen widmete, holten Feministinnen gleichzeitig das ungeheure Ausmaß der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Frauen aus dem tiefen Dunkel ans Licht. Zunächst arbeiteten beide getrennt voneinander. Doch schließlich trugen Traumatologie und Feminismus ihre Erkenntnisse zusammen.

Judith Lewis Herman zog die Parallele zwischen Kriegsveteranen und Opfern sexueller Gewalt

Ein Resultat dieser Fusion war das bahnbrechende Buch „Trauma and Recovery“ der amerikanischen Psychiaterin Judith Lewis Herman, das 1992 in den USA und ein Jahr später in Deutschland unter dem Titel „Die Narben der Gewalt“ erschien. Die Harvard-Professorin und Tochter der jüdischen Psychoanalytikerin und Scham-Forscherin Helen B. Lewis, zog die Parallelen zwischen KZ-Überlebenden und den Überlebenden Häuslicher Gewalt, zwischen den Opfern von Entführung und denen von Missbrauch, zwischen Kriegsveteranen und denen, die als Vergewaltigungsopfer den Krieg zwischen den Geschlechtern überlebt hatten.

Als 1993 Hermans Werk auf Deutsch herauskam, tobte hierzulande gerade der Backlash. Denn dass die Täter nach dem Aufbruch der Frauenbewegung nicht mehr ungestraft ihr „Herrenrecht“ ausüben konnten, blieb nicht ohne Folgen. Der Slogan vom „Missbrauch des Missbrauchs“ wurde lanciert, von „fortschrittlichen“ Pädagogen.

Schon damals entlarvte EMMA das Netzwerk aus Gutachtern, Verteidigern und JournalistInnen, die gemeinsam daran wirkten, mutmaßliche Opfer unglaubwürdig und mutmaßliche Täter glaubwürdig scheinen zu lassen. „In Deutschland ist es immer wieder dieselbe Clique von Sachverständigen, die überraschende Freisprüche in Missbrauchsverfahren bewirkt“, stellte EMMA 1997 fest.

Ob Montessori (1992 – 1995), Worms (1993 – 1997) oder später der Fall Pascal (2003 – 2007) – immer wieder gelang es einer Phalanx aus Gutachtern und Strafverteidigern, damals noch nicht flankiert von Sabine Rückert, sondern von den Spiegel-GerichtsreporterInnen Gerhard Mauz und Gisela Friedrichsen, mutmaßlich missbrauchte Kinder für unglaubwürdig zu erklären und ihre Unterstützerinnen als fanatische Feministinnen zu diskreditieren, die den Kindern den Missbrauch durch Suggestion einflüsterten. Alle diese Prozesse endeten – mit Freisprüchen.

Sogar Prof. Elisabeth Müller-Luckmann, die inzwischen verstorbene Grande Dame der deutschen Rechtspsychologie, wunderte sich im EMMA-Interview entschieden: „Es ist schon bemerkenswert, dass die Kinder und ihre Betreuerinnen in allen großen Prozessen der letzten Jahre als unglaubwürdig beurteilt wurden – und die Angeklagten immer als unschuldig. Es will anscheinend niemand wahrhaben.“

Schon damals spielten Max Steller und sein Mentor Prof. Udo Undeutsch eine tragende Rolle in den großen Missbrauchs-Prozessen. Stets begannen die Prozesse mit eigentlich eindeutigen Aussagen der Kinder oder sogar ärztlichen Gutachten, die sexuellen Missbrauch mehr als nahelegten.

Im Montessori-Fall hatte eine Vierjähriger erzählt: „Rainer hat mir den Finger in den Po gesteckt.“ Bald berichteten weitere Kinder, dass der Erzieher in dem Coesfelder Kindergarten sexuelle Übergriffe an ihnen begangen habe. Als die Beweisaufnahme schon fast abgeschlossen war, beantragte die Verteidigung ein Glaubwürdigkeitsgutachten von Prof. Undeutsch.

Stellers großer Coup: die Etablierung neuer Kriterien für Glaubwürdigkeits-Gutachten

Der erklärte die Kinder für Unglaubwürdig – nach Aktenlage. Er hatte nie mit ihnen gesprochen. Doch er war sich sicher: „Fanatische Missbrauchsgegnerinnen“ hätten durch „die Wucht suggestiver Einflüsse die Beweislage verdorben“.

Im Fall Worms hatten Kinderärzte bei einigen Kindern festgestellt, dass ihr Aftermuskel nicht mehr richtig schloss sowie Rötungen und Fissuren im Scheidenbereich diagnostiziert. Vor laufenden Kameras erklärte Verteidiger Jürgen Möthrath, was nun zu tun sei: „Da die Belastungen bisher nur durch die Kinder erfolgen, müssen wir ihre Glaubwürdigkeit erschüttern.“ Diesen Job übernahm Prof. Max Steller. Der Rechtspsychologe, der in einer Studie behauptet, es gäbe „weder Missbrauchssymptomatik noch Missbrauchssyndrom“ und „auch aus einer Häufung von Signalen“ lasse sich „ein Missbrauch nicht ableiten“, verfasste das Gegengutachten. Er erklärte: Hier sei nicht Missbrauch, sondern „feministischer Aufdeckungseifer“ am Werk gewesen. Alle Angeklagten wurden freigesprochen.

Im Jahr 1999 gelang dem Professor der Rechtspsychologie und Gegner „übertriebenen Opferschutzes“ ein ganz großer Coup: Auf Basis von Stellers Gutachtens legte der Bundesgerichtshof in einem Urteil die Kriterien für Glaubwürdigkeitsgutachten neu fest. Die höchsten Richter erklärten, Sachverständige dürften ausschließlich methodische Mittel anwenden, die dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand gerecht werden. Dieser Kenntnisstand sei der der Aussagepsychologie.

Unter anderem verlangte der BGH nun, dass Gutachter die so genannte „Nullhypothese“ anwenden sollten: „Das methodische Grundprinzip besteht darin, einen zu überprüfenden Sachverhalt so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der Sachverständige nimmt daher bei der Begutachtung zunächst an, die Aussage sei unwahr. Zur Prüfung dieser Annahme hat er weitere Hypothesen zu bilden.“ Häufig lautet diese Hypothese: Suggestion.

Ein Beispiel aus der Praxis eines Nebenklagevertreters: Ein 16-jähriges Mädchen trifft sich mit einem Schulkameraden. Hinter einem Gebüsch küsst der 15-Jährige das Mädchen, sie lässt es zu. Aber dann zieht er sie an den Haaren herunter und zwingt sie zum Oralverkehr. Das Mädchen, das bisher keine sexuelle Erfahrung hatte, ist geschockt und schweigt zunächst. Erst später auf einer Klassenfahrt erzählt sie Schulfreundinnen, was passiert ist. In diesem Gespräch wird ihr klar, dass sie Anzeige erstatten will. Der Junge streitet die Tat ab, das Mädchen muss sich einer Glaubwürdigkeitsbegutachtung stellen.

Die Zeiten ändern sich langsam, die Aussagepsychologie ist nicht mehr unangefochten

Resultat der Gutachterin: Bei dem Gespräch mit den Schulfreundinnen könne eine Suggestion stattgefunden haben. Dank der Nullhypothese wird das Verfahren eingestellt. Und dies ist kein Einzelfall. Immer wieder berichten RechtsanwältInnen und TherapeutInnen über GutachterInnen in Missbrauchsfällen, die überall „Suggestionen“ vermuten: Therapien, Austausch mit anderen Missbrauchsopfern, die Lektüre von Fachliteratur – alles potenzielle Suggestionsquellen. Und damit Stützen der Nullhypothese: Die Aussage ist unwahr.

Keine Frage – Stellers Coup von 1999 ist gelungen. Seither ist die Zahl der Gutachten, die die Glaubhaftigkeit einer Aussage als „nicht gegeben“ betrachten, rasant gestiegen – und zwar von 18 auf 46 Prozent.

Also: Galt vorher nur knapp jedes fünfte mutmaßliche Opfer als unglaubwürdig, glaubte man nun jedem zweiten nicht. Vor dem BGH-Urteil, das auf Stellers Empfehlungen beruhte, endeten zwei Drittel der Verfahren mit einer Verurteilung, nach dem Urteil waren es nur noch ein Drittel.

Doch 20 Jahre nach diesem Schlag gegen alle mutmaßlichen Opfer hat Max Steller Sorgen. Denn die Zeiten haben sich geändert. Der Aussagepsychologe Nr. 1 ist nicht mehr unangefochten, und die Aussagepsychologie schon gar nicht. Denn die Psycho-Traumatologie, anno 1999 in Deutschland noch eine Wissenschaft im Aufbruch, hat inzwischen mit Siebenmeilenstiefeln den Rückstand zu den USA aufgeholt und sich mit ihren Erkenntnissen auch hierzulande längst wissenschaftlich etabliert.

Hinzu kommt: Der rasante Fortschritt bei den bildgebenden Verfahren macht es möglich, die veränderten Abspeichervorgänge im Gehirn sichtbar zu machen. Darum fordern die Psychotraumatologen schon länger, die Prämissen der Aussagepsychologie, die nur in Deutschland seit Jahrzehnten als gutachterlicher Standard gelten, an den aktuellen Stand der Wissenschaft anzupassen.

Denn die Maßstäbe, die die Aussagepsychologie an die Glaubhaftigkeit von ZeugInnenaussagen anlegt, „sind an Nicht-Traumatisierten entwickelt worden“, sagt Günter Seidler. Der Neurologe und Psychiater war bis 2015 Leiter der Sektion Psychotraumatologie an der Universität Heidelberg und ist einer der renommiertesten Traumatologen Deutschlands. Die Aussagepsychologie ging davon aus, dass man anhand so genannter „Realkennzeichen“ erkennen könne, ob jemand lügt oder die Wahrheit sagt. Zum Beispiel: Wer lügt, erzählt weniger anschaulich und detailreich als jemand, der die Wahrheit sagt.

Ein traumatisierter Mensch kann die geforderte "Konsistenz der Aussage" oft nicht leisten

Oder auch: Wer die Wahrheit sagt, ist in der Lage, eine „konsistente“ Aussage abzuliefern, sprich: eine Schilderung, die das Erlebte von vorne bis hinten durchgängig und ohne Brüche erzählt. Diese „Realkennzeichen“ sind eine deutsche Erfindung und ihr Erfinder heißt Prof. Udo Undeutsch. Er entwickelte seine Theorie in den 1960er-Jahren. Ein halbes Jahrhundert später weiß die Wissenschaft: Menschen, die schwer traumatisiert wurden, können die von Undeutsch geforderte „Konsistenz der Aussage“ erwiesenermaßen oft nicht leisten.

Die Betroffenen „erleben zwar wieder die physiologischen Reaktionen, fangen an zu stottern, werden blass oder rot, kollabieren oder transpirieren, aber sie können keinen sprachgebundenen Bericht über das Erlebte abliefern“, erklärt der Traumatologe Seidler, der als Facharzt für Neurologie und Psychiatrie nicht nur die seelischen, sondern auch die körperlichen Phänomene psychischer Traumata erfasst.

Häufig und auch in seinem bekanntesten Fall hat Prof. Günter Seidler jedoch erlebt, dass diese wissenschaftlich fundierten Kenntnisse vom Tisch gefegt werden, wenn es darum geht, mutmaßliche Opfer unglaubwürdig zu machen. Im Fall Kachelmann war Seidler der Therapeut von Kachelmanns Ex-Freundin Claudia Dinkel gewesen. Er hatte dem Gericht in einer Expertise bestätigt, dass die Frau unter einer „schweren posttraumatischen Belastungsstörung“ leide und zweifelsfrei „Todesangst“ gehabt habe. Dinkel hatte ausgesagt, sich zwar an den Ablauf des Abends, an die eigentliche Tat aber nur bruchstückhaft erinnern zu können. Diese Teilamnesie, hatte der Psychotraumatologe erklärt, könnte die Folge eines Traumas sein.

Postwendend bliesen Zeit-Journalistin Rückert & Co. zum Angriff nicht nur auf Kachelmanns Ex-Freundin, sondern auf die gesamte Psychotraumatologie. Kurz darauf wurde der international hochrenommierte Seidler in den Medien standardmäßig mit dem Adjektiv „umstritten“ versehen.

Der Traumatologe Seidler fordert: „Das Justizministerium müsste dringend eine Arbeitsgruppe einsetzen, die zur Hälfte aus Medizinern und zur anderen aus Juristen besteht. Diese Arbeitsgruppe muss die Kriterien für Glaubhaftigkeitsgutachten überarbeiten.“ Dabei müsse den „Besonderheiten der Gedächtnisbildung bei Traumatisierten Rechnung getragen werden“.

Das sieht auch Karl-Heinz Biesold so. Der Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie war bis zu seiner Pensionierung Leiter des Psychotrauma-Zentrums der Bundeswehr in Hamburg, heute ist er im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) und dort zuständig für den Bereich Gutachten. Immer wieder, sagt er, gäbe es „Gutachter-Kontroversen“. Schon jetzt habe „die Aussagepsychologie gutachterliche Prämissen ändern müssen, seit wir wissen, wie anders das Traumagedächtnis funktioniert und dass es da Amnesien und Dissoziationen gibt.“

Bei traumatisierten Opfern sei „die Anforderung der Aussagepsychologie nach Einheitlichkeit und Konsistenz der Aussage einfach nicht haltbar.“ Und dann wird es bitter für Max Steller, den Aussagepsychologen Nr. 1, der behauptet, dass man „sexuellen Missbrauch nicht vergisst“. Natürlich sei es irgendwie naheliegend, über ein Missbrauchsopfer zu denken: „Wenn es so schlimm war, dann müsstest du dich doch daran erinnern“, sagt Facharzt Biesold. Das aber könne „nur ein Laie sagen“.

Noch härter geht Malte Meißner mit der Aussagepsychologie und ihren Propagandisten ins Gericht. Der klinische Psychologe und Fachberater für Psychotraumatologie hat sich mit internationalen Studien zur Aussagepsychologie beschäftigt und kommt zu einem vernichtenden Urteil: Die Aussagepsychologie entspricht nicht nur heute nicht mehr dem Stand der Wissenschaft – sie tat es noch nie. „Die Aussagepsychologie ist keinesfalls als ein im wissenschaftlichen Sinne objektives Verfahren zu verstehen“, sagt Meißner. Die Wirksamkeit der so genannten „Realkennzeichen“ sei empirisch niemals nachgewiesen worden. Für traumatisierte Menschen funktionierten sie nicht, und für traumatisierte Kinder schon gar nicht.

Entspricht die Aussagepsychologie heute überhaupt noch dem Stand der Wissenschaft?

Der Psychologe Meißner, der heute in der Kindeschutzambulanz Hagen arbeitet, weiß, dass für die wenigen Kinder, die überhaupt über sexuellen Missbrauch sprechen, andere Dinge wichtig sind. Zum Beispiel, dass ihnen der Gutachter oder die Gutachterin empathisch begegnet. Eine unterschätzte „Verfälschungsquelle“ seien die „skeptische oder distanzierte Befragung durch Gutachter. Auch diese können Falschaussagen produzieren, weil das Kind sich abgelehnt fühlt.“

Ja, es gebe Fälle von Suggestion, zum Beispiel in Scheidungsverfahren, in denen die Kinder manchmal von gedemütigten und frustrierten Müttern instrumentalisiert würden. Ein wichtiger Ansatz, um das herauszufinden, sei schlicht: Zeit. „Wenn die Kinder mehrmals kommen und Erzählen und dabei eine sachgerechte Diagnostik durchlaufen, ist es für sie schwierig, eine Falschaussage, die ihnen eingeredet wurde, aufrecht zu erhalten.“

Dass sich die deutsche Aussagepsychologie noch nie auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft befunden habe, sei in der internationalen Forschung Konsens: „Das Urteil über die aussagepsychologische Methodik ist bestenfalls als gespalten, mehrheitlich sogar als vernichtend einzustufen“, stellt der Wissenschaftler und Praktiker fest. „Sie ist wohl in keinem Land so etabliert wie in Deutschland.“ Warum das so ist? „Das hängt immer an Akteuren.“ An Akteuren wie Prof. Udo Undeutsch, der in den 1960ern die „Realkennzeichen“ entwickelte und Mentor von Max Steller wurde. Und der es schaffte, dass die Ergebnisse seiner Gutachten auch von den Medien als unumstößliche Wahrheiten gehandelt wurden.

Doch Steller, dem lange unangefochtenen Meister der Glaubwürdigkeitsbegutachtung, schwimmen zusehends die Felle davon. Die Frankfurter Rundschau drückt es in einem Porträt anlässlich seines Buches „Warum jeder unschuldig verurteilt werden kann“ so aus: „Max Steller befragt Menschen, die vor Gericht stehen und stellt fest, ob sie die Wahrheit sagen, sich irren, bewusst lügen oder Scheinerinnerungen erliegen. Zu oft hat er Frauen gegenübergesessen, die sagten, sie seien Opfer einer Vergewaltigung, obwohl das nicht stimmte. Männern, die Verbrechen gestanden, die sie nicht begangen haben. Kindern, denen von Erziehern Dinge eingeflüstert wurden, die sie nie erlebt haben. Aber in letzter Zeit hat er das Gefühl, dass die Erinnerungen daran verblassen, und die neue Generation von Staatsanwälten und Richtern zu wenig über Aussagepsychologie weiß.“ Dafür weiß die neue Generation von Staatsanwälten und Richtern immer mehr – wenn oft auch immer noch zu wenig – über die Psychotraumatologie – und damit auch über die Opfer sexueller Gewalt.

Es gibt eine bewusste Gegenbewegung, um neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu diskreditieren

Hinzu kommt: Die Missbrauchs-Skandale in der katholischen Kirche und der Odenwaldschule haben das gesellschaftliche Bewusstsein für Ausmaß und Mechanismen des Missbrauchs geschärft. Deutschland hat inzwischen in Johannes-Wilhelm Rörig einen hochaktiven Missbrauchs-Beauftragten, der immer wieder den Finger in die Wunde legt. Eine Aufarbeitungs-Kommission hört gerade hunderte Opfer von Missbrauch in Familien an und veröffentlicht ihre Geschichten. Im so genannten „Betroffenenrat“, der mit dem Missbrauchsbeauftragten zusammenarbeitet, haben Betroffene Forderungen an Politik und Justiz gestellt. Noch nie in der Geschichte hatten die Opfer in Deutschland eine so vernehmliche Stimme.

Keine Überraschung, dass die eingeschworene und bestens vernetzte Gemeinschaft aus Gutachtern, Strafverteidigern und Gerichtsberichterstattern, die in den 1990er-Jahren noch so erfolgreich Anklagen reihenweise niedermähte, jetzt wieder zum Gegenschlag ausholt. Zwei Behauptungen werden heute mantraartig wiederholt. Mantra Nr. 1: Die Psychotraumatologie ist keine Wissenschaft. Mantra Nr. 2: Die Traumatologen sind fanatisiert und reden ihren PatientInnen „Scheinerinnerungen“ ein. Darum landeten zahllose Unschuldige vor Gericht.

„Es ist wie ein „Déjà-vu“, sagt Claudia Fliss. Die Bremer Psychotherapeutin hat den Backlash in den 1990er-Jahren am eigenen Leib erlebt. Damals wurde sie vom Erfinder des „Missbrauch des Missbrauchs“-Slogans, dem linken Pädagogen Prof. Reinhard Wolff, verklagt, weil sie ihm in einem Vortrag die Nähe zu Pädophilen-Organisationen unterstellt hatte. Sie gewann den Prozess.

Heute erlebt Fliss „eine zweite Welle“ des Backlashs, berichtet sie. Gerade zum Beispiel hätten zwei Ärzte einer Psychoklinik bei der Psychotherapeutenkammer Beschwerde über sie eingelegt. Sie formulierten die „Sorge“, dass Fliss die „dissoziativen Störungen“ einer Patientin „verstärkt, womöglich Sogar induziert“ haben könnte. Interessant sei das, sagt die Therapeutin. „Den Vorwurf der Suggestion hören wir nur bei sexueller Gewalt. Da muss man doch mal nach der Motivation derjenigen fragen, die uns so aggressiv attackieren.“

Das findet auch Fliss’ Würzburger Kollegin Christiane Röthlein. Sie musste gerade erleben, wie eine Glaubwürdigkeitsgutachterin die Erinnerungen ihrer Klientin als reine Suggestion abtat. Nach jahrelanger Therapie hatte sich die Frau daran erinnert, von Vater und Pfarrer missbraucht worden zu sein. Eingeredet habe Therapeutin Röthlein ihrer Patientin überhaupt nichts, erklärt sie. Als die Frau, die zunächst diffuse Symptome wie Depressionen, enorme Ängstlichkeit und übermäßige Schuldgefühle gezeigt hatte, plötzlich anfing, sich die Scheide zuzuhalten, hatte sich die Therapeutin notiert: „Verdacht auf sexuellen Missbrauch drängt sich auf.“

Das allerdings habe sie der Patientin gegenüber gar nicht geäußert. Polizei und Gutachterin aber hätten akribisch nach Suggestionseinflüssen gesucht – und solche Notizen als „Beweise“ herangezogen. Das Fazit der Therapeutin: „Meines Erachtens herrscht ein großes Interesse, über die Glaubwürdigkeitsbegutachtung Täter zu schützen“, sagt sie. „Es gibt eine bewusste Gegenbewegung, die neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu diskreditieren versucht.“

Das Ziel: Betroffene einzuschüchtern
und Helferinnen zu desavourieren.

Auch Michaela Huber kennt, wie Claudia Fliss, die Zirkel schon aus den 1990ern, die heute immer noch aktiv sind oder inzwischen ihre NachfolgerInnen in Stellung gebracht haben. „Richter und andere Entscheider beauftragen gezielt solche bekannten ‚Ablehner‘, die bedenkenlos Menschen, ohne sie je gesehen zu haben, unterstellen, sie seien nicht glaubwürdig, hätten sich die Traumatisierungen ausgedacht oder ihre Therapeutinnen hätten sie ihnen eingeredet“, sagt die Psychotherapeutin, die vor allem mit ihrer Forschung über Multiple Persönlichkeitsstörungen als Folge von Traumatisierung bekannt geworden ist. „Gegen die Psychotraumatologie ‚argumentieren‘ sie mit Zahlen aus den 1990er-Jahren, die längst überholt sind.“

Dabei seien die Vorwürfe, die der Traumatologie gemacht würden, geradezu lächerlich. Keine Wissenschaft? „Wir ziehen unsere Erkenntnisse aus zahllosen Forschungsergebnissen aus dem gesamten Medizinfeld von Hirnforschung bis Endokrinologie“, sagt Huber. „Zu behaupten, es gäbe keine Posttraumatische Belastungsstörung ist so, als wenn man in der Inneren Medizin behaupten würde, es gäbe die Diagnose Diabetes Typ II nicht.“

Suggestion und Unschuldige vor Gericht? „Alle Kollegen, die ich kenne, raten ihren Patientinnen von einer Anzeige ab. Wenn es keine Fotos, Videos oder Zeugen gibt, ist das nämlich völlig aussichtslos“, sagt Huber. Was über die Psychotraumatologie verbreitet wird, sei „eine ganz raffinierte Art von Propaganda“. Das Ziel: „Die Betroffenen einzuschüchtern und die Helferinnen zu desavourieren.“

Und Michaela Huber findet, dass es an der Zeit ist, dass die PsychotraumatologInnen nun ihrerseits zum Angriff blasen. Denn: „Einer ganzen Berufsgruppe so etwas zu unterstellen und unsere Patienten einzuschüchtern – damit können wir uns nicht abfinden.“

Wie wäre es zum Beispiel mit einem Buch zum Thema? Der Titel könnte lauten: „Nichts als die Wahrheit? Warum jeder Verdächtige mit Hilfe des richtigen Aussagepsychologen freigesprochen werden kann.“

Chantal Louis

Weiterlesen
 
Zur Startseite