Die Kunst hat mich erlöst

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Am 21. Mai 2002 starb Niki de St. Phalle, Todesursache: ihr eigenes Werk.

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Wir sehen eine junge Frau. Katzenhaft in ein samtenes Catsuit gekleidet. Ein eng anliegendes Kostüm mit Pierrotspitzenkragen und Manschetten. Kokett. Schönes Katzengesicht. Ein Auge geschlossen, das andere starrt über einem Gewehrlauf. Sie zielt, drückt ab – und die Kamera zeigt, worauf sie so präzise gezielt hat. Während sie schießt und dabei nach und nach Farbbeutel und Farbbomben zerplatzen lässt, sagt sie: "Ich schieß auf Daddy, alle Männer, kleine Männer, große Männer, bedeutende Männer, dicke Männer, Männer, meinen Bruder, die Gesellschaft, die Kirche, die Nonnenschule, meine Familie, meine Mutter, alle Männer, Daddy, auf mich selbst, auf Männer." Danach richtet sie ihre Flinte auf ihr Spiegelbild.
Jetzt sehen wir die junge Frau als Domina gekleidet. Hohe schwarze Stiefel. Streng geschnürtes Mieder. Etwas theatralisch wirkt ihre blonde Lockenperücke. Am Boden kriecht auf allen vieren ein Mann im Frack, genauer im Frackoberteil. Die junge Frau schreit ihn an: "Bettle! Bettle! Bell! Wuff!" Er gehorcht nicht, prompt piekst sie ihn mit einer Gabel in den Hintern, tritt ihn wild, sodass er eine Treppe hinunterpurzelt. Später wird sie ihn als Zielscheibe für ihre Schießübungen benutzen und sie triumphierend der Mutter melden: "Mama, ich habe eine gute Nachricht, I shot Daddy." – Niki de Saint Phalle, in ihrem Film "Daddy" aus 1971, in dem sie versucht das Schreckgespenst zu zähmen. Schreckgespenst eines geliebten Vaters, der, als sie klein war, mit verwirrenden Übergriffen ihr Kindervertrauen erschüttert hat.
Am 29. Oktober 1930 wird Catherine Marie-Agnès Fal de Saint Phalle in Neuilly sur Seine geboren, als Tochter von André Marie Fal de Saint Phalle und Jeanne Jacqueline geborene Harper. Der Vater ist ein nach dem Börsenkrach von 1929 verarmter Bankier aus einem alten französischen Adelsgeschlecht, die Mutter Amerikanerin.
Niki wächst zunächst in New York auf, besucht dort eine Nonnenschule, den Sommer verbringt sie mit ihren vier Geschwistern in Frankreich auf dem Schloss ihres Großvaters. Sie muss ein ungestümes Kind gewesen sein, das von mehreren Schulen fliegt und das, kaum 18 geworden, mit einem 19-jährigen Marinesoldat durchbrennt, dem späteren Schriftsteller Harry Mathews. Es folgt eine kurze, erfolgreiche Periode als Fotomodell bis zum Cover-Girl von "Life".
Das Paar zieht bald nach Europa, wo Niki in Paris die Schauspielschule besucht. Sie bekommt 1951 ihre Tochter Laura. Eine Nervenkrise bringt sie in eine Klinik in Nizza. Hier stürzt sie sich auf die Malerei, die als Therapie angeboten wird. Auch nach ihrer Entlassung bleibt das Malen ihre Hauptbeschäftigung.
Die junge Familie zieht durch Südeuropa, lebt auf Mallorca, wo 1955 Sohn Philippe geboren wird, und in den Alpen. Niki sieht in Barcelona Gaudis Kathedrale und dessen Park Güell. Beim Anblick dieses Parks mit den begehbaren Plastiken ist ihr klar, dass sie Ähnliches schaffen will.
In Paris begegnet sie Künstlern wie Yves Klein und dem Schweizer Bildhauer Jean Tinguely – anfänglich ihr Verbündeter in der Kunst, nach ihrer Scheidung von Mathews auch ihr Ehemann bis zu dessen Tod.
Zusammen mit Tinguely macht Niki ihre aggressiven Performances. Sie gehen u.a. in die amerikanische Wüste, genau dorthin, wo wenige Jahren vorher die ersten Atombomben probeweise gezündet worden waren, und lassen ihre Plastiken explodieren, Motto: "Das Ende der Welt".
Nikis Aggressionen legen sich. Sie fängt an, aus Stoff und weichen Materialien große runde Frauenkörper zu konstruieren, und erklärt: Mein Schmerz ist verschwunden. Ihre Frauengestalten werden zunächst nicht beachtet. Das Einmalige von Nikis Kunst, was ihre Frauen erst zu Nanas macht, ist, dass sie nach einer Weile anfängt, sie aus Kunstharz anzufertigen: aus glattem, weiß oder schwarz lackiertem Polyester, bemalt mit urigen bunten Formen, die die weiblichen Rundungen betonen. So schafft Niki de St. Phalle die ikonenhaften Fruchtbarkeitsgöttinnen oder Heiterkeitsidole der 60er Jahre.
Sie hat Nanas in verschiedenen Größen gemacht: von "Hon", einer riesige liegenden Frauenfigur, die sie 1966 für das Stockholmer Museum für Moderne Kunst gebaut hat, bis zu winzigen Schlüsselanhängern, die sie zur Finanzierung ihres ehrgeizigen Tarotgartens anfertigte. Die begehbaren und teilweise auch bewohnbaren Tarotfiguren in diesem Garten in Caravicchio, unweit von Bomarzo in der Toskana, lässt sie in Mosaiktechnik ausführen. 
Die Verwendung von Polyester als Material machte sie berühmt, machte sie aber auch krank. Er griff ihre Lungen an. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie in San Diego, am Pazifik. Dort entstanden lockere, spielerische Arbeiten, inspiriert von den Orkas, die sie im Freiluftaquarium sieht, oder von der Körperhaltung berühmter Sportler, wie Tiger Woods.
Niki de Saint Phalle ist im Alter von 71 Jahren gestorben. Aber ihre bunten Nanas und ihre zahlreichen anderen Werke, wie der so heitere Strawinskybrunnen vor dem Centre Pompidou in Paris, leben weiter.
Ronald Jonkers, EMMA 4/2002

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