Offener Brief an die Bundesregierung:

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1121 Einträge. So viele Frauen (und auch einige Männer) haben im Rahmen der Online-Kampagne „Ich habe nicht angezeigt, weil...“ Aussagen wie diese auf FacebookTwitter und einem Blog veröffentlicht: „Ich dachte immer, ich habe mir das alles nur eingebildet. Erst jetzt, über 20 Jahre später, weiß ich, dass sich neunjährige Mädchen so etwas nicht einbilden können, weil sie gar nicht wissen, was ‚das’ ist.“ Es sind zahlreiche, späte Anklagen von Opfern sexualisierter Gewalt, die es bisher nicht gewagt haben, darüber zu sprechen. Geschweige denn, zur Polizei zu gehen und den Täter anzuzeigen. Daniela Oerter und ihr Team aus München wollten das mit ihrer Aktion ändern (EMMA berichtete). Mit Erfolg. Nun haben sie einen Offenen Brief mit klaren Forderungen an Frauenministerin Kristina Schröder, Bildungsministerin Annette Schavan, Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Innenminister Hans-Peter Friedrich veröffentlicht, den in der vergangenen Woche 1538 Personen unterzeichnet haben. Unter den Erstunterzeichnerinnen: Monika Hauser von medica mondiale und die Bundesgeschäftsstelle von Terre des Femmes. „Mit so viel Resonanz hätten wir nie gerechnet“, sagt Oerter im Interview mit EMMA.

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Frau Oerter, was ist denn Ihre wichtigste Erkenntnis aus den vergangenen Wochen?


Daniela Oerter: Was mich persönlich besonders schockiert hat: So viele Frauen wissen nicht, dass sie ein Recht auf eine eigene, selbstbestimmte Sexualität haben. Das kann man sich im Jahr 2012 gar nicht vorstellen!
Das heißt?
Selbstbestimmte Sexualität gibt es in den Köpfen vieler Frauen immer noch nicht. Frauen, die in der Ehe vergewaltigt werden, denken insgeheim, dass das irgendwie doch rechtens ist und sie sich nicht wehren können. Oder dass es zumindest okay ist. Oder dass sie das ertragen müssen. Und die meisten geben sich selbst die Schuld daran, dass sie vergewaltigt worden sind...
...was ja einer der typischen Vergewaltigungsmythen ist.
Ja, aber dass die Frauen das selbst so sehen, das hat mich umgehauen. Die ganzen Studien und die ganzen Initiativen sind da, aber es kommt und kommt nicht in die Köpfe. Frauen und vor allem Mädchen müssen lernen, dass sie ein Recht auf selbstbestimmte Sexualität haben. Im Schulunterricht zum Beispiel, oder über Frauenprojekte. Dass die Täter meistens aus dem familiären Umfeld kommen oder Bekannte sind, spiegelt sich auch in den Beiträgen auf "Ich habe nicht angezeigt". Aber das ist ja ohnehin kein Geheimnis.
Wie viele Frauen haben mitgemacht?

Über 1.000 Frauen und auch Männer haben ihre Erfahrungen nieder geschrieben. Das sind viele. Vor allem, weil wir für unsere Aktion ja auch keine große Organisation im Rücken hatten. Wir sind letztlich drei normale Frauen.
Was passiert mit den ganzen Einträgen?

Die bleiben erst mal im Netz stehen. Und dann werden wir schauen, wie wir weiter vorgehen. Unseren ursprünglichen Plan, zusätzlich zu dem Offenen Brief eine anonymisierte Zusammenfassung der Statements an die Polizei zu übergeben, werden wir weiter verfolgen.

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Und die Resonanz insgesamt?

Uns haben viele Frauen geschrieben, die vorher noch nie über das gesprochen haben, was ihnen widerfahren ist. Viele haben uns gesagt, dass unsere Aktion für sie sehr befreiend gewesen ist. Ich hoffe, dass wir mit unserer Kampagne für einen Denkanstoß gesorgt haben.

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Dossier: Haben Opfer eine Chance? (3/2011)
Thema: Vergewaltigung
Ich habe nicht angezeigt, weil... EMMAonline, 8.5.2012

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