Pädo-Freund Kentler & Berlin

Psychologe Helmut Kentler 1971 im Pädagogischen Zentrum Berlin. – © Ingo Barth/ullstein bild
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Liest man heute, was damals (fast) alle guthießen, kann man es kaum fassen: Das Berliner Jugendamt gibt in den 1970er Jahren verhaltensauffällige Jugendliche, die im Heim oder auf der Straße leben, zu vorbestraften Pädosexuellen. Die Idee zu dem Projekt stammt von dem Diplom-Psychologen Helmut Kentler. Er ist Leiter des Pädagogischen Instituts Berlin und mit allen vernetzt, die in der deutschen und holländischen Pädosexuellen-Szene Rang und Namen haben.

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Man hätte das alles schon
vor Jahrzehnten wissen können

Folgerichtig verkündet Kentler zum Thema Sex zwischen Erwachsenen und Kindern auch öffentlich, dass „trotz zahlreicher Untersuchungen bisher nie die erwarteten schädlichen Folgen bei Kindern oder Jugendlichen festzustellen waren“. Diese skandalöse Behauptung darf er überall unwidersprochen vertreten: als Experte im Bundestags-Ausschuss wie in der FDP-Fraktion. Oder in seinen Seminaren. Denn der verständnisvolle Herr Kentler wird 1976 Professor für Sozialpädagogik an der Universität Hannover.

Auch in Missbrauchs-Prozessen ist der bekennende Verharmloser des Kindesmissbrauchs gefragt: Als Gerichtsgutachter wird Prof. Kentler in zahlreichen Fällen dafür sorgen, dass Verfahren gegen Kindesmissbraucher eingestellt bzw. die Täter freigesprochen werden.

Dieser Skandal hat nun die Öffentlichkeit erreicht. 40 Jahre später. Vor drei Jahren waren erstmals die Grünen und der Deutsche Kinderschutzbund des Sympathisantentums mit der praktizierten Pädophilie bezichtigt worden. In die Enge getrieben, gaben sie eine Studie bei dem Göttinger Politik-Professor Franz Walter in Auftrag - der erforschte die inkriminierten 1970er und 1980er Jahre und bestätigte den Vorwurf.

Ähnlich erging es jetzt dem Berliner Senat. Erst auf öffentlichen Druck hin erteilte die Behörde Walter und seinem Team den Auftrag zur rückwirkenden Aufklärung der Causa Kentler. Resultat: Helmut Kentler war eine „Schlüsselfigur im Netzwerk Pädophilie-freundlicher Wissenschaftler und Aktivisten der Siebziger und Achtziger Jahre“, schreibt jetzt der Spiegel.

Für EMMA ist zwar die Rolle des Berliner Jugendamtes in diesem Ausmaß neu, nicht aber die Funktion Kentlers in der Pädophilen-Szene. Wir hatten das bereits 1993 geschrieben - und jeder hätte es sehen und berichten können. Aber alle zogen damals vor, die Augen zu verschließen. Auf Kosten der Kinder und Jugendlichen.

Ausgerechnet das Berliner Jugendamt des SPD-geführten Senats arbeitete also damals auch mit Kentler, dieser „Schlüsselfigur“ der Pädo-Szene eng zusammen. Schlimmer noch: Die Göttinger ForscherInnen scheinen Belege dafür gefunden zu haben, dass dieselben MitarbeiterInnen des Jugendamtes auch „schwierige“ Jungen an die Odenwaldschule vermittelt haben - das Internat, an dem der pädosexuelle Schulleiter Gerold Becker zwischen Anfang der 1970er und Mitte der 1980er Jahre zahllose Jungen missbrauchte.

Wenn das so ist, bedeutet das, dass es in den als besonders reformerisch und fortschrittlich gerühmten Pädagogenkreisen nicht nur einzelne Ämter und Schulen gab, die den Missbrauch duldeten oder sogar förderten. Nein, es bedeutet, dass es ein landesweites Netz gab, innerhalb dessen die verstörten Kinder verschoben wurden. Und die waren nicht selten verstört, weil sie missbraucht wurden. Kurzum: Die idealen Opfer zum weiteren Gebrauch.

Aber es wurde geschwiegen
über das Netzwerk der Pädo-Freunde

Jetzt ist die Aufregung – zu Recht – groß. Allerdings hätte man all das schon längst entdecken können. Man wollte aber offensichtlich nicht. In den Siebzigern, als sexueller Missbrauch von Reformern als „modern“ und Aufstand gegen die rigide Sexualmoral verkauft wurde, sowieso nicht. Aber auch noch Anfang der 1990er wurde der Mantel des Schweigens über die Sache gebreitet. Da hatte EMMA das Pädosexuellen-Netzwerk der „Falschen Kinderfreunde“ längst minutiös aufgedeckt, auch ohne wissenschaftliche Studie. Dem Netz gehörte neben Kentler zum Beispiel auch der damalige Vorsitzende des Kinderschutzbundes, Walter Bärsch, an. Reaktion auf die Veröffentlichung: Schweigen. Das große Schweigen.

Es brauchte über weitere zwei Jahrzehnte, bis, ausgelöst durch den Skandal um den Missbrauch in katholischen Internaten, auch die Verstrickungen pädosexueller Täter und ihrer Untertützer im Namen der „Fortschrittlichkeit“ enthüllt wurden. Für die Opfer von Prof. Helmut Kentler war das zu spät. Der agierte bis zu seinem Tod im Jahr 2008 ungehindert weiter. Die taz bezeichnete Kentler in ihrem Nachruf als „couragierten Gutachter vor Gerichten, wenn es um Verfahren nach dem Sexualstrafrecht ging“ und „verdienstvoller Streiter für eine erlaubende Sexualmoral“.

Erlaubende Sexualmoral. Eine treffliche Formulierung. Der Mann und seine Freunde haben sich tatsächlich alles erlaubt. Auf Kosten Minderjähriger und Abhängiger.

Weitere EMMA-Texte zum Thema:
Die Leugnung der Machtverhältnisse (EMMA 3/2010)
Falsche Kinderfreunde (EMMA 5/1993)

 

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Alice Schwarzer schreibt

Wie es geschehen kann

© Katrin Jakobsen, Arbeit aus dem Projekt "Alles wird gut" gegen Kindesmissbrauch.
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Nein, der sexuelle Missbrauch von Kindern ist keine Erfindung katholischer Patres. Und er hat auch nichts mit dem Zölibat zu tun. Allein in Deutschland werden nach Schätzung des Kriminologischen Instituts Hannover Jahr für Jahr etwa eine Million Kinder missbraucht, in neun von zehn Fällen sind es Mädchen. Und drei der vier Täter sind keine bösen Fremden oder Lehrer, sondern es ist der eigene Vater, Onkel, Nachbar. Ja, und 98,5 Prozent der Täter sind laut Bundeskriminalamt Männer – die 1,5 Prozent Frauen sind in der Regel Mittäterinnen.

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Sexueller Missbrauch ist überall da möglich, wo Männer mächtig und Kinder ohnmächtig sind. In geschlossenen Welten, in denen der Vater (Pater, Lehrer) das Gesetz macht. Das gilt für Familien, die sich abschotten, ebenso wie für Internate, egal ob christlich, weltlich oder gar besonders fortschrittlich, wie wir am Beispiel der Reformschule Odenwald sehen.

Der Skandal war bis vor nicht allzu langer Zeit nicht etwa der Missbrauch, denn der war das Recht der Männer. Der Skandal war, wenn ein Kind sich wehrte. Denn schämen mussten sich auch in unserer Kultur lange die Opfer, nicht die Täter. (In fundamentalistisch-islamischen Ländern ist das bis heute so: Da gelten missbrauchte Töchter als Schande für die Familie und müssen entweder den Vergewaltiger ehelichen – oder aber sie werden umgebracht.)

Der beste Schutz ist für ein Kind in der Familie eine starke Mutter, die nicht aus Angst oder Gleichgültigkeit wegsieht, sondern sich vor ihr Kind stellt. In Schulen und Internaten ist der einzige Schutz: Transparenz und Kinderrechte. Und natürlich: menschliche PädagogInnen.

Wir wissen seit langem, dass Männer mit pädophilen Neigungen gerne in Berufe gehen, wo sie mit Kindern zu tun haben. Das liegt nahe. Diese falschen „Kinderfreunde“ müssen erkannt und entlarvt werden – und nicht verharmlost oder gar verklärt, wie es in den 1970er bis 1990er Jahren offensiv der Fall war.

Wie das überhaupt geschehen konnte, daran sei noch einmal erinnert: Kaum hatte die Frauenbewegung – und niemand anderes als sie! – das Recht der Patriarchen über Frauen und Kinder erschüttert, da traten ihre Söhne an und trieben es zum Teil noch toller als die Väter. Den alten Verhältnissen gaben sie nur neue Namen: Was heute endlich als Missbrauch benannt wird, hieß bei ihnen „Kinderliebe“ und Pädophile waren „Kinderfreunde“.

EMMA war 1978 im deutschen Sprachraum die erste Stimme, die die Existenz von Inzest und Missbrauch zum öffentlichen Thema machte. Nachdem das siebenseitige Dossier („Das Verbrechen, über das niemand spricht“) erschienen war, regte sich jedoch - nichts. Kein einziger Leserinnenbrief. Und das in Zeiten, in denen EMMA auf einen Bericht über Klitorisverstümmelung zum Beispiel Waschkörbe von empörten Briefen bekam. So tabu war das Thema Missbrauch.

In der Folge der EMMA-Berichterstattung jedoch entstanden die ersten Initiativen zur Hilfe für die Opfer (die Wildwasser-Gruppen). Und 1980 erregte das Buch der Amerikanerin Florence Rush, „Das bestgehütete Geheimnis“, dann internationales Aufsehen. Zumindest im Westen. Das Thema war angekommen.

Doch der bittere Protest der Frauen gegen Vergewaltigung von Frauen und Kindern hatte wenig Chancen gegen den flotten Zeitgeist der „sexuellen Befreiung“. Der machte Front von taz („Pädophilie ist ein Verbrechen ohne Opfer“) bis Quick („Die süßen Lolitas“). Ideologisch führend waren 68er, etliche von ihnen waren auch in der tonangebenden „Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung“ aktiv, wie der Sozialpädagoge Prof. Helmut Kentler.

Es war die Zeit, in der der bekennende Pädosexuelle Kentler unwidersprochen die „freie Liebe“ mit Kindern fordern und als Gerichtsgutachter in „wissenschaftlichen“ Studien empfehlen konnte, straffällige Jugendliche „bei pädagogisch interessierten Päderasten“ unterzubringen. So geschah es dann auch. Am helllichten Tag.

Es war die Zeit, in der Studentenführer Daniel Cohn-Bendit in „Little Big Man“ unbefangen über seine Erlebnisse als Kindergärtner in den Jahren 1972 bis 1974 plaudern konnte. Da nahm der „ständige Flirt mit allen Kindern bald erotische Züge“ an, und passierte es dem Kinderfreund „mehrmals, dass einige Kinder meinen Hosenlatz geöffnet und angefangen haben, mich zu streicheln“. Er habe dann „auf Wunsch“ auch zurückgestreichelt.

Fast drei Jahrzehnte lang hat der grüne EU-Abgeordnete zu jeder Kritik darüber geschwiegen. Jetzt behauptet der Odenwald-Schüler in der Zeit, ausgerechnet diese Passage in seinen Lebenserinnerungen sei keine Realität gewesen, sondern „Provokation“. Und ja, man habe damals „im Überschwang Fehler gemacht“ und „keine klaren Grenzen gezogen“. Das ist zurückhaltend formuliert. Und nur Provokation? Was für eine dreiste Behauptung!

Es war in der Tat die Zeit, in der die SPD/FDP-Regierung im Nachklapp zur großen Sexualstrafrechtsreform 1980 auch den § 176 ersatzlos streichen wollte – den Paragraphen, der den sexuellen Missbrauch von Kindern unter Strafe stellt. Kaum zu glauben, aber wahr: EMMA war zunächst die einzige Stimme, die sich dagegen erhob.

Wir schafften es immerhin – im Verbund u.a. mit Günter Amendt, dem einst leichtfertigen, später jedoch selbstkritischen Autor von „Sexfront“ –, die Streichung des § 176 zu verhindern. Hätte EMMA damals nicht protestiert, gäbe es heute in Deutschland noch nicht einmal mehr ein Gesetz, das den Missbrauch von Kindern verbietet.

Und wie kommt es eigentlich, dass der Skandal über den massiven sexuellen Missbrauch in den 1970er und 1980er Jahren in der ach so progressiven Odenwald-Schule erst jetzt so richtig ernstgenommen wird – obwohl doch die Frankfurter Rundschau bereits 1999 darüber berichtete? Hat das auch etwas zu tun mit der Veränderung des Zeitgeistes – und damit, dass die einstigen Propagandisten der „freien Liebe“ nicht mehr den Ton angeben?

Die besondere Infamie bei dem Ganzen war, dass Kinder früher eine rechtlose Sache waren – nach 1968 aber ins andere Extrem umgeschlagen und so getan wurde, als seien Kinder gleichberechtigt. Das Machtverhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern wurde schlicht negiert (so wie das zwischen Männern und Frauen). Und es wurde den Kindern unterstellt, sie selber wollten es doch auch so, sie hätten „sexuelle Bedürfnisse“, ganz wie die Erwachsenen.

Anything goes. Es war übrigens auch die Zeit, in der Polanski zum ersten Mal vor Gericht stand wegen Vergewaltigung einer 13-Jährigen. Und im Zuge dieser „sexuellen Revolution“ griffen sich nun nicht nur zwanghafte Pädophile die Kinder, sondern auch Gelegenheitsliebhaber. Eben alle, denen es längst zu lästig geworden war mit den selbstbewussten Frauen, und die bis heute gerne auch mal nach Thailand ausweichen.
Jedes vierte bis dritte Mädchen, jeder zehnte Junge ist heute ein Opfer des sexuellen Missbrauchs, dieser frühesten und tiefsten Brechung, die einem Menschen widerfahren kann. Und die meisten leiden lebenslang an den traumatischen Folgen. Endlich reden wir also darüber. Über die Verharmlosung und das Wegsehen. Aber das bitte nicht nur in bezug auf die Internate.

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