Philosophin: politisch inkorrekt?

Foto: Iris Krebs
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Zum ersten Mal gecancelt wurde Carola Meier-Seethaler im Jahr 1950. Damals nannte man die Verbannung einer unliebsamen Person allerdings noch nicht so. Die 23-Jährige hatte gerade an der Universität München in Philosophie promoviert. Doch ihre Habilitation scheiterte an der Universitätsleitung. „Die Universitätslaufbahn sei für Frauen nicht vorgesehen.“ Die geschasste Philosophin stürzte sich in ihr Nebenfach Psychologie, forschte zu Geschlechterverhältnissen und verfasst zahlreiche Bücher; darunter „Ursprünge und Befreiungen“, ein Standardwerk über die Entstehung des Patriarchats.

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72 Jahre später, im Februar 2022, wird die heute 95-Jährige, die seit 1958 in Bern lebt, eingeladen, an der PhilExpo22 teilzunehmen. Das Philosophie-Portal „philosophie.ch“ plane für Mai „erstmals eine landesweite Expo für Philosophie in der Schweiz“, schreibt Tanja Liebschwager vom Ausstellungs-Team. Sie selbst plane in diesem Rahmen eine „Ausstellung zu Frauen in der Philosophie. Darin wird die Unterrepräsentation von Frauen in der Philosophie diskutiert, die historischen Anfänge von Frauen an den Schweizer Universitäten aufgearbeitet und philosophisch tätige Personen porträtiert.“ Sie könne sich dort einen Text und ein Video als Beitrag von Meier-Seethaler vorstellen.

"Trans- und nichtbinäre Personen könnten sich durch den Beitrag verletzt fühlen"

Carola Meier-Seethaler sagt freudig zu. Aber aus ihrer Teilnahme wird nichts. Denn die Frau, die von 2001 bis 2006 Mitglied der Nationalen Ethikkommission für Humanmedizin war, schreibt in ihrem Beitrag für die Ausstellung am Ende den folgenden Satz: „In meiner emanzipatorischen Position trete ich für die Gleichstellung der Geschlechter auf allen Lebensgebieten ein. Sie ist noch längst nicht erreicht, solange weltweit Frauen aufgrund ihres biologischen Geschlechts diskriminiert, verfolgt und ermordet werden.“

Tanja Liebschwager bedankt sich zunächst „für den spannenden Beitrag, über den ich mich sehr freue“. Allerdings: „Gerne würden wir das Wort ‚biologisch‘ an dieser Stelle weglassen, da wir der Auffassung sind, dass die genannten Dinge Frauen nicht nur aufgrund ihres biologischen, sondern auch aufgrund ihres sozialen/sozial konstruierten Geschlechts zustoßen.“

Meier-Seethaler aber hält an der Formulierung fest, „und dies auch deshalb, weil die Misshandlung von Frauen in vielen Teilen der Welt stattfindet, in denen eine patriarchale Ideologie vorherrscht, in welcher über soziokulturelle Prägungen gar nicht reflektiert wird.“

"Die Offenheit für Argumente ist eine Voraussetzung für Philosophie."

Man habe nun doch schon genug Filmmaterial, bedauert plötzlich Liebschwager. Auch das geplante Porträt könne so nicht kommen. Stattdessen könne ihr Text anonym ausgestellt werden und ohne den inkriminierten Abschnitt. Was damit zusammenhänge „dass trans und nicht-binäre Personen an unserer Ausstellung beteiligt sind und wir niemanden verletzen möchten“. Carola Meier-Seethaler lehnt ab.

Der Text erscheint schließlich doch noch in voller Länge, zwar nicht in der Ausstellung, aber auf philosophie.ch. Als der Geschäftsführer Philipp Blum aus den Schweizer Medien von dem Fall erfährt, entschuldigt er sich bei Carola Meier-Seethaler: „Alles, was mit Cancel Culture zu tun hat, widerspricht dem Grundgedanken und den Grundsätzen unseres Portals.“

Und auf dem Portal erklärt der Philosoph: „Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass es mir gründlich misslungen ist, selbst unsere eigenen Mitarbeitenden davon zu überzeugen, dass genuin philosophische Fragen in Artikeln, Essays, Blogbeiträgen und Buchnotizen auf eben unserem Portal abgehandelt werden sollen, mit Argumenten und Gegen-Argumenten, und nicht durch Anfeindungen, Ein- und Ausladungen und dem Hinweis, durch andersartige Meinungen in irgendeiner Weise ‚verletzt‘ zu werden. Diese Offenheit für die Argumente des anderen ist eine nicht verhandelbare Voraussetzung von Philosophie."

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