Iran: Werden sie es schaffen?

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Am 12. November 2022 reiste ich nach Teheran. Die Entscheidung, diese Reise anzutreten, fiel mir schwer. Ich war besorgt um mich und um meine Liebsten, die mein Schicksal mittragen. Es ist unbeschreiblich, wie viel Angst man vor einem Land haben kann, aus dem man kommt und mit dem man auf eine unentrinnbare Weise verbunden ist.

In der Eingangshalle des Flughafens streifte mein Blick über die Köpfe der versammelten Menschen, die auf die Ankunft von Passagieren warteten. Hier und da fiel mein Blick auf das Haar unverschleierter Frauen. Da waren sie, jene ersten Anzeichen des viel zitierten Wandels. Wie wunderbar, dass der Wandel an den Haaren der Frauen sichtbar wird!

Die Fahrt zu meinem Elternhaus führt durch den Süden Teherans: auf die Wände gesprayte Parolen gegen das Regime und zerrissene Propaganda-Banner. Entlang einer Unterführung war die Aufschrift „Nieder mit der Diktatur, Tod Khamenei!“ zu lesen. Die Angst, die mich in den letzten Wochen beschlichen hatte, wich beim Betrachten dieser Bilder einem Gefühl der inneren Genugtuung.

Wenn ich nach Teheran reise, verbringe ich meine ersten Tage mit Spaziergängen in der Stadt: Ich streife durch die Viertel, in denen ich aufgewachsen bin. Auch hier ist der Wandel unübersehbar. Ein junger Verkäufer in einem Handyladen kritisierte das eingeschränkte Internetvolumen, das seit Beginn des Aufstandes staatlich angeordnet wurde. Im selben Atemzug schickte er die Mullahs zum Teufel, laut und unverhüllt. Ein Taxifahrer beschreibt seine Arbeit als verlorenes Wettrennen mit der täglich steigenden Inflation und vergleicht das Regime mit einem Krebsgeschwür, das herausoperiert werden müsste, damit es „uns“ endlich besser gehe. Ein junger Straßenhändler verkauft Kopftücher, die er als Schals für den Hals anpreist. Verschmitzt sagte er mir, dass wir erst den Hijab, dann die Mullahs zur Hölle schicken würden. „Was machst du dann?“, fragte ich ihn. „Leben, einfach leben“, antwortete er mit leuchtenden Augen. Als ich gehe, ruft er mir noch laut nach: „Zan, Zendegi, Azadi!“ Frau, Leben, Freiheit!

Immer wieder fahren Autos vorbei, die das mittlerweile berühmte Lied „Baraye“, das zu einer Ballade des Aufstands geworden ist, laut abspielen. Und immer wieder nahm ich die Präsenz von unverschleierten Frauen wahr, selbstbewusst und provokant. Es ist, als ob sich Teheran in einem hybriden Zustand befände, in dem Alltag und Revolution eine überraschende Gleichzeitigkeit eingehen. Dazu gehört das Ausrufen der Slogans des Aufstands um 21 Uhr aus den Fenstern und über die Dächer der Stadt. Der nächtliche Chor bestärkt den Zusammenhalt und die Zuversicht aller Beteiligten.

„Ich möchte mich einfach dieser plötzlichen Zuversicht hingeben, weil ich mir sie so lange herbeigewünscht habe“, meinte ein politischer Weggefährte meiner Eltern, der mich drei Tage nach meiner Ankunft besuchte. Er gehört zu jener politisch gesinnten Gemeinschaft, mit der ich aufgewachsen bin, einer der wenigen aus ihren Reihen, die noch leben. Ein pensionierter Professor und Chirurg, der sich trotz seines Alters gesellschaftlich engagiert.

„Ich würde es so gerne sehen, den Wandel, den Sturz dieses Regimes. Auch für meine Kameraden, die trotz ihres großen Engagements diesen Wunsch mit ins Grab nehmen mussten“, erklärte der politische Weggefährte meiner Eltern. Voller Begeisterung sprach er von dem Aufstand der jungen Frauen. „Wie Phönix sind sie der Asche entstiegen. Sie haben jahrelang den allumfassenden und ununterbrochenen Erniedrigungen des Regimes getrotzt, sich selbst ermächtigt. Sie haben es nun einfach satt, weiter bevormundet zu werden“, fügt er hinzu. „Sie werden uns befreien, uns Männer, die wir sie nicht genügend wertgeschätzt und nicht zu ihnen gehalten haben.“

Dann sprach er von meiner Mutter: „Parvaneh war ein seltenes Juwel in unserer Partei, in unserer Generation. Wir – ihre Weggefährten – räumten ihr nicht den angemessenen Stellenwert ein. Wir waren nicht so weit wie sie. Sie wäre unendlich glücklich, würde sie noch leben.“

Immer mehr Mullahs beschweren sich, dass sie sich an öffentlichen Orten im Iran nicht mehr sicher fühlen. Ihnen werden die Turbane vom Kopf geschlagen. Die hoffnungsfrohe Euphorie, die mit diesem Aufstand einhergeht und in unterschiedlichen Gesprächen mitschwingt, hat aber auch eine tragische Kehrseite. Angesichts der perfiden Gewalt, die das Regime einsetzt, um den Aufstand zu zerschlagen, erlebt man eine unbändige Wut, Entsetzen, ja Hass.

Die „Sicherheitskommandos“ sind zu kriminellen Schlägertrupps mutiert. Sie erschießen und erschlagen wehrlose Menschen, sogar Kinder, randalieren in Straßen und Gassen, wo die Rufe nach Freiheit laut werden, zerstören Autos, Motorräder, Häuserfassaden und zerschlagen Fensterscheiben. Es kursieren Berichte über Misshandlungen und Vergewaltigungen als angeordnete Strafmaßnahmen und darüber, dass Medikamente verabreicht würden, die psychische Zusammenbrüche bewirken.

Wenn ich in Teheran bin, öffne ich jeden Donnerstagnachmittag die Tür meines Elternhauses für Besucher. Über die Jahre bildete sich mit diesem Ritual eine Gemeinschaft heraus, die das Haus zu diesem Anlass mit Leben erfüllt. Es sind Regimekritiker, FrauenrechtlerInnen, Angehörige der Hingerichteten aus vergangenen Jahrzehnten, Ex-Häftlinge, JournalistInnen und Kulturschaffende, die unter ständiger Beobachtung der Kontrollorgane stehen. Sie kamen immer zahlreich. Neben der anhaltenden Begeisterung für den Aufstand und die Generation X als dessen treibende Kraft wurden auch Differenzen und Bedenken diskutiert.

Wie steht man zu den jungen Aufständischen in der Straßenschlacht, die zurückschlagen? Wie steht man zu diversen obszönen Schimpfworten, die als politische Parolen zunehmend populär werden? Oder zu der Aktion, den Mullahs die Turbane vom Kopf zu schlagen? Werden solche radikalen Tendenzen den Aufstand in eine Spirale der Gewalt führen? Wie beurteilt man die Rolle der Exil-Sendungen und Exil-Oppositionellen, die die Darstellung des Aufstandes in der Weltöffentlichkeit mitbestimmen? Besteht die Gefahr, dass sie den Prozess, der im Lande im Gange ist, in die Irre führen, um das Geschehen für ihre eigenen machtpolitischen Ziele zu missbrauchen?

Die Meinungen hierzu gingen stark auseinander. Doch herrschte zugleich ein deutlich spürbarer Zusammenhalt: ein starkes Wir-Gefühl, eine Einheit gegen das Regime.

In der Stadt fahre ich an mehreren Bannern vorbei, auf denen der 9-jährige Kian, der jüngst während einer Protestaktion in der Stadt Ize getötet wurde, abgebildet ist. Das Auto, in dem Kian und seine Familie saßen, war unter Beschuss geraten. Sein Vater wurde schwer verletzt, seine Mutter nannte in den sozialen Netzwerken ein uniformiertes Sicherheitskommando als Täter. Das Regime aber behauptete, dieser Anschlag sei von Terroristen der IS durchgeführt worden.

Am Todestag meiner Eltern bereitete ich das Haus für den Empfang zum Gedenken an den Tag der Ermordung meiner Eltern vor 24 Jahren vor. Zivil gekleidete Handlanger des Regimes hatten sich seit dem frühen Vormittag entlang unserer Gasse aufgestellt. Meine Sorge war groß: die Furcht vor einer Eskalation, vor einer Attacke der Schlägertrupps, die Angst um meine Gäste, die geschlagen werden könnten, und um das Haus, das zum Schauplatz von wütendem Randalieren werden könnte. Auch die Angst um meine betagten Tanten, die Tapferkeit ausstrahlten.

Die hochgewachsene Magnolie, die meine Mutter vor Jahrzehnten in unserem Garten gepflanzt hatte, ist im Laufe der letzten Jahre langsam eingegangen, Sie wurde mit kleinen Zetteln behängt, worauf geschrieben stand: „Zan Zendegi Azadi“ (Frau Leben Freiheit). Die Bilder des Baumes verbreiteten sich in den sozialen Netzwerken. Ein Post lautete: „Der Baum, welchen Parvaneh vor Jahrzehnten eingepflanzt hat, trägt nun 24 Jahre nach ihrer Ermordung die schönsten Früchte unseres Landes.“

Schon vor dem angekündigten Beginn der Versammlung standen die TeilnehmerInnen dicht nebeneinander im Haus und im Hof. Es herrschte eine Atmosphäre der Entschlossenheit und Achtsamkeit, gepaart mit der Freude am Beisammensein. Es kam mir vor, als ob die Menschen und das Haus zu einem großen Körper zusammengewachsen seien, der Würde ausstrahlte. Das Publikum war jung, vielleicht das jüngste, welches das Haus bis zu diesem Zeitpunkt empfangen hatte. Während der Veranstaltung gingen die Vermummten unsere Gasse auf und ab, filmten und fotografierten alle, die sich dem Haus näherten, mit überdimensionierten Kameras, mahnten sie vor Folgen, stifteten Unruhe und Angst. Ich verließ den Iran nach ein paar Tagen. Meine Ausreise wurde nicht verhindert. Als ich schon zuhause in Deutschland war, wurden drei meiner Freunde, die bei der Veranstaltung zugegen gewesen waren, verhaftet, allesamt junge Poeten und Mitglieder des Schriftstellerverbands. In den Berichten heißt es, die Verhaftungen seien gewaltvoll verlaufen.

Ich möchte ihre Namen nennen: Alireza Adineh, Ayda Amidi, Ruzbeh Sohani – stellvertretend für über 18.000 Menschen, die jetzt im Zuge der aktuellen Repressionswelle im Iran im Gefängnis sitzen. Stellvertretend für viele, für die das eigene Land zur Falle geworden ist, die vielleicht fliehen werden, um ihr Leben zu retten.

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